Ingolf U. DalferthWir Sünder

Der Autor zeigt, dass es eine fatale Illusion ist, von Gott und vom Menschen zu sprechen, ohne von der Sünde zu sprechen.

Was passiert, wenn man die „Entdeckung der Menschlichkeit“ unter das Leitwort „Sünde“ stellt? Ingolf U. Dalferth scheut diese Irritation nicht. Er provoziert sie. Und er bedient auch nicht das Vorurteil, der Protestantismus mache nichts lieber, als über Sünde nachzudenken. Vielmehr spricht er sich für Aufklärung durch Religion aus, indem er das dunkelste Thema neben dem Leiden beleuchtet. Dalferth hat eine Kulturgeschichte der Konzepte und der Rede von Sünde geschrieben – mit Blick auf diejenigen, die sie vertreten, aber auch auf diejenigen, die sie als verfehlt oder entbehrlich erachten.

Der Autor zeigt, dass es eine fatale Illusion ist, von Gott und vom Menschen zu sprechen, ohne von der Sünde zu sprechen, weil sich Menschen sonst vergöttern könnten, mit übelsten Folgen. Dalferth erläutert auch, dass die Rede von der Sünde nur dann der Menschlichkeit dient, wenn sie Gott vor Augen stellt, weil im Blick auf ihn, den Schöpfer und Erlöser, die Endlichkeit wie die Kostbarkeit des Lebens angenommen werden kann.

Dalferth argumentiert in der Tradition evangelischer Theologie. Für ihn ist Sünde weniger Fehlverhalten denn Unheil. Die Weisheit der katholischen Unterscheidungen zwischen schweren und lässlichen Sünden, deren Sitz im Leben Humanität im Beichtstuhl ist, nutzt er nicht. Dass damit Schindluder getrieben worden ist, um Macht über die Seelen zu gewinnen, ist leider Gottes richtig, diskreditiert aber den Ansatz noch nicht.

Dalferth ist konsequent, weil er in seiner Kritik radikal ist: „Moralisierung“ ist für ihn ein Krisenphänomen der Sünden-Theologie, weil sie vor den befreienden Einsichten die Augen verschließe: „dass einem immer mehr zufällt als das, worauf man Anspruch hat, und dass man es deshalb nicht verliert, sondern vermehrt, wenn man anderen daran Anteil gibt“. Dieser Schlüsselsatz könnte Menschen, denen Unrecht widerfährt und deren guter Wille ausgebeutet wird, als zynisch erscheinen; aber er schließt ein, dass es überhaupt Leben und dass es Hoffnung wider alle Hoffnung gibt.

Das Buch ist spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Ressentiment, Kolonialismus, Sexismus – Dalferth lässt sich durch keinen Leitbegriff der öffentlichen Debatte ins Bockshorn jagen, sondern plädiert konsequent für die Unterscheidung zwischen Sein und Schein. Scham, Entfremdung, Angst, Hybris – bei jedem Stichwort zeigt Dalferth, was es mit Sünde zu tun hat und warum ihr Begriff unersetzlich bleibt.

Dennnoch wirft der Ansatz Fragen auf. Dalferth kritisiert eine Theologie, die bei menschlichen Erfahrungen ansetzt. Beim Thema Sünde ist das schwierig. Den Opfern tut weh, was andere ihnen in Gedanken, Worten und Werken antun oder versagen. Verantwortlich sind Menschen für das, was sie an Bösem getan und an Gutem unterlassen haben. In den biblischen Konzepten, vor allem bei Paulus, ist Sünde deshalb keineswegs nur Unheil, sondern auch Bosheit, Laster, Gesetzesübertretung. Dalferth sieht eine letzte Inkompatibilität zwischen der Gerechtigkeit Gottes und der Gerechtigkeit von Menschen. Die katholische Theologie hingegen greift starke biblische und philosophische Impulse auf, die von einer Analogie ausgehen, einer wesentlichen Ähnlichkeit, die von einer je größeren Unähnlichkeit transzendiert wird.

Es bleibt die Frage, wie sich Menschlichkeit darstellt, wenn sie nicht von der Schattenseite aus beleuchtet wird, sondern von der hellen Seite her, die durch Güte und Mitleid, durch Glück und Segen angestrahlt wird. Das eine darf nicht verdrängt, das andere nicht verdächtigt werden.

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Dalferth, Ingo U.

SündeDie Entdeckung der Menschlichkeit

Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2020, 422 S., 32 €

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