Neue mystische Poesie von Christian LehnertWas vor der Sprache ist

Christian Lehnerts erster Gedichtband „Der gefesselte Sänger“ (1997) beginnt mit den programmatischen Zeilen: „überhaupt, das gesicherte / vokabular besagt nichts“. „Das ist vielleicht die Grunderfahrung meines Schreibens als Lyriker“, erläutert Lehnert 10 Jahre später. „Dann, wenn mir die Worte fehlen, wenn meine gewohnte Sprache versagt, wenn ich anfange zu stottern und zu stammeln, dann entstehen Gedichte. Es sind Suchbewegungen.“ Genau dies verbindet das Gedicht mit religiöser Sprache. Gegenüber Claudia Keller verdeutlicht Lehnert: „Wer im Angesicht Gottes nicht nach Worten ringt, hat nichts begriffen oder ist ein Scharlatan. Religiöses Sprechen ist eine Suche nach Worten“ (HK, Juni 2017, 19–23).

Nach Essaybänden über Paulus („Korinthische Brocken“) bzw. Gottesdienst, Liturgie und Gebet („Der Gott in einer Nuss“) ist 2018 sein siebter Gedichtband „Cherubinischer Staub“ erschienen. Schon im Titel verweist er auf den Poeten christlicher Mystik, Angelus Silesius, kaum zufällig enthält er ein „Gebet“: „Nimm mir Gewißheit! Wahr – das ist die engste Zelle, / in der ich mich verlier, gedacht an meiner Stelle.“ Auffallend die zweizeiligen Verknappungen, sichtlich inspiriert von den paarweise gereimten Sinnsprüchen des „Cherubinischen Wandersmann“ von Angelus Silesius. Auch Biblisches wird aufgerufen. Inspirierende Ausdeutungen erfahren zum Beispiel die Weisen aus dem Morgenland ‒ Kaspar hält inne auf dem Weg nach Bethlehem: „Er war es selbst, der sein Ziel / setzte, hat’s lachend verloren: / Wo immer es dem Gott gefiel, / ward Gott in der Welt geboren.“ Auch Herodes kommt vor, oder auch Jakobs Himmelsleitertraum:

„Die Öffnung, Nadelstich, noch immer brennt es weiter. / Ich weiß nicht, was es ist: Zu steil ist diese Leiter.“

Programmatisch ist dem Band ein Zitatmotto aus Jacob Böhmes „Aurora oder Morgenröte im Aufgang“ vorangestellt: „Wo du nur hinsiehest, da ist Gott.“ Böhme prägte schon die Naturmystik des Angelus Silesius – wie sie sammelt Lehnerts „Feier der Schöpfung“ in den alltäglichen Dingen „ein wenig des göttlichen Abglanzes“ (Jörg Magenau) ein.

Als er „den Worten gar nicht mehr traute“, ja, „den Glauben an die Sprache verloren hatte“, so berichtete es Lehnert in seiner Poetikvorlesung Literatur und Religion in Wien 2016, da half ihm „die pure Benennung“. So wartet der neue Gedichtband mit einem „Wörterbuch der natürlichen Erscheinungen“ auf. Drei Dimensionen strukturieren diese knappen Zweizeiler: Beobachtungen aus der Natur mit konkreter Orts- und Zeitbestimmung werden in einem Bild mit einer deutenden Übertragung verdichtet. So heißt es unter der Überschrift „Oktober 2015, Breitenau, Osterzgebirge“: „Ein Rauhreif, abends haucht das Kind auf schwarzes Glas. / So wird der Schwan genannt: die Stille ohne Maß.“ Oder „Ostern 2016, Hennersbach, Osterzgebirge“: „Die Stare sammeln sich im dürren Laub der Schlehen. / So heißt der Pfad am Berg: Aus Staub wirst du erstehen.“

Sogar „Baumgespräche“ finden sich im jüngsten Lyrikband: „Keimen ‒ das ist Erkennen, wo einer ist und verbleibt“, wird den Fichten abgelauscht. „Licht, das ist etwas in allem, die sanfte stofflose Freude.“ Dem Görlitzer Mystiker verdanke er eine Präferenz für das Akustisch-Pneumatische, erklärt Christian Lehnert im Gespräch mit Jan-Heiner Tück: „Betrachtet man die Dinge und Lebewesen nicht allein als stoffliche Erscheinungen, als Objekte der Anschauung, sondern als Stimmen, die etwas zu sagen haben, als Wesenheiten, zu denen ich in Beziehung trete“, dann erweise sich „die Sprache und die Namen, die wir verwenden, als brüchig, weil sie auf das Unaussprechliche, auf eine Fülle von Sinn trifft, die sie nicht sagen kann. Dann werden Atem und Klang wichtig ‒ und jene geistigen Bezirke (Atem, ruah, pneuma), die vor der Sprache liegen“. Sie begegnen immer wieder in Lehnerts mystischem Gottumkreisen.

So wie in „Puls“: „Der GOtt wird nicht gedacht, im Atem wird ER wahr. / So hebt im Dunkel an, des Nachts, das neue Jahr.“ Oder in: „Immerwährendes Vorher“: „Vor allem Anfang, Hauch, so wirkt der GOtt die Stille, / das Ungeschehene, den willenlosen Willen.“ In

„Atemgeräusch“: „Denn alle wissen GOtt, die ihren Atem wissen, / die Kühle und den Sog, die Fülle, das Vermissen.“ Oder in „Es gibt IHn nicht“: „Es gibt nicht ,GOtt‘, es spricht ein unentwegtes Geben, / in dem ER selber wird, in Dasein und Entschweben.“

Grundkräfte seines Schreibens, lautet Lehnerts Resümee, seien „meist das Staunen und die Bejahung. Darum habe ich lange gerungen – um das schlichte Vertrauen in die Worte.“ Christoph Gellner

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