ReligionsgeschichteEwiger Himmel, unruhiger Mensch

Eine kompakte Geschichte der Religionen bietet einen verlässlichen und informativen Überblick von der kaum greifbaren Frühzeit des Menschen bis zur Gegenwart.

Vor rund 100000 Jahren, in der mittleren Altsteinzeit, begannen Menschen, ihre Toten zu bestatten. Das gilt für den später verdrängten Neandertaler genauso wie für den modernen Menschen, den Homo sapiens. Liegen uns mit den ältesten Bestattungsfunden zugleich die ältesten Spuren der Religiosität vor? Dies lässt sich mit einigem Recht behaupten, denn bewusst gestaltete Gräber samt Schmuckbeigaben oder eine ausgedehnte Kultanlage wie die von Stonehenge in Südwestengland (um 3000 v. Chr.) verweisen auf Rituale und Reflexionen, die typisch für ein religiöses Bewusstsein sind.

Eine zweifelsfreie Zuschreibung ist jedoch nicht möglich. „Die Entscheidung für eine Deutung hängt in der Regel stark davon ab, wie man sich das Weltbild der Menschen jener Zeit vorstellt – und Vermutungen darüber sind wiederum nur auf der Grundlage sehr viel jüngerer Quellen mit Hilfe von Analogieschlüssen möglich.“ Das schreibt der Tübinger Religionswissenschaftler und Religionshistoriker Bernhard Maier in seinem sorgfältigen und wohltuend unaufgeregten Werk über die Geschichte der Religionen. Gleich, ob es sich um Themen wie Offenbarung oder um die Zusammenstellung der verbindlichen heiligen Schriften handelt oder um ein so heikles Feld wie den Umgang mit den jeweiligen religiösen Minderheiten: Maier vermeidet schrille Thesen, zeigt verlässlich an, wo die Wissenschaft auf sicherem Boden steht und wo sie mehr oder weniger plausibel deutet und wertet.

Mythen und ihre Kritik

Der Gelehrte gliedert sein Buch in fünf Teile. Der erste Teil führt uns „Von den Anfängen bis zum Ende der altorientalischen Reiche“, von der kaum greifbaren Frühzeit also bis zum Untergang des Perserreiches um 330 v. Chr. Das ist ein ausgesprochen langer Zeitraum, der die Ur- und Vorgeschichte genauso umfasst wie die ägyptischen und altiranischen Hochkulturen oder die frühe Religionsgeschichte Europas. Allerdings stellt Maier nicht die historische Entfaltung einzelner Religionen ins Zentrum. Den Schwerpunkt bilden religiöse Phänomene, die als charakteristisch für die betreffende Epoche gelten können und die nicht selten weit über diese Epoche hinausreichen. Für die frühe Phase der Religionsgeschichte betrifft das beispielsweise die Totenfürsorge oder die aus unserer Sicht „primitiven“ Vorstellungen von Göttinnen und Göttern. Es geht auch um die Deutung von Träumen und um Opferhandlungen, um die Bestimmung von (Fest-)Zeiten und um die Entstehung von Mythen, die uns die klarsten Hinweise auf die damaligen Weltbilder geben.

Der Autor merkt an, dass die Verbreitung von Mythen fast zeitgleich die Kritik an ihren Inhalten, nicht zuletzt an ihren religiösen und ethischen Gehalten, nach sich zog: „Alles haben Homer und Hesiod auf die Götter geschoben, / Was bei den Menschen als Schimpf und Schande gilt: / Diebstahl, Ehebruch und gegenseitige Täuschung.“ Xenophanes von Kolophon (um 570–470 v. Chr.) dichtete diese Verse und schlug damit Töne an, die bis zum heutigen Tag die Religionskritik prägen. Ist Religion vor allem eine Projektion von menschlichen Gedanken und Wünschen auf das Göttliche? Welche Kriterien haben wir, um „heilige Texte“ so aufzufassen, dass sie das Leben fördern und nicht mit Ängsten oder leerem Ritualismus besetzen?

Die Stichworte, die den ersten Teil des Buches strukturieren, werden in den folgenden Kapiteln, da neue Gemeinschaften die Religionsbühne betreten, wieder aufgenommen und variiert. Hierbei bildet der Zeitraum zwischen 800 und 200 v. Chr. ein Scharnier. Der Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) hat diese Epoche in einer berühmten Wendung als eine „Achse der Weltgeschichte“ bezeichnet. In diese Zeit fallen unter anderem die Entstehung des Konfuzianismus und Daoismus in China, die Konzepte des Buddhismus und Jainismus in Indien, das Auftreten bedeutender Propheten in Israel, nicht zuletzt auch die Grundlegung der abendländischen Philosophie in Griechenland. Für das religiöse Bewusstsein wird hierbei die Idee einer unheilvollen, zu überwindenden Weltzeit bedeutsam. So sehr die Religionen dazu dienen, die weltliche Ordnung, auch die menschlichen Emotionen, zu stabilisieren, so hatten sie von nun an auch die Vision eines „anderen“, eines besseren Morgen, und sei es „am Ende der Zeiten“, wachzuhalten.

Bernhard Maier spricht von der Entstehung von „Erlösungsreligionen“ und betrachtet im zweiten Teil – „Vom Hellenismus bis zum Aufstieg des Islams“ – ihre Anfänge wie ihre Ausbreitung, ihre gegenseitige Beeinflussung und auch die „Tendenz zur Differenzierung und Spezialisierung“, die beispielsweise in der Institution des Mönchtums sichtbar wird. An der Lebensweise der Mönche lässt sich wohl am besten ablesen, dass der alternative, der religiöse Blick auf die Welt und den Menschen auch eine alternative Lebensweise fördern muss.

Der dritte Teil führt den Leser zeitlich bis an den Vorabend der Reformation. Die „Weltreligionen“, der Buddhismus, das Christentum oder der Islam, breiten sich aus und stecken ihre Einflussbereiche ab. Doch Ruhe kehrt fast niemals ein. „Mission und Herrschaftsanspruch: Krieg und Konversion“, so eine bezeichnende Kapitelüberschrift; „Zwischen Toleranz und Zwangsbekehrung: Religiöse Minderheiten“ eine andere. Demgegenüber gibt es stete Versuche, Gott und das Heil innerlich zu finden. „Mystik“ lautet das epochen- und religionsübergreifende Schlüsselwort. Gott ist nicht an Raum und Zeit gebunden, „und wer in seinem eigenen Haus bei Gott gegenwärtig ist, ist in der gleichen Lage, wie wenn er in Mekka gegenwärtig ist, denn eine Gegenwart ist nicht besser als die andere“. Den Satz des persischen Sufi-Schriftstellers Hudschwiri aus dem 11. Jahrhundert könnten wohl auch christliche oder jüdische Mystiker übernehmen. Freilich füllen in der Regel nicht die vereinigten Kräfte der Mystiker und der Alltagsfrommen die Hauptkapitel der Religionshistorie, vielmehr Menschen, die es verstehen, die religiöse Botschaft in eine effektive – nicht selten auch gewalttätige – Organisationsform zu gießen.

Mystiker und Alltagsfromme

So kommt es spätestens mit dem Anbruch des 15. Jahrhunderts zu einer fortschreitenden Globalisierung des Religiösen, auch mit den entsprechenden Exzessen. „Von der Entdeckung Amerikas bis zum Ende des Zeitalters der Aufklärung“ lautet die Überschrift des vierten Teils, die den Leser fragen lässt, ob die Aufklärung jemals als ein abgeschlossenes Projekt gelten darf. Als eine spezifische, europäisch geprägte Epoche, die das 17. und 18. Jahrhundert umfasst, bedeutete die Aufklärung ein wohl notwendiges Säurebad für die Religionen. Das religiöse Denken, ob metaphysisch oder offenbarungstheologisch orientiert, hatte sich einer umfassenden Kritik zu stellen. Dabei war die Argumentation des englischen Diplomaten Edward Herbert, Baron von Cherbury (1583–1648), dass sich die „Grundannahmen“ aller Religionen allein aus der Vernunft ableiten lassen und somit auch der Vernunft und den Vernünftigen zugänglich seien, noch eine vergleichsweise konziliante Form der Kritik an den Offenbarungsansprüchen. Wie die einzelnen Gemeinschaften „an der Schwelle zur Moderne“ mit der aufklärerischen Kritik umzugehen lernten, welche ihrer Reformbestrebungen nachhaltig wurden, das schildert der Tübinger Wissenschaftler auf eine überzeugende und gut lesbare Weise.

Der letzte Teil seines Werkes führt „Vom Beginn der Industrialisierung bis zur Gegenwart“. Auch hier setzt sich die Geschichte des unruhigen Menschen fort, der in unzähligen, teilweise bizarren Versuchen des ewigen Himmels habhaft werden möchte und dies selbstverständlich nicht vermag. Für alle, die einen knappen und seriösen Überblick über die religiöse Unterfütterung der menschlichen Historie und Gegenwart haben möchten, ist Bernhard Maiers Werk höchst empfehlenswert.

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Maier, Bernhard

Die Ordnung des HimmelsEine Geschichte der Religionen von der Steinzeit bis heute

Verlag C.H. Beck, München 2018, 576 S. mit 50 Abb., 29,95 €

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