Kirchenhistoriker Hubert WolfDer Mythenmacher

Auf den ersten Blick ist „Der Unfehlbare“ eine Biographie über Papst Pius IX., vor allem aber geht es dem Historiker Hubert Wolf um eine Analyse der kulturgeschichtlichen Umwälzungen des Katholizismus im 19. Jahrhundert.

Was verbindet Paris und Senigallia? In Hubert Wolfs Buch über Papst Pius IX. werden diese beiden Orte zu Symbolen zweier gegenläufiger Entwicklungen im 19. Jahrhundert, die irgendwann aufeinanderprallen mussten – was dann am 18. Juli 1870 geschah. Bei diesem Zusammenprall entstanden Druckwellen, die bis heute zu spüren sind, allerdings nur noch innerkirchlich. In der säkularisierten Gesellschaft, deren Entwicklung nicht zuletzt durch diesen Zusammenprall beschleunigt wurde, bewirken das Pontifikat jenes Papstes und der Paukenschlag von 1870, als Pius IX. sich während des Ersten Vatikanischen Konzils bei gewissen Lehrentscheidungen in Glaubens- und Sittenfragen als unfehlbar erklären ließ, heute allenfalls noch ein müdes Lächeln.

Womöglich wird sich dies mit dem jüngst erschienenen Buch von Hubert Wolf ändern. Denn es ist zwar eine Papst-Biographie – eine unter vielen in der letzten Zeit –, aber es ist weitaus mehr als das: Der Münsteraner Kirchenhistoriker hat mit seinem Buch eine kulturgeschichtliche Analyse des 19. Jahrhunderts vorgelegt, welche genau die Phänomene in den Blick nimmt, die von damals in das 21. Jahrhundert hineinragen und unser Verständnis von Geschichte und Tradition beeinflussen.

Der Reihe nach: Am 13. Mai 1792 wurde in Senigallia, einem kleinen Städtchen an der Adriaküste, ein paar Kilometer nördlich von Ancona, Giovanni Maria Mastai Ferrati geboren. Wie kaum ein anderer prägte er die Kirchengeschichte. Vor allem gibt es jedoch kaum einen Papst der beiden vergangenen Jahrhunderte, an dem sich die Geister derart scheiden. Davon ahnte damals jedoch noch niemand etwas im nördlichen Kirchenstaat. Wovon man jedoch Kenntnis hatte, das waren die beunruhigenden Ereignisse im fernen Paris, die wie näherrückendes Donnergrollen überall in Europa spürbar waren.

Donnergrollen der Revolution

Knapp vier Wochen vor der Geburt des späteren Papstes hatten die französischen Revolutionäre Österreich den Krieg erklärt. Damit kamen die Ereignisse, die seit dem Sommer 1789 Paris und dann die Welt in Atem hielten, immer näher nach Mittel- und Südeuropa. Dort hörten viele Menschen die verheißungsvolle Nachricht von Menschenrechten und politischer Befreiung eher ängstlich und empfanden sie vor allem als „Generalangriff auf die Tradition“ – so Wolf im ersten seiner neun Kapitel, in dem er die „Verwirrungen des jungen Gianmaria“ und dessen frühen Lebensweg beschreibt.

Paris und Senigallia blieben für ihn, der schon wenige Stunden nach seiner Geburt bei der Taufe als „Hochwohlgeborener Herr“ („Illustrissimo Signore“) bezeichnet wurde, die Koordinaten einer Welt, die sich in Böse und Gut einteilen lässt, so wie Paris von Senigallia zu unterscheiden ist: Paris war das Laboratorium der Moderne, wo Freiheit und Gleichheit verkündet wurden, in dem sich allerdings auch innerhalb eines Jahrzehnts all die Schrecklichkeiten ideologischer Verirrungen der folgenden beiden Jahrhunderte wie unter einem Brennglas ereignen sollten. Dieses Paris war für den jungen Grafen schon vor seiner religiösen Berufung Symbol eines Teufelswerks und blieb es bis ans Ende seiner Tage. Dass er mit dem von ihm 1870 herbeigeführten Unfehlbarkeitsdogma der Unduldsamkeit und Rechthaberei der radikalsten unter den Pariser Revolutionären ganz nahe erschien, blieb ihm indes bis an sein Lebensende verborgen.

Die Reihen schließen

Zunächst aber suchte der linkisch wirkende junge Mann, der immer wieder unter heftigen epileptischen Anfällen litt, nach Halt in einer Welt, die die Schrecken der napoleonischen Kriege vergessen wollte. Diesem Lebensabschnitt Mastai Ferratis zwischen 1815 und 1840 widmet sich Wolf im zweiten Kapitel unter der Überschrift „Neue Ordnung in alten Bahnen. Vom untauglichen Grafen zum begnadeten Bischof“. Das Wort „begnadet“ verdient eine Erklärung: Einmal auf dem Bischofsthron, entwickelte Mastai Ferrati eine Fähigkeit, ohne die sich kein Autokrat an der Macht halten, ohne die aber auch keine Nation letztlich Bestand haben könnte. Gemeint ist die von dem Bischof und den ihn umgebenden Gefolgsleuten so gekonnt gespielte Klaviatur der Traditionserfindung, mit der die Rechtmäßigkeit der eigenen Auffassungen hergestellt wurde und wird. Auch hier war der Kirchenmann, der die laizistischen Pariser Revolutionäre verabscheute, seinen verhassten Gegnern näher, als er es wahrhaben wollte: Hatte man sich im revolutionären Paris am Dekor der römischen Antike berauscht und sich damit einen Gründungsmythos fabriziert, so bastelte sich der Erzbischof von Spoleto einen Einheitskatholizismus, der durch das Trienter Konzil erneuert worden sei und seitdem ungebrochen existiert habe – außer wenn, wie in Paris ab 1789 geschehen, die Moderne in die Kirche einbrach. Seit Pius’ IX. überaus erfolgreichem Versuch, die Reihen – wieder – fest zu schließen, galt die Frage „Wie hältst Du es mit der tridentinischen Messe?“ als Maßstab der Rechtgläubigkeit.

Aber, so fragt Hubert Wolf, wurden die Reihen wirklich wieder geschlossen? Waren sie es denn vor der Französischen Revolution beziehungsweise bevor der energische Bischof und spätere Papst sich als gestrenger Oberhirte inszenierte, der das Kirchenvolk mächtig daran erinnerte, dass er und nur er als unfehlbarer Kirchenlehrer diese verlorene Einheit garantieren könne?

Erfundene Einheit

Die Antwort Wolfs ist klar: Diese Einheit war nicht verloren, denn es hatte sie niemals gegeben – sie ist das pure Produkt des Mythenmachers aus Senigallia, dem die Vielfalt des Katholizismus ein Dorn im Auge war. Denn es gab ja auch aufgeklärte Katholiken, die den individuellen Freiheitsrechten, zu denen die Religionsfreiheit gehört, und dem Autonomie-Ideal der Aufklärung durchaus etwas abgewinnen konnten. 1864 machte Mastai Ferrati, der damals schon mehr als achtzehn Jahre als Papst regierte, mit dieser freiheitlichen Tradition kurzen Prozess: Sein „Syllabus errorum“ (Verzeichnis der Irrtümer) führte alles auf, was seiner engherzigen Meinung nach nicht katholisch war.

Die Gefolgschaft von Pius IX. musste gespürt haben, dass dies Zustimmung in gemäßigt konservativ-katholischen Kreisen kosten könnte. Daher wurde ein weiterer Mythos aus dem Hut gezaubert: Mit Pius IX. sei 1846 ein liberal denkender Petrus-Nachfolger gewählt worden, in den die Anhänger des Risorgimento, also eines vereinten säkularen italienischen Staates, viel Hoffnung gesetzt hätten. Erst die revolutionären Unruhen von 1848 hätten den gütigen Mann verschreckt und ihm und der Welt vor Augen geführt, dass Liberalismus immer im Chaos enden müsse. Doch: „Einen liberalen Papst Pius IX. hat es nie gegeben“, so Wolf im fünften Kapitel.

Der Paukenschlag von 1870

Indem Pius IX. 1870 durchsetzte, dass der Papst unfehlbar sei, trieb er das Prinzip der Traditionserfindung auf die Spitze, das ja keinesfalls typisch für den Katholizismus ist, vielmehr für alle Gemeinschaften oder Gesellschaften, die sich bedroht fühlen. In einem gemeinsam mit Terence Ranger verfassten Buch hat der britische Historiker Eric Hobsbawm 1983 das Phänomen der „erfundenen Tradition“ analysiert. „Io, io sono la traditione, io, io sono la Chiesa!“ („Ich bin die Tradition, ich bin die Kirche!“): Der Papst ließ seine Person mit dem verschmelzen, was er zuvor als jahrhundertealte Tradition erklärt hatte, die Einheit aller Katholiken unter seinem für alle Bereiche der Kirche geltenden Rechtsprechungsvorrang (Jurisdiktionsprimat).

Vielleicht war Papst Pius IX., so paradox es klingen mag, damit sogar seiner Zeit voraus – indem er das Gebaren autoritärer Führer des 20. Jahrhunderts vorwegnahm, die Rechtmäßigkeit durch Charisma ersetzten. Denn Ausstrahlung hatte er offenbar, wie gegen Ende dieser sehr lesenswerten Studie beschrieben wird. Seine Gefolgsleute arbeiteten kräftig am Bild seiner besonderen Aura. Wolf: „Pius IX. hat das charismatische Papsttum erfunden, und Johannes Paul II. hat es zur Vollkommenheit geführt.“ Die Verzauberung der Person des Papstes hat allerdings zugleich einer Entzauberung des Papsttums den Weg bereitet.

Hubert Wolf hat mit diesem Buch die Gründe benannt, warum die katholische Kirche innerhalb säkularer Gesellschaften zunehmend dazu neigt, im Traditionalismus zu erstarren. Die Chance zur Erneuerung liegt wohl darin, vermeintlich alte Traditionen auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Rechtmäßigkeit hin zu befragen. Das ist in der Kirche nicht anders als überall dort, wo Menschen sich eine Tradition erfunden haben. Aber im Gegensatz zu anderen Gruppen verfügt die Kirche über ein klares Kriterium dessen, was als legitim anzusehen ist: das Jesus-Wort „Tut dies zu meinem Gedächtnis“. Man muss sich nur darauf besinnen – dann braucht man den Katholizismus und seine Tradition nicht neu zu erfinden.

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