Ein protestantischer Blick auf die katholische TraditionVotum Ecclesiae

Als Außenstehender lässt sich ein Schatz der katholischen Kirche entdecken, der für manche Katholiken seinen Wert längst verloren hat. Es ist die Heiligkeit der selbstlosen Liebe, die in der katholischen Kirche für immer gegenwärtig ist.

Eine Monstranz auf einem Altar zeigt das Allerheiligste.
© KNA

Das Verlangen nach der Kirche (votum ecclesiae) ist ein tröstliches Lehrstück der katholischen Tradition: Die Menschen, die das Ende ihres Lebens vor Augen haben, dabei aber nicht getauft sind, dürfen sich dessen trösten, dass sie von Gott zu den Seinen gerechnet werden, wenn sie ernsthaft wünschen, Glied der Kirche zu sein. Sie sind dann durch ihren Wunsch Kirchenglieder – dieser Fall trat in der frühen Christenheit etwa dann auf, wenn Katechumenen, also Menschen, die sich auf die Taufe vorbereiteten, vor ihrer Taufe das Martyrium erlitten: Christen ex voto.

Ich bin mit Bewusstsein und aus Überzeugung kein katholischer Christ im konfessionellen Sinne. Mein votum ecclesiae ist anders zu verstehen: als Plädoyer eines Außenstehenden für den Wert dessen, was die katholische Kirche lebt und lehrt, und was in den notwendigen Debatten über die sexuellen Vergehen von Geistlichen und über finanzielle Unregelmässigkeiten aus dem Blick zu geraten droht. Ich habe hinlänglich bewiesen, dass ich von ökumenischen Formelkompromissen nichts und von wechselseitiger kontroverstheologischer Klarheit alles halte – aber nun spreche ich zu katholischen Schwestern und Brüdern und nehme die Perspektive der katholischen Kirche ein, auch wenn ich sie nicht in allen Punkten teile. Denn jetzt ist ein ermutigender Ruf zur Kirche notwendig für die katholischen Schwestern und Brüder, die angesichts der Missbrauchsfälle ratlos und enttäuscht vor ihrer Kirche stehen und dabei sind, ihr den Rücken zu kehren. Nichts von dem, was ich sage, ist neu, alles ist von katholischen Theologen bereits gesagt worden – aber vielleicht ist jetzt eine Zeit, wo auch einmal ein Außenstehender das Selbstverständnis und das Wesen der römisch-katholischen Kirche, werbend und aufmunternd, zur Sprache bringen und in Erinnerung rufen muss: Die Kirche ist etwas Großartiges und faszinierend Anziehendes!

Dabei ist vollkommen klar und wird auch von den Amtsträgern der Kirche nicht bestritten: Es hat solche Missbrauchsfälle in erschreckendem Ausmaß gegeben, und es hat schweres Fehlverhalten derer gegeben, die die Aufsichtspflicht hatten und hätten einschreiten müssen. Es sind Menschen schuldig geworden, und es sind Menschen, häufig Kinder und Jugendliche, körperlich und seelisch zutiefst und für ihr ganzes Leben verletzt worden. All das steht nicht in Frage und wird hier nicht bestritten oder relativiert, sondern vorausgesetzt. Und vorausgesetzt ist auch, dass es solche Missbrauchsfälle auch in den evangelischen Kirchen gibt.

Bischöfe im Höllenfeuer

Ich beginne daher mit dem Weltgerichtstympanon im Fürstenportal des Bamberger Dom, ein Hochrelief, entstanden zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Klassische Bildsprache: in der Mitte der richtende Christus, zu seiner rechten Seite die strahlenden Erlösten, die die Werkzeuge der Marter Christi mittragen, auf seiner linken Seite die Verdammten, eine von einer Kette umschlossene Gruppe Verzweifelter, die von einem triumphierend strahlenden Teufel weggezogen werden aus der Gegenwart Christi. Und wer genau hinsieht, entdeckt unter den Verdammten: nicht nur einen Fürsten, sondern prominent hervorgehoben einen Bischof. Und man blickt dann hinüber auf die Seite der Erlösten und stellt überrascht fest, dass auf dieser Seite zwar auch ein Fürst, aber kein kirchlicher Würdenträger zu sehen ist. Ausgeglichener ist die Gerichtsdarstellung des Berner Münsters: viele Fürsten, Bischöfe, Kardinäle unter den Erlösten zur Rechten, aber auch auf der linken Seite, unter den Verlorenen, mitten im Höllenfeuer: nicht nur ein Fürst, sondern auch ein Bischof. Dasselbe Motiv – Geistlichkeit, auch hohe, in der Hölle – findet sich im Weltgerichtsportal der Frauenkirche in Esslingen: hier wird neben einem Mönch und einem Kardinal sogar ein Papst in den Höllenrachen geführt. Weitere Beispiele: das Tympanon am südlichen Chorportal des Heilig-Kreuz-Münsters in Schwäbisch-Gmünd oder das Tympanon über dem Westtor der Marienkapelle in Würzburg; das ließe sich vermehren. Und diese Gerichtsdarstellungen sind nicht etwa verschämt in Winkeln oder in Ausgängen zu Seitengassen untergebracht oder nach innen gewendet, so dass sie wenigstens nach außen nicht sichtbar sind. Vielmehr finden sie sich über den Haupteingängen der Kirchengebäude, oft zu öffentlichen Plätzen hin ausgerichtet. Jeder konnte und jeder sollte es sehen: Auch Geistliche sind unter den Sündern. Jeder Gläubige wurde beim Eintreten in die Kirche daran erinnert, dass alle Menschen unter der Drohung des Gerichts stehen, und daran, dass auch Angehörige des geistlichen Standes, die ihm im Gottesdienst und in der Beichte Gott repräsentieren, Sünder sind. Die Auftraggeber der hochmittelalterlichen Künstler, die selbst Geistliche waren, leisteten sich diese Selbstkritik.

Die „eine, heilige, katholische und apostolische“ Kirche hat nie den Anspruch der Heiligkeit für alle ihre Glieder oder auch nur für die Angehörigen des geistlichen Standes erhoben. Ihre Theologen haben sogar die Frage des Umgangs mit einem häretischen Papst nicht nur erwogen, sondern es wurden Päpste postum exkommuniziert, so Honorius I. (625–638); und Johannes XXII. (1316–1334) wurde als Vertreter einer eschatologischen Häresie verurteilt. Dass nicht nur die durchschnittlichen Gläubigen, sondern dass die Geistlichen sich moralisch und im Glauben nicht nur verfehlen konnten, sondern das immer wieder taten, wird schon daraus deutlich, dass auch sie in aller Selbstverständlichkeit der seit 1215 geltenden Beichtpflicht unterlagen. Und die Kritik an den moralischen Verfehlungen der römischen Kurie ist kein Alleinstellungsmerkmal der Reformation, sondern die Reformation nimmt eine lang verbreitete Selbstkritik der Kirche auf. Die Kirche ist, wie es im Epheserbrief heißt, „ohne Runzel und Makel“: heilig – der Überzeugung sind wir Protestanten übrigens auch. Und die Kirche ist nach römisch-katholischem Verständnis unfehlbar im Glauben und der Papst in der öffentlichen Wahrnehmung seines Amtes unfehlbar in Entscheidungen, die den Glauben und die Sitte betreffen. Dennoch kann, wie gesagt, ein Papst in seinen individuellen Glaubensüberzeugungen irren. Und Päpste, Kardinäle, Bischöfe können sich ebenso verfehlen wie einfache Glaubende. Denn die Kirche ist keine Institution von Heiligen, sondern sie ist heilig, weil in ihr das Heilige gegenwärtig ist, und weil in ihr Menschen vom Heiligen ergriffen werden. Darum geht es mir: Im Zentrum der katholischen Kirche steht ein Anliegen, an das ich die katholischen Schwestern und Brüder, die von ihrer Kirche enttäuscht sind, erinnern will: die Erfahrung der Strahlkraft und der Macht der Heiligkeit.

Zeugen der Liebe Gottes

„Die Kirche“ ist nicht das Gebäude, aber bleiben wir trotzdem erst einmal beim Kirchengebäude: Nach katholischem Verständnis ist es ein Ort der Heiligkeit. Man betritt es ehrfürchtig und mit einem symbolischen Reinigungsritus, der an die Taufe erinnert: das Bekreuzigen mit der rechten Hand, deren Fingerspitzen man zuvor in Weihwasser getaucht hat. Heilig ist dieser Ort durch die Realpräsenz des Heiligen – beginnend mit den im Tabernakel aufbewahrten oder zu bestimmten Zeiten auf dem Altar zur Anbetung ausgesetzten Hostien über die in jedem Altar eingelassenen Reliquien von Heiligen bis hin zu den Bildern von Heiligen, die nicht einfach Darstellungen sind, sondern Orte der Gegenwart und Ansprechbarkeit des Dargestellten.

Was heißt eigentlich: Heiligkeit? Beginnen wir mit den Heiligen, deren Bilder und Statuen in den Kirchen hängen oder stehen: Die dargestellten Personen sind sehr häufig Märtyrer, Menschen, die um des Glaubens willen gestorben sind. Märtyrer sind aber nicht einfach Personen, denen die Bindung an Gott wichtiger ist als ihr Leben. Märtyrer kommt von griechisch mártys: der Zeuge. Märtyrer sind durch ihren Tod Zeugen für das Sterben Christi, Christuszeugen. Das Sterben Christi wiederum ist nicht einfach ein Tod, sondern nach Schrift und Tradition der Kirche hat dieser Tod ein Motiv: die Liebe Gottes zum verlorenen Menschen: „sic affectus, sic despectus, / propter me sic interfectus, / peccatori tam indigno / cum amoris intersigno / appare clara facie“ – das ist ein Vers aus einem Hymnus des Arnulf von Löwen, den der lutherische Theologe Paul Gerhardt in seinem Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“, das auch im Gotteslob steht, so übersetzt: „Nun, was du, Herr, erduldet, / ist alles meine Last; / ich hab es selbst verschuldet, / was du getragen hast. / Schau her, hier steh ich Armer, / der Zorn verdienet hat. / Gib mir, o mein Erbarmer, / den Anblick deiner Gnad.“ Dieser Tod geschieht „meinetwegen“, ist Stellvertretung: Der Heilige leidet für die Verlorenen, so das Zeugnis der Kirche. Liebe ist das Motiv des Todes; Johann Sebastian Bach fasst es in der schönsten Arie der Matthäuspassion zusammen: „Aus Liebe will mein Heiland sterben.“ Genau das ist die Heiligkeit: die selbstlose Menschenliebe, die Gottes Wesen ist. Die Heiligen sind mit ihrem Lebensvollzug Zeugen dieser Menschenliebe; die Bilder der Heiligen und die Reliquien in den Altären sind vielfältige Manifestationen dieser Heiligkeit der Menschenliebe, die in der Hostie im Tabernakel gegenwärtig ist. Das Kirchengebäude ist der Ort der Gegenwart des Heiligen.

Wenn man sich das vor Augen führt, dann versteht man auch, dass diese Heiligkeit der selbstlosen Liebe in der Kirche ebenso gegenwärtig ist, wie sie sich entzieht und von dem Kirchengebäude (bei dem wir noch immer sind) unterscheidet: Der Kirchenraum, den der Gläubige mit dem Kreuzeszeichen am Eingang als heilig anerkennt, ist nicht selbst heilig, sondern in ihm ist das Heilige, die selbstlose Liebe zum Menschen, gegenwärtig: zunächst die Heiligkeit der Bilder und der Reliquien. Aber auch diese Bilder und die Reliquien sind, wie gesagt, nur Relikte der Heiligen, Zeugnisse ihres Lebens; und ihr Leben war selbst wieder heilig nur als Zeugnis der selbstlosen Menschenliebe, des Lebens und Sterbens Jesu, der in der Hostie gegenwärtig ist. Erst hier, mit der Hostie, ist der Punkt erreicht, in der das Heilige, die selbstlose Menschenliebe, vom Medium seiner Gegenwart ununterscheidbar und selbst gegenwärtig ist: unfassbar und ungreifbar, aber doch gegenwärtig.

Die Kirchengebäude sind Orte der Heiligkeit. Alle Manifestationen der Heiligkeit legen Zeugnis davon ab, dass die Selbstlosigkeit der Liebe über den Tod triumphiert: Die Heiligen sind verstorben, aber gegenwärtig. Sie verweisen auf Christi Leib und Blut: den Gekreuzigten, der hier und jetzt präsent ist in der Hostie: Er lebt.

Das steht im Zentrum der Kirche: die Heiligkeit, die Selbstlosigkeit der Liebe. Die Erinnerung an Jesus von Nazareth ist die Erinnerung an ein Leben, das nicht um sich selbst kreist, sondern dem Nächsten zugewendet ist – und die Botschaft der Kirche von der Auferstehung ist die Behauptung, dass diese Liebe stärker ist als die Macht des Bösen. Mehr noch: Die Botschaft von der Auferstehung ist die Behauptung, dass diese selbstlose Liebe das Gesetz, der logos ist, der die Welt regiert – diese Liebe, und nicht der selbstsüchtige Hass auf den Nächsten. Die Botschaft von der Auferstehung besagt, dass das Böse zwar im Kreuz siegt, dass dieser Sieg aber nicht das letzte Wort hat, sondern der Gekreuzigte das Böse überwindet. Dies stellt sich in Kirchengebäuden dar, und diese Wahrheit hütet die Kirche. In ihr ist diese Wahrheit realpräsent. Durch sie ist sie heilig.

Und dies ist die Botschaft, in die die Kirche die Welt einbezieht.

Die Kirche bezieht in das Heilige ein

Ich setze wieder mit den Heiligen, den Zeugen der selbstlosen Liebe, ein. „Heilige“ sind nach dem Verständnis der katholischen Kirche Menschen, die von dieser Selbstlosigkeit in besonderer Weise ergriffen waren und sind: In ihrem Leben hat sich diese Selbstlosigkeit in besonderer Weise durchgesetzt. Paulus. Augustinus. Die heilige Katharina. Die heilige Elisabeth. Franz von Assisi. Ignatius von Loyola. Theresa von Avila. Edith Stein. Maximilian Kolbe. Mutter Teresa.

Heilige werden nicht angebetet, sondern sie werden um Fürbitte angerufen. Auf vielen Bildern sind die Heiligen Schutzfiguren, die die Menschen an das Heilige, an Jesus Christus, heranführen. Etwa die Madonna, die Ur-Heilige, die den Glaubenden den Gottessohn als Kind präsentiert, oder als Schutzmantelmadonna die Glaubenden an Christus heranführt. Meistens sieht sie den vor dem Bild stehenden Menschen an oder deutet auf ihn, meistens vollzieht der dargestellte Christus eine segnende Gebärde, meistens ist die Schar der Gläubigen, die unter dem Schutzmantel der Gottesmutter steht, auf den Betrachter hin geöffnet. Die Kirche ist nicht einfach der Ort der Gegenwart des Heiligen, sie bezieht in das Heilige ein. Sie ist der Ort, an dem sich die Selbstlosigkeit der Menschenliebe vermittelt.

Hilfe in der Ausweglosigkeit

In der Mitte der katholischen Kirche stehen daher die sieben Sakramente. Diese Sakramente sind Mittel der Heiligkeit, sie machen im Leben der Glaubenden buchstäblich von der Geburt bis zum Tod immer wieder die Selbstlosigkeit der Liebe gegenwärtig: von der Taufe bis zur Letzten Ölung, über die Eucharistie als Sakrament des Weges, die Firmung als Bekenntnis der Zugehörigkeit, die Buße als Sakrament der Umkehr, die Ehe oder das Weihesakrament als die beiden Sakramente, mit denen ein besonderer Auftrag, diese Selbstlosigkeit der Liebe zu manifestieren und weiterzugeben, verbunden ist.

Alle diese Sakramente sind nicht nur Gegenstände – heiliges Wasser oder heiliges Brot oder heiliger Wein –, sondern sie sind symbolische Wege und Handlungen, in die die Empfänger hineingenommen werden: Die Taufe ist der Weg Jesu durch den Tod zum Leben, das Grundsakrament, das auf den Weg der Nachfolge stellt. Die Eucharistie ist die Gegenwart des Opfers Christi, in das die Glaubenden einbezogen werden.

Die Buße wiederum ist, recht verstanden, die Hilfe in der Ausweglosigkeit; nach meinem Eindruck auch in der katholischen Kirche sehr weitgehend marginalisiert. Dabei geht es hier darum: das eigene Leben im Licht der Selbstlosigkeit der Liebe zu bedenken, daran zu messen. Vor einem anderen Menschen, der in diesem Moment die Perspektive dieser Liebe repräsentiert: der sie zur Geltung bringt und zur Selbsterkenntnis anleitet. Der Beichtvater stellt diese Liebe dem Glaubenden gegenüber dar und macht sie erfahrbar: Der Hinweis auf die Liebe Gottes zum Menschen ermöglicht das Bekenntnis – das sagt nicht erst Martin Luther, sondern das schreibt der Heilige Raymund von Penaforte, Zeitgenosse und Freund des Thomas von Aquin und Ordensmeister der Dominikaner, in seiner Bußsumme: Weil der Mensch selbstlos geliebt ist, kann er bekennen und umkehren. Zeuge dieser Liebe im Beichtgespräch soll der Beichtvater sein. Mir scheint, dass dies das wichtigste Sakrament der Kirche ist: Hilfe zur Selbsterkenntnis, denn der Mensch erkennt sich selbst nicht. Und Hilfe zum Umgang mit dem, was man dann erkennt – denn es ist für den Menschen, wenn er sich erkannt hat, auch nicht gut, dass er mit dieser Selbsterkenntnis allein ist. Man kann sich das ego te absolvo – „ich spreche dich los“ nicht selbst zusprechen. Und manchmal ist das wirklich erlösend. Auch kann man sich meistens nicht selbst raten, wie man sein Leben der selbstlosen Liebe wieder öffnet. Für diesen Umgang mit dem eigenen Leben im Spiegel der selbstlosen Liebe, für Selbsterkenntnis und Umkehr, gibt es den Dienst des Priesters im Bußsakrament.

Paradoxe Realität des Heiligen

Hier ist der eigentliche Ort der Kirche – darunter nun nicht das Gebäude verstanden. Es gibt Menschen, die ihr Leben dieser Aufgabe weihen: im Leben der Menschheit und unter den Menschen das Heilige, die Selbstlosigkeit der Menschenliebe, zu vergegenwärtigen. Alle Christen sind dazu berufen, das ist Aufgabe der ganzen Kirche – aber für manche in besonderer Weise. Das Weihesakrament oder die Profess, das Mönchsgelübde, ist die Aussonderung zu einem solchen besonderen Leben im Dienst – nicht aufzugehen in der Welt und in den Berufen der Welt, sondern freigestellt zu sein zum Dienst. Das ist nicht einfach ein zurückgezogener Dienst an Gott, sondern der Dienst an Gott ist ein Dienst an der Bewegung Gottes auf das Leben der Menschen zu, also zugleich ein Dienst an den Menschen. Ein Dienst, der die Heiligkeit im Leben der Menschen erinnert und vergegenwärtigt, im sakramentalen Dienst und in der Seelsorge, in der öffentlichen Verkündigung, im sozialen Engagement.

Die Voraussetzung für diesen Dienst ist, dass die Geistlichen selbst in der Gegenwart und unter dem Einfluss des Heiligen leben, ihr eigenes Leben immer wieder und beständig an dieser Heiligkeit – der Menschenliebe Gottes – ausrichten und mit dieser Heiligkeit leben. Die Kleinteiligkeit des Breviers beziehungsweise die Strukturierung des Tages durch die Tagzeitengebete und des Jahres durch die Festkreise oder auch die regelmäßigen Exerzitien etwa im Jesuitenorden – all das sind Mittel, durch die das ganze Leben in ständiger Reflexion durch diese Heiligkeit zurechtgebracht und bestimmt und geprägt werden soll; es sind Markierungen, durch die der Tageslauf und durch die das Kirchenjahr strukturiert wird als ein Weg der Nachfolge, der das eigene Leben prägt. Dafür steht das sakramentale Prägemal des Priesteramtes – es will gefüllt werden durch die Prägung des ganzen Lebens durch das Heilige. Mönche, Nonnen, Priester, Bischöfe sind dabei meistens keine Ausbünde an moralischer Vorbildlichkeit, sondern, wenn es gut geht, Menschen, die mit Ernst Nachfolger Christi sein wollen, dies mit dem Ziel, ihren Mitchristen in die Nachfolge, zu einem Leben in der selbstlosen Liebe zu verhelfen. Dass es dabei auch zu schwerem Versagen kommt, ist richtig. Unser Entsetzen darüber ist einerseits ein Zeichen dafür, dass wir auch im säkularen Zeitalter immer noch die Anforderungen verstehen, die mit diesem Dienst an der Selbstlosigkeit verbunden sind. Unser Entsetzen darüber ist aber auch ein Zeichen dafür, dass wir ein Grundprinzip des Katholizismus nicht mehr verstehen: dass die Kirche der Ort der Gegenwart des Heiligen ist, aber nicht das Heilige selbst: Wie die Heiligen heilig nur sind als Zeugen für das selbstlose Leben Jesu Christi, so sind die Bilder der Heiligen nur als Orte ihrer Gegenwart heilig; und so sind auch die Geistlichen – alle! – nur in menschlicher Unvollkommenheit Diener des Heiligen an der Menschheit. Die Kirche insgesamt ist die Gegenwart des Heiligen, aber eben, wie gesagt: Nicht in Personen, sondern in der Hostie ist das Heilige in der Kirche so gegenwärtig, dass es das Wesen des Brotes wird. Und von dort strahlt es aus und ergreift Personen. Ergreift sie durch die Sakramente, durch die Messgottesdienste, durch das Kirchenjahr, durch die Tagzeitengebete, durch die Erzählungen von Heiligen. Durch die Atmosphäre eines Kirchengebäudes. Das ist die Strahlkraft der Heiligkeit. Die Kirche ist der mit Christus und den ersten Jüngern verbundene Raum, in dem diese Heiligkeit, die selbstlose Liebe gegenwärtig ist und Menschen ergreift – das ist der Sinn der apostolischen Sukzession, die die katholische Kirche in Anspruch nimmt: Hier ist die Gemeinschaft, die auf den ersten Jüngerkreis zurückgeht und in der die Menschenliebe Gottes gegenwärtig ist. Die Kirche umfasst mehr als die gegenwärtige Institution: die Heiligen aller Zeiten und Räume, die diesen Jüngerkreis um Jesus Christus vorbereiten, und die von ihm ausgehen. Heilig sind sie, wie die Jünger, durch das Heilige, das in der Kirche gegenwärtig ist und sich mitteilt. Und dieser Jüngerkreis ragt sichtbar in die Gegenwart in den vielen Kirchspielen und Bistümern und Metropolien und schließlich in der Kirche zu Rom. All das heilig, weil Ort der Heiligkeit und Dienst am Heiligen: der selbstlosen Menschenliebe.

Wie gesagt: Weil dies die Wirklichkeit der Kirche ist und weil dies der Anspruch ist, an dem sie gemessen wird, empfinden wir die Vergehen als besonders schwerwiegend. Aber man muss eben auch sagen und gerade in dieser Zeit hervorheben: Wir alle kennen Gläubige, und wir kennen Geistliche aller Hierarchiestufen, die dies leben, Klöster und Ordensgemeinschaften, in denen Menschen mit Ernst und Hingabe Nachfolgerinnen und Nachfolger sind und dieser Gegenwart des Heiligen – der selbstlosen Menschenliebe – unter den Menschen dienen. Die Selbstlosigkeit der Liebe ist kein leeres Ideal, sondern sie wird auch Wirklichkeit, verborgen meist, und zuweilen sichtbar. Ihre Verwirklichung ist nicht Leistung, sondern Gnade, nicht nur für die besonderen Menschen, die wir da sehen. Sondern wenn diese Kraft der Heiligkeit hier und da erkennbar wird, ist sie Gnade auch für uns: ein Indiz für die Macht der selbstlosen Liebe in einer verdunkelten Welt.

Die kontrafaktische Macht

Und genau darum ist übrigens auch die „heilige Stadt“ Rom so wichtig: Sie steht quer zu den Gegenwartsinteressen und dem kurzfristigen Gewinn. In ihr wird die Gegenwart zum Vorläufigen; und sie wird in Frage gestellt – manifest in den Gerichtsdarstellungen und in den Statuen und Bildern Christi und der Heiligen: Das in der Gegenwart Gescheiterte ist in diesen Bildern und Statuen als Kritik der Gegenwart selbst gegenwärtig. Und das ist paradox: Dasjenige, was die Gegenwart in Frage stellt, wird hier selbst Gegenwart. Hier in Rom und in den vielen kirchlichen Institutionen in der Welt stellt sich die kontrafaktische Macht der selbstlosen Liebe als Faktum dar: in der Kunst. Damit in einem Medium, das Staunen und Bewunderung hervorruft, das ergreifend ist und den Menschen verändert, insofern mächtig ist. Aber diese Kunst ist ein bleibendes, stabiles Bild der gewaltlosen und flüchtigen Macht, über die die Kirche verfügt: das Wort. Die liturgische und sakramentale Geste. Und die Musik. Dieses stabile Bild der flüchtigen Macht ist paradox, weil es das Flüchtige und Kontrafaktische in Farbe fasst und in Stein meißelt. Aber die Bilder Raffaels und die Statuen Berninis und Michelangelos zeigen, dass das geht, dass das Material bis hin zum Stein von einer fremden Macht ergriffen sein kann, die durch den Stein Menschen ergreift. Und ebenso paradox und notwendig ist die Kurie zu Rom: die sichtbare Darstellung der Gemeinschaft, die nur ist und heilig ist durch das Heilige, das unsichtbar in ihr lebt: die Una Sancta subsistiert in der katholischen Kirche.

Ein katholischer Christ bin ich nicht und werde ich nicht. Aber es tut mir leid und schmerzt mich, wenn ich sehe, dass katholische Christen ihrer Kirche den Rücken kehren und austreten. Ich halte das für einen schweren Fehler, und ich halte übrigens auch den Übertritt katholischer Gläubiger in eine protestantische Kirche für einen Fehler, wenn dieser Schritt motiviert ist durch die Enttäuschung über Verfehlungen der Kirche. Wir sind diesbezüglich nicht besser.

Es bedarf einer Reform der Gestalt der Kirche, das ist sicher richtig und immer richtig, und zwar nicht nur für die katholische Kirche. Aber eine Reform der Kirche darf sich nicht auf zweifellos notwendige juristische, administrative und organisatorische Änderungen beschränken. Das muss sein, gewiss, aber eine Reform kann damit nicht anfangen und auch nicht aufhören. Sondern die Reform muss eine Besinnung auf das Zentrum der Katholischen Kirche sein, und der Wunsch, sich von diesem Zentrum wieder ergreifen zu lassen. Dieses Zentrum ist unverlierbar – die Tradition der Kirche spricht von einem Thesaurus, einem Schatz, der in der Kirche niedergelegt ist; und durch diesen Schatz ist die Kirche selbst wertvoll. Es ist Zeit, dass in der Kirche sich das Bewusstsein der Heiligkeit der selbstlosen Liebe, die in ihr gegenwärtig ist, wieder meldet und darstellt – und das ist die Aufgabe aller katholischen Gläubigen. Die Kirche ist etwas Besonderes. Das Wichtigste ist die Einsicht: Die Kirche soll nicht nur heilig sein, sondern in erster Linie ist sie heilig: Ort der Gegenwart und Ort der ergreifenden Mitteilung der Selbstlosigkeit der Liebe zum Menschen. Ort der Gegenwart Jesu Christi. Das ist der Grund dafür, dass hier die Enttäuschung über Verfehlungen am größten ist. Es ist aber auch der Grund, der Kirche nicht den Rücken zu kehren. Sich davon wieder erfassen zu lassen, ist der Ursprung ihrer Erneuerung: das votum ecclesiae – das Verlangen nach der Kirche.

Anzeige
Anzeige: Nichts als die Wahrheit von Georg Gänswein

Herder Korrespondenz-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen Herder Korrespondenz-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.