Seele über Berlin

Ja, so könnte es sein nach dem Tod. So stellt man es sich zumindest vor, wenn man christlich geprägt ist, mit Gott rechnet – zugleich mit intellektuellem Anspruch durchs Leben geht und biblische Bilder vom Jenseits eben als Bilder begreift. In ihrem neuen Roman verleiht Sibylle Lewitscharoff einem soeben gestorbenen Mann ihre Stimme. Dieser Ich-Erzähler hat den Körper verlassen und schwebt als „Luftwesen“ über seinem letzten Wohnort Berlin. In meist kurzen Episoden treibt er an Orte und zu Menschen, die an seinem Leben „Anteil hatten“. Dazwischen driftet das Bewusstsein immer wieder weg: Das Ich fällt kurzzeitig ins Nichts, um an einem neuen Platz wieder wach zu werden. Zunehmend wird dieser Zustand zur Qual. Der Ich-Erzähler leidet immer stärker an seiner Einsamkeit. Fragen werden laut: Was soll das Ganze? Warum ist diese Seele „hängen geblieben“? Kommt noch etwas nach? Ist das beobachtende Schweben eine Art Läuterung? Je länger es dauert, desto mehr lehnt sich der Verstorbene auf. „Ich möchte atmen, sprechen, verstanden werden, mich zeigen und nicht als fließende Abstraktion durch die Gegend ziehen, verbunden mit nichts und wieder nichts.“ Auch Zweifel an Gott kommen auf. Eine solche Ausgangslage ist reizvoll.

Stark ist das Buch vor allem, wenn es im Literarischen bleibt. Nach etwa dreißig Seiten jedoch tritt die Handlung immer stärker in den Hintergrund, und die Autorin ergeht sich in essayistischen Ausflügen. In Einzelfällen ist selbst das lesenswert. In den meisten Fällen jedoch unnötig und deshalb störend. So rechnet die Autorin pauschal mit Erscheinungen der Moderne ab. Dazu gehört zeitgenössische Lyrik, von der es heißt, sie sei „zu konstruiert, zu wichtigtuerisch, aber ohne Klang“. Auch der neuzeitliche Kirchenbau wird als „kraftlose Nachkriegskunst“ verworfen. Über ein modernes Taufbecken schreibt die Autorin etwa, es sei ein „dickes Ei aus Beton, in dem ich mir als ästhetisch orientierter Säugling die Lunge aus dem Leib geschrien hätte vor Empörung“.

Auch die aktuelle Politik kommt vor, und da wird es zuweilen krude. So wirft Sibylle Lewitscharoff die Frage auf, ob Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 so viele Flüchtlinge aufgenommen hat, um sich vor sich selbst für politische Fehler zu rechtfertigen. „Hat Frau Merkel womöglich versucht, sich von ihrer Schuld zu befreien…?“ Da hat der Roman leider eine ungute Schlagseite. Hinzu kommt ein Erzählstil, der oftmals ins Elitäre, Abgehobene, Altkluge verfällt. Warum muss ein Problem „intrikat“ genannt werden?

Sibylle Lewitscharoff wird seit einiger Zeit gerade in Kirchenkreisen gern eingeladen. Das hat Gründe, und man ahnt schon, welche Themen dort diskutiert werden: etwa die Vergänglichkeit, verschiedene Gottesvorstellungen. Diesen Blick „von oben“ hätte man sich in diesem Roman mehr gewünscht.

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Lewitscharoff, Sibylle

Von oben

(Suhrkamp, Berlin 2019, 240 S., 24 €)

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