Die Religion des Sisyphus

Der Glaube ist diffus geworden. Da sind Gemeinschaften attraktiv, die eine klare Identität versprechen. Die Gefahr, dass sich hier zerstörerische Dynamiken entwickeln, ist nicht zuletzt deshalb so groß, weil die Gesamtkirche an Integrationsfähigkeit eingebüßt hat.

Ein Mensch mit nackten schmutzigen Füßen liegt bäuchlings auf dem Boden.
© KNA

Geistlicher Misssbrauch ist eine neue Kategorie in der innerkirchlichen Diskussion. Der Ausdruck ist offenkundig dem Begriff des sexuellen Missbrauchs nachgebildet. Er wurde wohl zunächst von Beratern und Therapeuten verwendet, die mit Personen arbeiten, die bestimmte religiöse Gemeinschaften verlassen haben, mit denen sie negative Erfahrungen gemacht haben. Der Begriff geht von der Erkenntnis aus, dass Menschen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch verletzt werden können, ja, dass sie Verletzungen an ihrer Frömmigkeit und ihrem Glauben davon tragen können. Der Glauben der Menschen ist ein Rechtsgut, sagt der emeritierte Papst Benedikt XVI., das vom Kirchenrecht geschützt werden soll. Doch nur mit dem Kirchenrecht ist dieser Form des Missbrauchs nicht beizukommen.

Betroffene sprechen davon, dass ihnen ihre geistige Freiheit genommen wurde, dass sie manipuliert und mit religiösen Argumenten erpresst worden seien. Sie erzählen, dass man charismatischen Führungsfiguren innerhalb ihrer Gemeinschaft eine solche Autorität zugesprochen habe, dass deren Stimme implizit mit der Stimme Gottes gleichgesetzt worden sei, sodass es ihnen unmöglich gewesen sei, deren Entscheidungen zu hinterfragen. Sie berichten, wie sie unter dem ständigen religiösen Leistungsdruck, schwankend zwischen Euphorie und Depression, eine zunehmende innere Leere empfanden, gegen die sie irgendwann nicht mehr anzukämpfen vermochten. Sie sagen, dass sie von den Verantwortlichen ihrer Gemeinschaft bei Schwierigkeiten immer nur auf sich selbst verwiesen worden seien, dass ihnen also nahegelegt worden sei, nicht die Gemeinschaft, deren Strukturen, Regeln und ungeschriebenen Gesetze seien das Problem, sondern allein ihre eigene Unzulänglichkeit. So sei ihnen nur die Wahl zwischen Anpassung und Bruch geblieben, zu dem sie sich irgendwann, unter großen Ängsten, entschlossen hätten. Ängste, weil sie durch ihre Mitgliedschaft in der Gemeinschaft sozial isoliert gewesen seien, kaum Kontakte zu Personen außerhalb der Gruppe gehabt hätten. Nun gelte es für sie, ins Leben zurückzufinden. Und in den Glauben. Denn ihre religiösen Überzeugungen hätten doch allein auf der Lehre und Praxis ihrer Gruppe beruht. Was bleibt, wenn man sich davon gelöst hat?

Kann sich ein Mensch „ganz hingeben“?

An den Berichten ehemaliger Mitglieder der Gruppe „Totus Tuus“ im letzten Heft dieser Zeitschrift (vgl. HK Juni 2019, 13–17) dürfte viele bereits die schiere Menge an Gebeten und missionarischen Einsätzen irritieren, die die Betroffenen neben den normalen Pflichten des Alltags zu absolvieren hatten. Von den Mitgliedern wird die „vollkommene Hingabe“ gefordert. Aber kann sich denn ein Mensch wirklich ganz „hingeben“? Und kann man das von jemandem verlangen?

Wenn man diese Fragen mit Nein beantwortet, dann wäre allerding ein Großteil der katholischen Tradition im Verdacht, „missbräuchlich“ zu sein. Ein Karthäuser verbringt jeden Tag ungefähr acht Stunden im Gebet. Über Jahrhunderte haben christliche Missionare ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um den Glauben in die entlegendsten Winkel der Welt zu bringen. Ordensgründer haben, von einer spirituellen Idee beseelt, in einer Lebensspanne religiöse Organisationen begründet, die den Lauf der Kirchengeschichte veränderten. Als Ignatius von Loyola starb, hatte der Jesuitenorden bereits 1000 Mitglieder. Und war nicht in der Tat eine unüberschaubare Menge an Christen während der letzten zweitausend Jahre bereit, ihr Leben für den Glauben hinzugeben, im wahrsten Sinne des Wortes? Ich erinnere mich an das leise Entsetzen, dass mich einmal während einer Predigt im Schulgottesdienst überkam: Statt unseres Schulseelsorgers hielt ein Professor der Bonner Katholisch-Theologischen Fakultät die morgendliche Messe, und er erklärte uns Schülern einigermaßen ungerührt, wir müssten stets bereit sein, zu Blutzeugen für Christus zu werden. „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.“ So steht es im Matthäusevangelium. Das Christentum verlangt seinen Anhängern einiges ab, was mit bürgerlichen Vorstellungen eines gelingenden Lebens nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Sind am Ende vielleicht diejenigen, die sich in Gemeinschaften wie „Totus Tuus“ engagieren, einfach die Einzigen, die den katholischen Glauben noch ernst nehmen?

Und auch außerhalb der Sphäre des Religiösen sind Menschen doch bereit, sich ganz und gar einer Sache zu verschreiben. Es gibt Leute, die führen ein „Leben für die Musik“, oder ein „Leben für den Fußball“. Die Perfektion, die ein Musiker erreicht, oder das Leistungsniveau eines Spitzensportlers sind nicht ohne große Entbehrungen zu haben. Trotzdem sind diese Menschen nicht erschöpft. Und in Augenblicken des Gelingens kann sogar das Gefühl aufkommen, dass das Erreichte mehr ist als die Summe der geleisteten Anstrengungen. Man mag das Glück nennen, oder Gnade. Das Ausgebranntsein, der Zusammenbruch, stellt sich jedenfalls nicht ein, weil Menschen Dinge tun, die anstregend sind, sondern erst dann, wenn sie in dem, was sie tun, keinen Sinn mehr erkennen. Zum Beispiel, wenn sich zeigt, dass die Aufgabe, die ihnen gestellt wird, gar nicht lösbar ist.

Ideal und Realität

Was, wenn die religiös geforderte Arbeit an sich selbst – die Gewissenserforschung, das geistliche Wachstum, das Bemühen um das eigene Gebetsleben und die Gottesbeziehung – der Tätigkeit des Sisyphus gleicht? Wenn also alles, was gewachsen ist, regelmäßig wieder eingerissen wird, und man angehalten ist, von vorn zu beginnen? „Selbst wenn du das Gefühl hast, es läuft gerade gut, dann kommst du auf ein Treffen, und nach zwei Stunden denkst du: Es ist überhaupt nichts gut. Jedes Wochenende, wenn ich nach Hause kam, hatte ich den Satz im Kopf: Ich muss mich dringend bekehren“, so beschreibt es eine Betroffene (15). Auf diese Weise bleibt man dauerhaft abhängig. Man trifft Entscheidungen, die nicht die eigenen sind, hört nicht auf die Stimme seines Gewissens, sondern auf Stimmen von außen. Solchen psychischen Druck mag es sogar auch in der Musik und im Sport geben.

Es ist jedenfalls nicht so abwegig, dass eine Person, die in einer Gemeinschaft eine besondere Autorität besitzt, von ihrem eigenen Charisma überfordert sein kann, weil sie nie gelernt hat, mit ihrer besonderen Gabe verantwortungsvoll umzugehen. Dann kann es wohl passieren, dass sie sich an der Macht, die sie über Menschen besitzt, zu berauschen beginnt. Sie nutzt ihre Gabe dann nicht, um Menschen zu helfen, in Freiheit ihren Glaubensweg zu gehen, sondern, um sie auf Dauer spirituell und seelisch von sich abhängig zu halten. Etwa, indem sie Erreichtes immer wieder infrage stellt, indem sie unmögliche oder gar widersprüchliche Ziele formuliert – und indem sie ausdrücklich oder unterschwellig Exklusivität einfordert, um die Menschen, die ihr vertrauen, von anderen Einflüssen zu isolieren.

„Ich muss mich dringend bekehren“. Daran ist natürlich etwas Wahres: Der Mensch sündigt ja tatsächlich immer wieder, und er hat immer wieder die Möglichkeit, neu zu beginnen. Im besten Fall ist die kirchliche Lehre und Praxis der Buße eine Entlastung: Ich muss nicht perfekt sein und darf im Übrigen der Gnade Gottes vertrauen. Sie kann aber auch zum Vehikel von Reinheitswahn und moralischem Perfektionismus werden – und gerade dadurch zu einem Machtinstrument. „Zwischen Überhöhung und Erniedrigung tut sich ein Raum dauernder Frustration auf. Denn die Perfektion, die um jeden Preis erreicht werden muss, kann niemals erlangt werden“, sagt Katharina Kluitmann. Die Franziskanerin ist Vorsitzende der deutschen Ordensoberenkonferenz und war im Bistum Müster in der „psychologischen Begleitung von Menschen im Dienst der Kirche“ tätig. Für Kluitmann sind die Gefahren vor allem bei jungen Gemeinschaften groß: „Wenn ich etwas neu anfange, dann bin ich richtig idealistisch. Wenn ich als junger Mensch frisch meine Berufung gefunden habe, bin ich in einer enthusiastischen Aufbruchsstimmung. Wenn ich das in einen Kontext tue, wo mir ein weiser Begleiter hilft, kann das gut gehen. Wenn ich aber einer Person folge, die ähnlich enthusiastisch ist, kommt es zu einer Überbewertung des Ideals zu Ungunsten der Realität. Das Ganze geschieht im Kontext einer Gemeinschaft, die ebenso von ihrer Idee begeistert ist. Man schaukelt sich quasi gegenseitig hoch.“

Es fehlt das Korrektiv. Hinzu kommt, dass Außenstehende sich leicht von den „Erfolgen“ junger Gemeinschaften beeindrucken lassen: Welcher Bischof möchte schon junge Menschen in die Schranken weisen, die für ihren Glauben brennen, und einer Gruppe Grenzen auferlegen, die zahlreiche Priester- und Ordensberufungen hervorbringt?

Die Bistümer und die römische Kurie standen schon immer vor der immensen Aufgabe, all die Bewegungen, Gruppen, Gemeinschaften und Orden, die andauernd in der Kirche neu entstehen und ein Zeichen ihrer Lebendigkeit sind, so in das große Ganze des Katholischen zu integrieren, dass ihre positiven Impulse wirksam werden können, ohne dass sich eine von ihnen zu einem neuen, exklusiv verstandenen Heilsweg verengt. Diese Aufgabe ist nicht trivial, denn es besteht immer auch die Gefahr, dass Gruppen, deren Integration misslingt, „in den Untergrund gehen“, wo sie sich gar nicht mehr kontrollieren lassen. Sie ist heute außerdem unendlich schwieriger geworden. Denn die Vorstellungen davon, was den katholischen Glauben ausmacht, gehen so weit auseinander, dass es kaum noch möglich ist, verbindliche Standards zu definieren. Mit welchem Recht will man etwa Gruppen, die sich an gewissen Erscheinungen und Privatoffenbarungen orientieren, mit dem Häresievorwurf kommen, der ja in anderen Zusammenhängen auch nicht mehr erhoben wird?

Die Zeiten einer straff organisierten Kirche, die erlaubt und verbietet, sind schon lange vorbei. Die Fliehkräfte nehmen zu, der Glaube ist diffuser geworden. Gerade in dieser Situation wirkt das Versprechen von Eindeutigkeit und klarer Identität attraktiv – manchmal mit fatalen Folgen. leven@herder.de

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