Die Zeit der leeren Kirchen. Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens.Tomáš Halík: „Wir haben kein Monopol auf Christus!“

Die Kirche muss sich grundlegend erneuern – von innen heraus. Das schreibt der Prager Theologe und Soziologe Tomáš Halík. Er will sich gemeinsam auch mit Skeptikern und vermeintlich Nicht-Glaubenden auf den Weg machen, damit die christliche Botschaft von Glaube, Hoffnung und Liebe wieder mehr in unserer Zeit ankommt. Ein Interview.

 

© Foto: picture alliance/CTK/Roman Vondrous

 

CHRIST IN DER GEGENWART: Wir gehen auf Pfingsten zu. Vor genau einem Jahr hielten Sie an diesem Tag die letzte Ihrer Predigten in der „Zeit der leeren Kirchen“. Was ist Pfingsten für Sie, Professor Halík?

Tomáš Halík: Ich liebe Pfingsten. Und besonders liebe ich die vorgeschaltete Novene, also die neun Tage seit Christi Himmelfahrt, die uns zu Pfingsten hinführen. Wir sollten das in der Kirche neu entdecken und genauso intensiv wie den Advent begehen.

Pfingsten gilt als der Geburtstag der Kirche. Was ist so gesehen dann die Novene?

Die Novene ist die Zeit der geistlichen Vorbereitung. In der Apostelgeschichte heißt es, dass die Brüder mit den Frauen – sie sind ausdrücklich genannt – zusammen waren, einmütig im Gebet verharrten und die Kraft von oben erwarteten. Ist das nicht genau die Situation der Kirche heute? Wir stehen vor einer großen, tiefen Reform der Kirche, vielleicht vor einer neuen Reformation. Dafür aber müssen wir zuvor in die Tiefe gehen. Wir müssen darüber sprechen, welches Christentum wir anstreben, welche Gestalt unseres Glaubens wir für eine ehrliche Antwort auf die Herausforderung Gottes halten, auf die Zeichen der Zeit hier und jetzt.

Stehen wir wirklich vor dem Geburtstag einer radikal veränderten Gestalt von Kirche?

Wir sind an einem neuen geschichtlichen Kapitel des Glaubens angelangt. In unseren Breiten leeren sich die Kirchen. Die Zahl der Menschen, die sich zum Christentum bekennen, sinkt von Jahr zu Jahr. Die Corona-Pandemie – die Zeit der leeren Kirchen – war in dieser Hinsicht ein prophetisches Warnzeichen. All das darf uns aber nicht zu Hoffnungslosigkeit oder gar Verzweiflung führen. Denn ich bin überzeugt: Es geht nur ein bestimmter Typ des Christentums zu Ende. Auch im Glauben muss etwas sterben, damit es in einer neuen, verwandelten Form auferstehen kann. Gehört dies nicht zur Botschaft von Ostern? Einer der grundlegenden Bausteine meiner Theologie ist der Gedanke der resurrectio continua, der sich fortsetzenden Auferstehung. Das ist wie ein Leben spendender Fluss, der in bestimmten Augenblicken aus der Tiefe an die Oberfläche tritt: im Persönlichen wie auch in der Geschichte der Kirche.

Was genau muss sterben? Was neu auferstehen?

Zunächst: Die Krise der Kirche wird nicht in erster Linie durch Änderungen an der Struktur der Institution gelöst. Es braucht vor allem eine spirituelle und theologische Erneuerung. Dennoch sind auch konkrete Änderungen nötig. Ich bin etwa fest überzeugt, dass jetzt die Stunde der Frauen ist. Ich wiederhole, was ich bereits an anderer Stelle gesagt habe: Wir dürfen diese Stunde nicht verpassen. Die Kirche hat wichtige Momente, den „kairos“, schon zu oft verspielt. Im 19. Jahrhundert hat sie die Arbeiterklasse verloren; dann viele Intellektuelle durch ihren einseitigen Antimodernismus; die Jugend in den 1960er Jahren durch die panische Reaktion auf die „sexuelle Revolution“. Jetzt sehe ich die Gefahr, die Frauen zu verlieren. Ihr Charisma muss stärker in den Dienst eingegliedert werden. Zudem brauchen wir mehr Ökumene und den Dialog mit den vermeintlich Nicht-Glaubenden.

Sie sprechen sich für einen radikalen Perspektivwechsel aus. Unter anderem sagen Sie: „Wir haben nicht das Monopol auf Christus“. Was meinen Sie damit?

Die Menschen werden ja nicht zu Atheisten, wenn sie der Kirche den Rücken kehren. Sie gehen vielmehr auf Distanz zu einer bestimmten Form des Glaubens und zur Institution Kirche. Aber der Glaube an sich ist da, und er ist vital. So wie ein Fluss, der sich seinen Weg sucht, auch jenseits der Kirche. Oder ein anderes Bild: Benedikt XVI. hat über den sogenannten „Vorhof der Heiden“ im Tempel von Jerusalem gesprochen – auch die Kirche sollte so einen Platz für „fromme Heiden“ errichten. Doch das ist inzwischen zu wenig. Denn die Entwicklung ist schon viel weitergegangen. Um es im Bild zu sagen: Es gibt den Vorhof der Heiden gar nicht mehr, weil der Tempel zerstört ist. Papst Franziskus sagt: Christus klopft heute von innen, er will nach außen gehen – und wir müssen ihm folgen. Wir müssen unsere mentalen Strukturen überschreiten und zu den Suchenden, Marginalisierten und Verwundeten in der Welt gehen.

Und ausgerechnet in dieser unübersichtlichen Situation soll es nun zu einer Vertiefung des Glaubens kommen?

In den dramatischen Momenten, wenn die geschichtliche Entwicklung eine weitere Schwelle überschreitet – und da stehen wir jetzt –, wird oft der Glaube vieler Gläubigen erschüttert. Gleichzeitig beginnen jedoch auch viele „Nichtgläubige“, sich wesentliche Fragen zu stellen. Gerade die Erfahrung der Pandemie hat doch gezeigt, dass in bestimmten Situationen auch diejenigen Menschen, die bisher der Religion allgemein gleichgültig oder der „organisierten Religion“ distanziert gegenüberstanden, plötzlich geistlichen Themen gegenüber sensibel wurden. Es interessiert sie, was Christen in solchen Momenten sagen. Ihre gleichgültigen beziehungsweise distanzierten Haltungen sind also nicht unveränderbar. So kann es zwischen dem Glauben und der Skepsis zu einem wertvollen Austausch der jeweiligen Gaben kommen. Wir müssen nur mutig sein wie einst Paulus und uns aufmachen hinaus in die Welt.

Für manche dürfte sich das eher wie die Abschaffung der Kirche anhören denn als Aufbruch. Es gibt ja jetzt schon erheblichen Widerstand in der Kirche gegen Reformen…

Das ist richtig. Papst Franziskus versucht, auf diese bestehende Spaltung zu reagieren, indem er nicht die Gesetze ändert, sondern die pastorale Praxis, für die er sich mehr Barmherzigkeit wünscht. Das scheint mir im Augenblick die erfolgversprechendere Vorgehensweise zu sein als etwa der Synodale Weg bei Ihnen in Deutschland. Ich verfolge das durchaus mit viel Sympathie. Aber letztlich werden da doch Forderungen formuliert, die seit Jahrzehnten im Raum stehen – und aus Rom kommt immer wieder dieselbe Antwort, das Nein. Vielleicht braucht es in näherer Zukunft wirklich ein neues Konzil. Aber die Zeit scheint noch nicht reif dafür zu sein. Deshalb noch einmal: Nehmen wir die jetzige Zeit als Novene an, als Vorbereitung für die theologische Arbeit und als Zeit der systematischen Pflege der geistlichen Kultur des Einzelnen.

Zugespitzt könnte man fragen: Braucht es die Kirche noch? Haben die Christen „der Welt“ überhaupt noch etwas zu sagen?

Unbedingt. Wenn ich davon gesprochen habe, dass es eine große Sehnsucht nach Spiritualität gibt, dann müssen wir zum Beispiel auch festhalten, dass wir in einer ökonomisierten Gesellschaft leben. Der Markt hat dieses Sehnen der Menschen erkannt und reagiert darauf mit dem Angebot von viel billiger Esoterik und Pseudospiritualismus. Wir müssen uns also gegen die Kommerzialisierung und Banalisierung wehren. Eine weitere Gefahr: In der derzeitigen Krise aller Sicherheiten sind die Menschen anfällig dafür, von den politischen Ideologien der Populisten und des religiösen Fundamentalismus angesteckt zu werden. Da wird dann eine scheinbare christliche Identität formuliert, die sich über den Hass auf Muslime, Migranten und homosexuelle Menschen definiert. Es ist wichtig, die Christen dagegen zu immunisieren. Und nicht zuletzt geht es um den Dialog mit den modernen Wissenschaften. Wir sollten hier eine kompetente Stimme sein, die offen ist, aber auch auf die Gefahren hinweist, etwa beim Transhumanismus oder in der Genforschung.

Und was genau kann die Kirche, können die Christen da anbieten?

Glaube, Hoffnung und Liebe! Das ist der Kern unserer Botschaft, und wir sollten darüber nachdenken, was das heute bedeutet, auch jenseits traditioneller Grenzen. Was wir etwa gegen Propaganda und Fake-News tun können. Meine Antwort: Wir sind zu Umkehr – metanoia – und Verwandlung fähig. Gerade die christliche Mystik bietet dafür einen Schatz, der zu sehr in Vergessenheit geraten ist. Deshalb sollten wir uns für die „neue Reformation“ von der „katholischen Reformation“ inspirieren lassen, von spirituellen Bewegungen um Persönlichkeiten wie Johannes vom Kreuz, Teresa von Avila, Filip Neri und Ignatius von Loyola. Auch sie wirkten in einer Zeit des Wandels der kulturellen Paradigmen, in einer Zeit des tiefgreifenden Niedergangs der Kirche und der Spaltung der Christen. Als Mystiker haben sie die Kirche von innen her verwandelt: ihre Sprache, Theologie, Vorstellungskraft sowie ihre pastoralen und missionarischen Aktivitäten.

 

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Halík, Tomáš

Die Zeit der leeren Kirchen. Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens

Verlag Herder, Freiburg 2021, 207 S., 20 €

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