Das Bistum Münster hat sein Vorgehen im Umgang mit der geistlichen Gemeinschaft Totus Tuus verteidigt. Ehemalige Mitglieder hatten in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift berichtet, bei Totus Tuus „geistlichen Missbrauch“ erlebt zu haben (HK, Juni 2019, 13–17). Die Gemeinschaft ist im Bistum Münster als „privater Verein von Gläubigen“ kirchlich anerkannt und bundesweit aktiv.
„Das Erschrecken war auch auf unserer Seite groß, als wir das erste Mal von den Beschwerden gehört haben. Wir fragten uns schon: Haben wir es da mit einer Sekte zu tun?“ Das sagt Domvikar Jochen Reidegeld im Gespräch mit der „Herder Korrespondenz“. Reidegeld wurde 2017 vom Münsteraner Bischof Felix Genn gemeinsam mit Schwester Birgitte Herrmann mit der Visitation der Gemeinschaft beauftragt.
Im Zuge des Visitationsprozesses habe sich bei ihnen indes ein „differenziertes Bild“ ergeben, sagt Reidegeld. Sicher habe es enorme Schwierigkeiten gegeben; von einer Sekte könne man aber nicht sprechen. Ausführlich hätten Schwester Birgitte und er mit den Betroffenen geredet, ausführlich auch mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft. Die Mitglieder der Leitung von Totus Tuus seien unter Eid vernommen worden. Dabei habe man Selbstkritisches zu hören bekommen, aber auch die Feststellung, dass bestimmte Vorfälle sich so, wie sie von den „Beschwerdeführern“ vorgetragen würden, nicht zugetragen hätten. „Daraus ergibt sich ein anderes Gesamtbild; und das hat für die Frage der weiteren Zukunft der Gemeinschaft erhebliche Bedeutung“, betont Schwester Birgitte.
„Es gibt sehr unterschiedliche Wahrnehmungen“, sagt Jochen Reidegeld. In einer ersten Phase der Visitation habe man darum versucht, die Rückmeldungen von beiden Seiten „unter einen Hut“ zu bringen. Das Resultat sei den Betroffenen sowie der gesamten Gemeinschaft im August des vergangenen Jahres detailliert vorgestellt worden. „Die festgestellten Probleme der Gemeinschaft sind nicht untypisch für eine neu entstandene charismatische Gemeinschaft“, sagt Jochen Reidegeld. „Das aus der Begeisterung des Aufbruchs entstandene Ausmaß des Einsatzes wird leicht zum nicht hinterfragten Standard. Dies kann zu einer Überforderung von Menschen führen, wie dies auch einige der Beschwerdeführer für sich wahrgenommen haben. Das ist ernst zu nehmen und stellt ein gravierendes Problem für eine aufsichtsführende Diözese dar. Ein solch überhöhter Einsatz trägt die Gefahr einer sozialen Engführung in sich, die manche Mitglieder im Nachhinein sehen; andere Mitglieder beschreiben aber das genaue Gegenteil. Aber weil Menschen es so erlebt oder wahrgenommen haben, steht es im Zuge der Visitation auf der Tagesordnung der zu bearbeitenden Fragen.“
Schwester Birgitte ergänzt: „Für von Einzelpersonen gegründete Gemeinschaften ist auch eine gewisse Überhöhung des Gründers nicht untypisch. Die Beschwerdeführer haben dies beschrieben und dies hat bei vielen Mitgliedern des Leitungsteams ein Problembewusstsein geschaffen. Aber auch in diesem Punkt sind die Rückmeldungen der Mitglieder sehr unterschiedlich.“ Totus Tuus wurde von Leon Dolenec gegründet, der die Gruppe bis heute leitet.
Die Probleme der Gemeinschaft wollen Jochen Reidegeld und Birgitte Herrmann unter anderem mithilfe von Arbeitskreisen angehen, in denen die Mitglieder – unter Ausschluss der Leitung – über alle Fragen offen diskutieren könnten. Innerhalb der Gemeinschaft seien durchaus Kooperationsbereitschaft, Selbstkritik und ein Wille zur Veränderung erkennbar, so die Visitatoren. Reidegeld betont allerdings auch: „Der Prozess ist ergebnisoffen. Sollten sich diejenigen durchsetzen, die so weitermachen wollen wie bisher, dann hat Totus Tuus als kirchliche Gemeinschaft keine Zukunft.“
Den Ex-Mitgliedern ist das zu wenig. Die meisten Personen mit einem Interesse an Veränderungen hätten die Gemeinschaft doch längst verlassen, äußert ein ehemaliges Mitglied gegenüber der Redaktion. In der letzten Ausgabe der „Herder Korrespondenz“ hatten mehrere Betroffene ihre Unzufriedenheit mit dem Prozess zum Ausdruck gebracht und den Visitator Joachim Reidegeld als „befangen“ bezeichnet.
Die Visitatoren hat dieser Vorwurf sehr irritiert. Beide wollen durch die Veröffentlichung zum ersten Mal davon gehört haben. „Das ist noch nie Thema gewesen“, sagt Schwester Birgitte. Ehemalige Mitglieder halten indes auf Nachfrage an der Darstellung fest, Reidegeld bereits in den ersten Gesprächen mit der Frage konfrontiert zu haben, ob er in Sachen Totus Tuus neutral sei. Die Betroffenen hatten auf das Engament von Totus Tuus in einer Einrichtung der Jugendhilfe verwiesen, in der Reidegeld als Seelsorger tätig sei. Nun betonen sie gegenüber der Redaktion, dass Reidegeld außerdem seit Jahren mit einem Mitglied der Leitung von Totus Tuus im „Forum der geistlichen Gemeinschaften im Bistum Münster“ zusammenarbeite. Auch sei Reidegeld es gewesen, der Totus Tuus überhaupt in die betreffende Einrichtung eingeladen habe.
Der Visitator, der in der Bistumsverwaltung die Abteilung „Orden, Säkularinstitute, Geistliche Gemeinschaften“ leitet, streitet das nicht ab, will darin aber keinen Grund für eine Befangenheit erkennen. Außerdem sei auf seinen Wunsch mit Schwester Birgitte Herrmann eine gleichberechtigte Visitatorin bestellt worden, die keine Berührungspunkte mit der Gemeinschaft habe. Er habe von sich aus in den Gesprächen mit den Beschwerdeführern und der Leitung deutlich gemacht, dass Schwester Birgitte bewusst zur Visitatorin berufen worden sei, weil sie die Qualifikation als Supervisorin mitbringe und zugleich einen „ergänzenden Blick“ auf die Gemeinschaft habe, bisher in keinem Kontakt zu ihr stand und in einem anderen Bistum arbeite. Zudem zeige „das differenzierte Ergebnis des ersten Teils der Visitation deutlich die Unabhängigkeit der Untersuchung“.
Der Visitator betont zudem, dass er niemals „geistlicher Beirat“ der Gemeinschaft war, wie es in der „Herder Korrespondenz“ geheißen hatte. „Auch so wird der Eindruck einer Befangenheit erweckt, die es nicht gibt“, sagt Reidegeld. Tatsache ist, dass der damalige geistliche Beirat, Weihbischof Christoph Hegge in einer E-Mail vom 28. Mai 2017 geschrieben hatte: „Deshalb habe ich in Absprache mit dem Bischof von Münster vorgeschlagen, dass der stellvertretende Generalvikar und bischöfliche Beauftragte für Orden und geistliche Gemeinschaften im Bistum Münster, Domvikar Dr. Jochen Reidegeld, die Aufgabe des ‚Geistlichen Beirats‘ bei ‚Totus Tuus‘ übernehmen wird. Er ist damit einverstanden und wird diese Aufgabe übernehmen, wenn ihn das Leitungsteam Ende Juni zum ‚Geistlichen Beirat‘ wählen wird.“ Zu dieser Wahl sei es jedoch nie gekommen, sagt Reidegeld. Stattdessen habe ihn der Bischof zum Visitator bestellt.
Die Frage, ob es bei Totus Tuus „geistliche Missbrauch“ gegeben habe, wie die Betroffenen sagen, können die Visitatoren zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. Allerdings sei klar, so Jochen Reidegeld, „dass die Strukturen, die es in der Vergangenheit bei Totus Tutus gab, die Gefahr des geistlichen Missbrauchs in sich tragen“. Inzwischen hätten sich aber bereits viele Mitglieder der Gemeinschaft auf einen „Weg der Veränderung“ gemacht und würden den von den Visitatoren benannten Prozess einer „strukturellen Neuaufstellung konstruktiv mitgehen“. „Wir haben durchaus die Hoffnung, dass Totus Tuus sich positiv verändern kann“, sagt Schwester Birgitte. Zugleich könne man aber sehr gut nachvollziehen, dass es bei „Beschwerdeführern“ Misstrauen gebe, ob die gezeigte Veränderungsbereitschaft wirklich den Tatsachen entspreche.
Klosterkauf „unklug“
Das Vorhaben der Gemeinschaft, während des laufenden Prozesses ein Kloster zu erwerben, bezeichnen die Visitatoren als „unklug“. Allerdings stünden die „privaten Vereinigungen von Gläubigen“ kirchenrechtlich gesehen nicht unter „kirchlicher Leitung“, sondern nur unter „kirchlicher Aufsicht“. Man könne darum den Kauf nicht einfach verbieten. Dies kann allerdings der Erzbischof von Köln, Kardinal Rainer Maria Woelki. Er muss dem Verkauf des Klosters durch die Dominikanerinnen in Düsseldorf-Angermund zustimmen. Auf eine entsprechende Anfrage der „Herder Korrespondenz“ antwortet Christoph Heckeley, Pressesprecher des Erzbistums, knapp: „Wir prüfen derzeit die Vorgänge und können erst nach Abschluss dieser Prüfung Stellung nehmen.“
Hatten die Betroffenen das Recht, öffentlich über ihre Erfahrungen zu berichten? „Natürlich haben sie dieses Recht“, sagt Reidegeld. Angesichts der massiven öffentlichen Kritik der Betroffenen zeigen sich die Visitatoren selbstkritisch. „Wir hätten sicher mit den Beschwerdeführern intensiver im Gespräch bleiben müssen“, sagt Schwester Birgitte Herrmann. Einige der ehemaligen Mitglieder vermissten auch konkrete Hilfsangebote des Bistums, um ihre zum Teil traumatischen Erfahrungen aufarbeiten zu können. Dem wolle man nun nachkommen. Inzwischen habe man den ehemaligen Mitgliedern ein weiteres Gesprächsangebot gemacht.
Gegenüber der „Herder Korrespondenz“ fragt nun ein ehemaliges Mitglied: „Welches Gewicht hat in dem Prozess das erhebliche Leid der Opfer? Einige Ex-Mitglieder sind erschüttert, dass ihre heftige Lebensgeschichte angehört wurde und nun keinerlei Konsequenzen für die Verursacher von großem Leid folgen. Beim sexuellen Missbrauch wäre das undenkbar!“
In einer Stellungnahme vom 2. Juni 2019 hat auch Totus Tuus auf die Berichterstattung reagiert. Darin werden einerseits die „erhobenen Vorwürfe entschieden“ zurückgewiesen, andererseits wird Leon Dolenec darin mit den Worten zitiert: „Wir, im Leitungsteam der Gemeinschaft, sind uns bewusst, dass in der Vergangenheit kommunikative und zwischenmenschliche Fehler sowie eine Überforderung einzelner Mitglieder vorgefallen sind; das bedauern wir aufrichtig.“
Eine betroffene Person äußert dazu gegenüber der „Herder Korrespondenz“, dies sei das erste Eingeständnis von Fehlern und Wort des Bedauerns, das sie von den Verantwortlichen der Gemeinschaft höre. Allerdings kritisiert sie angesichts der hohen Zahl von Betroffenen, dass lediglich von „einzelnen Mitgliedern“ die Rede sei.
Noch im Juni 2018 soll Leon Dolenec die Visitation als Prüfung und Angriff bezeichnet haben, der durchlitten werden müsse. Ein der Gemeinschaft nahestehender Priester zeigt sich in einer Zuschrift an die Redaktion überzeugt, die Visitation habe „keinen Verdacht auf die erhobenen Vorwürfe und auf geistlichen Missbrauch“ gefunden. Ein Mitglied der Gemeinschaft mutmaßt über einen „Scheidungskomplex“ der Aussteiger, die nun die Gemeinschaft „als Ursache allen eigenen Übels völlig irrational“ bekämpften. Ein anderes Mitglied teilt am Telefon mit, die Vorwürfe der Betroffenen seien „nichts als Lügen“. Eine weitere Zuschrift spricht von Diffamierungen und Verleumdungen gegen Totus Tuus.