Rezension zu Eberhard Schockenhoff: Die Kunst zu Lieben. Unterwegs zu einer neuen Sexualethik.Vom dröhnenden „Nein“ zur Freude am Eros

Bis zu seinem Tod hat der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff an einer biblisch begründeten und zeitgemäßen Sexualethik gearbeitet. Jetzt liegt sie vor. Welch ein Geschenk!

Das Missverhältnis könnte kaum größer sein: Es gibt wohl kein anderes Thema, zu dem sich das kirchliche Lehramt so häufig und so detailliert zu Wort meldet wie zur Sexualität. Doch wer nimmt all das überhaupt noch wahr, geschweige denn ernst? Die Schar der „Zaungäste“, die innerkirchliche Diskussionen zu dem Thema interessiert beobachtet, werde immer kleiner, hieß es zuletzt in der „Frankfurter Allgemeinen“. Allzu breit ist gerade bei der Sexualmoral der Graben zwischen vatikanischen Verlautbarungen und der Lebenswirklichkeit der Menschen. Selbst bei den Wohlmeinendsten hat Rom längst die Lufthoheit über den Ehebetten verloren. Traurig, aber wahr: Kaum einer erwartet überhaupt noch ein hilfreiches, segensvolles Wort der Kirche für gelingende Beziehungen. Viel zu laut dröhnen die vielen römischen „Neins“ und „Sünde“-Rufe.

Die Kirche hat sich hier ganz offensichtlich verrannt. Die Mehrheit der Theologen ist sich heute einig: Als das Lehramt mit Augustinus die Erbsündenlehre aufnahm, war es bereits falsch abgebogen. Sexualität begegnet seither fast nur unter dem Vorzeichen der Sünde. Allenfalls in der Ehe von Mann und Frau ist sie aus kirchlicher Sicht hinnehmbar, weil angemessen eingehegt. So meint man, diese ur-menschliche, unbändige Kraft einfangen, „ordnen“ zu müssen (freilicht recht erfolglos). Spirituelle Überhöhungen wie die „Theologie des Leibes“ von Johannes Paul II. helfen ebenfalls nicht weiter. Im Gegenteil: Letztlich bleibt man gerade damit immer beim Naturrecht stehen.

Nun hat man sich ja in den allermeisten Bereichen von naturrechtlichen Begründungen verabschiedet. Männer rasieren sich, obwohl ihnen „natürlich“ Bärte wachsen. Und wenn wir am Abend das Licht einschalten, kommt es uns auch nicht als unerlaubte Übertretung der Schöpfungsordnung vor – wo doch Gott den Wechsel von Tag und Nacht so wunderbar eingerichtet hat.

Allein bei der Sexualität ist es anders. Da zählt für das Lehramt nach wie vor nur die von der Natur vorgegebene „genitale Passung“, wie es der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz unlängst formulierte. Oder, um es mit den Worten einer Leserin zu sagen: „Rein vom Phänomenologischen her“ – also von dem, wie sich die primären männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane funktional zusammenfügen – kann es nur genau eine Form von Sexualität geben: die zwischen Mann und Frau. Und die wird allein in der Ehe akzeptiert, und auch dann nur, wenn jeder einzelne eheliche Akt für neues Leben offen ist. Immerhin zur natürlichen (!) Empfängnisregelung hat sich die Kirche durchgerungen.

Nun kennen „Welt“ und Wissenschaft inzwischen ein weitaus größeres Spektrum an sexuellen Ausprägungen – nicht aus Lust und Laune, nicht selbstgewählt, sondern ebenfalls „natürlich“. Sie alle gelten kirchlich jedoch als schwere Sünde, letztlich als Übertretung des sechsten Gebots. Die Kirche hat für all die „betroffenen“ Menschen nur den Ratschlag der Enthaltsamkeit parat, die sprichwörtliche „Keuschheit der Engel“. Wer hier schon den Kopf schüttelt, sollte bedenken: Immer noch wird, etwa bei Homosexualität, das Zerrbild einer psychischen Deformation gezeichnet. Manche faseln von einer „Drüsenkrankheit“. Wer schwul oder lesbisch ist, dem empfiehlt die Kirche jedenfalls, „die Schwierigkeiten, die ihnen aus ihrer Verfasstheit erwachsen können, mit dem Kreuzesopfer des Herrn zu vereinen“. So der geltende Katechismus. Noch perfider wird es, wenn zum Beispiel Homosexualität mit dem Verbrechen des sexuellen Missbrauchs in Verbindung gebracht wird.

So weit die bittere Bestandsaufnahme. Manche sagen da, von der Kirche brauche es bei diesem Thema nur noch genau zwei Dinge. Erstens die Bitte um Vergebung für all das Leid, all das Unrecht, das sie den Menschen mit ihrer Sexuallehre zugefügt hat. Und zweitens den Verzicht auf jegliche Wortmeldung in diesem Zusammenhang. Reicht es denn nicht, wenn allgemeine ethische Prinzipien gelten? Niemandem schaden, niemanden benutzen etwa. Die Journalistin und Autorin Christiane Florin vertrat unlängst bei einer Veranstaltung der Katholischen Akademie Freiburg diesen Standpunkt.

Auch andere sprechen von einer „Zeitenwende“ in der Sexualmoral. Allerdings reden sie nicht einer völligen Abschaffung das Wort, sondern plädieren für eine grundlegende Neuformulierung, welche die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deutet. Stephan Goertz gehört dazu. Für ihn müssen künftig die Werte „Liebe“ und „Würde“ im Zentrum stehen.

Ein besonderer Beitrag in dieser Diskussion stammt von dem im letzten Jahr verstorbenen Eberhard Schockenhoff (vgl. CIG Nr. 30/2020, S. 328). Die Arbeitsgemeinschaft Moraltheologie ließ damals erklären: „Sein Tod riss ihn jäh aus Projekten, deren Rezeption im Fach gewiss war. Sein dem Leben zugewandter Glaube hat ihn zugleich unaufgeregt und ernsthaft die moralischen Fragen der Zeit durchdenken lassen.“ Die Arbeit an einer Neuformulierung der katholischen Sexualethik gehört dazu. Schockenhoff hatte den deutschen Bischöfen auf ihrer Vollversammlung in Lingen 2019 den Weg gewiesen (vgl. CIG Nr. 12 und 13/2019, S. 129 bzw. 137). Intensiv engagierte er sich im entsprechenden Forum des Synodalen Wegs. Und bis zu seinem Unfalltod arbeitete er an einem Standardwerk zum Thema. Bis auf das Schlusskapitel, in dem er noch einige Konkretisierungen darlegen wollte, konnte er das umfangreiche Werk fertigstellen. Seine Assistenten Hannes Groß und Philipp Haas haben nun das Erscheinen ermöglicht.

In dem Buch hören wir Eberhard Schockenhoffs Stimme, wie wir sie kennen. Überaus präzise und unermüdlich bringt er Beleg um Beleg, formuliert dies in höchster Eleganz und Vornehmheit aus – ein Genuss für Theologen wie für interessierte „Laien“. Inhaltlich zeichnet Schockenhoff zunächst in drei Kapiteln die Entstehung – und damit auch Zeitbedingtheit – der kirchlichen Sexualmoral bis in ihre heutige Sackgasse nach, bis zum gegenwärtigen Eindruck, „dass eine rigide Verbotsmoral der spielerischen Freude am Eros Schranken auferlegt, die außerhalb und weithin auch innerhalb der Kirche nicht mehr akzeptiert werden“.

Dann nimmt er gewissermaßen einen zweiten Anlauf und entwickelt aus dem Zeugnis der Bibel im Dialog mit den Humanwissenschaften seine neue Sicht auf Sexualität. Sie ist gerade nicht beliebig, kein „alles ist erlaubt“. Aber die unterschiedlichen Orientierungen und Beziehungsformen werden eben auch nicht von vorneherein als sündhaft diffamiert. Was für ein konstruktiver Diskussionsbeitrag, unverdächtig jeglichen Lagerdenkens! Überraschend und originell ist etwa die „Theologie der Familie“, die Schockenhoff zum Schluss des Bandes entwickelt, wo es ihm tatsächlich gelingt, aus so einem traditionellen Begriff wie der „Hauskirche“ Funken zu schlagen.

So tragisch es ist, dass dieser große Theologe die Diskussion nicht mehr mit seinem persönlichen Einsatz voranbringen kann – so groß ist doch das Glück, dass sein Wort in diesem Buch lebendig bleibt!


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Schockenhoff, Eberhard

Die Kunst zu LiebenUnterwegs zu einer neuen Sexualethik

Verlag Herder, Freiburg 2021, 484 S., 48 €

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