Die rote Ministrantin

Was wird aus der SPD nach dem Rückzug von Andrea Nahles?

Andrea Nahles blickt in die Kamera.
© KNA

Andrea Nahles war Messdienerin, bevor sie in die SPD eintrat. In ihrer Gemeinde in der Eifel gehörte sie zu den ersten Mädchen, die am Altar ministrieren durften. In ihrer Partei wiederum hat sie auch die meisten Posten als erste Frau errungen – bis hin zum Amt der ersten Parteivorsitzenden der schon deutlich mehr als 150 Jahre alten Sozialdemokratie. Das Scheitern von Andrea Nahles hat jetzt eine tiefe Krise der Partei noch verschärft, es ist gewiss eine noch mal dramatischere Zäsur, als die vielen Wechsel in diesem Amt in den zurückliegenden Jahren es waren. Und der Abgang von Nahles ist auch Ausdruck eines anderen Endpunktes. „Frau, gläubig, links“ hat Nahles ihre Biografie betitelt. Noch nie zuvor stand an der Spitze der SPD eine Person, die so offen mit ihrem katholischen Glauben umging. Das wäre noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen.

Es geht die Phase einer stetigen Annäherung von Sozialdemokratie und katholischer Kirche zu Ende. Aus einer tiefen Fremdheit und sogar Feindschaft wurde seit dem Godesberger Programm ein Aussöhnungs- und Dialogprozess. Für ihn stehen unter anderem der Name Walter Dirks und die Frankfurter Hefte, aber auch der „Kirchenreferent beim Parteivorstand“ Burkhard Reichert, der rund 30 Jahre lang den Kontakt zwischen SPD und Kirche aufgebaut und gepflegt hat. Noch 2003 beklagte er, es gebe noch Gegenden in Deutschland, wo Katholiken schief angeschaut würden, wenn sie sich in der SPD engagierten. Heute nicht mehr vorstellbar. Die SPD-Parteivorsitzende Nahles war Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Das wäre selbst dem SPD-Chef und Katholiken Hans-Jochen Vogel nicht eingefallen.

Am Ende des Annäherungsprozesses steht also eine völlige Normalisierung des Verhältnisses bis hin zu einer Art Bedeutungslosigkeit der konfessionellen Kategorie in der Politik und im Parteiengefüge. Eine der drei jetzt amtierenden kommissarischen Parteivorsitzenden ist wiederum Mitglied im ZdK; es ist Malu Dreyer, Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz. Auch ihre Kirchlichkeit ist sehr authentisch und mutet keinesfalls nur wie Staffage an, wie es manchmal sogar bei SPD-Politikern den Anschein hatte. Nur die Relevanz einer kirchlichen Gebundenheit oder gar eines persönlichen „Gottesbezugs“ schwindet dramatisch dahin. Weder lassen sich mit einem kirchlichen Ausweis heute maßgeblich große Wählerschichten direkt oder einfacher adressieren, noch ist die Rückbindung auf die Religion in den allermeisten Fragen der konkreten Politik ein Unterschied machendes Merkmal – jenseits eines vor allem persönlichen Urteilsvermögens.

Nahles nennt den Katholizismus als „wichtige persönliche Kraftquelle“. In der kirchlichen Jugendarbeit habe sie sich die Welt erschlossen und ihr politisches Rückgrat gebildet. Als Leitmotiv gibt sie ein Zitat des früheren Limburger Bischofs Franz Kamphaus an: „Mach es wie Gott, werde Mensch.“ Aber mehr noch: Ihr Grundsatz sei, dass auch zweifeln und Fehler zugeben zum Menschsein gehörten und deswegen auch in der Politik Platz haben müssten. Schon vor Jahren hat sie gesagt, es fehle der SPD daran, auch mal zweifeln zu können. Die Machtpolitikerin Nahles konnte auch austeilen, verstand die Härten des politischen Geschäfts sehr wohl. Es ist zu kurz gegriffen, nur die Schlechtigkeit des Politikbetriebs als Ursache für ihren Weggang zu benennen. Aber neben allen anderen Faktoren ist ihr Rückzug möglicherweise auch Symptom eines sich immer weiter polarisierenden politischen Schauspiels. Der Sinn für eine auf Mitte und Zusammenhalt zielende Politik schwindet. Angesichts populistischer Versuchungen wird die Aufgabe vernachlässigt, einen gesellschaftlichen Grundkonsens zu bilden und zu pflegen.

Die SPD ist die Partei der gesellschaftlichen Integration, die das „katholische Mädchen vom Lande“ (Nahles über Nahles) in die Spitzenzone der deutschen Politik gebracht hat. Die SPD ist die Partei des Aufstiegs durch Leistung in einem Land, in dem die Maurerstochter Nahles studieren kann und dann nach oben kommt, durch viel Engagement und harte Arbeit zur Bundesministerin wird. Es wird spannend sein, zu sehen, ob die SPD diese ihre Tugenden wieder entdeckt, wirklich für die Breite der Bevölkerung da zu sein. Dazu gehören dann auch immer noch Katholiken auf dem Land. Aber es sind weniger Minderheiten, um die sich die SPD kümmern muss, als die Mehrheiten in der Bevölkerung, die sich immer häufiger politisch nicht mehr wahrgenommen fühlen. Völlig unklar ist, ob es den Grünen mit ihrer anderen DNA als Avantgarde gelingen wird, stattdessen die Lücke zu füllen.

In konkrete Politik umgemünzt hatte Andrea Nahles zuletzt ihren Katholizismus bei der Frage des Paragrafen 219a. Sie hatte zusammen mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und Dreyer offen und verdeckt für einen Kompromiss geworben, der das Werbeverbot für Abtreibungen nicht gänzlich aufhebt. Gegen den mächtigen Arbeitskreis sozialdemokratischer Frauen (AsF) war das keine einfache Aufgabe. Es wird Teil des Ringens um eine neue Linie in der SPD sein, ob solche ethischen Fragen auch noch jenseits von Extrempositionen in der SPD überhaupt diskutiert werden können – und wie kirchliche Stimmen und Positionen dann noch gehört werden. Der Aussöhnungsprozess mit den Christen steht in der Nach-Nahles-Ära vor einer Bewährungsprobe.

Der Nestor der sozialdemokratischen Katholiken heißt Wolfgang Thierse. In einer Auseinandersetzung um den Feiertagsschutz für den Karfreitag hat der frühere Bundestagspräsident den Juso-Chef Kevin Kühnert kritisiert. „Bisher wusste ich nicht, dass die SPD eine Spaßpartei ist. Ich bin in die SPD eingetreten, weil sie für Gerechtigkeit und Solidarität eintritt“, konterte Thierse auf Liberalisierungsvorschläge Kühnerts. Was also nach dem langen Annäherungsprozess von SPD und Kirche kommt, ist völlig ungewiss. resing@herder.de

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