Der "Schöpfer" des WeltgeistesDer Welterklärer

Eine Literaturumschau zum 250. Geburtstag des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel.

Den Trauerrednern schienen irdische Vergleiche zu kümmerlich. So griffen sie bei der Würdigung des Philosophen, der am 14. November 1831 vermutlich an der in Berlin grassierenden Cholera gestorben war, zu messianischen Zuschreibungen: „Unserem Erlöser ähnlich,…in dessen göttlicher Lehre er das tiefste Wesen des menschlichen Geistes wiedererkannte,…ist auch er nun in seine wahre Heimat zurückgegangen“, so der protestantische Theologe Philipp Konrad Marheineke. Und der Historiker Friedrich Förster war sich sicher, dass Hegels „Reich des Gedankens“ von nun an kein Ende mehr nehmen würde.

Der so über alle Maßen Geehrte hätte vermutlich nicht gelacht oder lauthals protestiert. Sein denkerisches „System“ zielte auf die gesamte Wirklichkeit, wie groß und wie klein auch immer die einzelnen Splitter ausfielen. Als Vertreter des „Idealismus“ wollte er aufweisen, dass alles, was ist, letztlich zu einem vernünftigen Ganzen gehörte. „Das Wahre ist das Ganze“, stellte er in der „Phänomenologie des Geistes“ (1807) kernig fest. Und wie ratlos, empört oder fasziniert sich ein Hegel-Leser zu einem solchen Wort positionieren mag, so ahnt er stets, dass es dem Philosophen um das Wunder der Erkenntnis geht, um das vorwärtsdrängende Wissen und um ein Bewusstsein, das die Welt – und sich selbst! – liest und begreift und korrigiert. „Nur keine Furcht!“, scheint Hegel, dem die Furcht vor dem Irrtum der größte Irrtum war, der Welt zurufen zu wollen.

Freiheit als Ende der Geschichte

Wer sich diesem kühnen und als notorisch „schwierig“ verschrienen Deuter des „Weltgeistes“ nähern möchte, der erhält jetzt etliche Angebote. Anlässlich seines 250. Geburtstags – Hegel wurde am 27. August 1770 in Stuttgart geboren – sind gleich drei Biographien und eine Reihe von Einführungen in sein Werk erschienen. Die Biographien gründen in unterschiedlichen Konzepten, bescheren dem Leser aber jeweils das nötige Hegel-Rüstzeug und zugleich viele glückliche Leseerlebnisse. Das gilt speziell für Jürgen Kaube, einem der FAZ-Herausgeber, der zum wiederholten Male einen nahrhaften Bildungskrimi vorlegt. Seine Ausgangsfrage: Wenn Hegel einem Zeitalter angehörte, das die Expansion und die Nützlichkeit in den Vordergrund rückte, wie ist dann seine Hinwendung zur idealistischen Philosophie zu erklären? Die Antwort lautet, dass den Idealisten die Tatsache nicht loslässt, dass die Welt „denkförmig“ ist, dass unser Weltzugang von unserem „Ich“ konstruiert und zusammengehalten wird. „Die Art unseres Wahrnehmens, Denkens und Reflektierens zu verstehen heißt, die Welt in ihrer Gesamtheit zu begreifen – das ist die Prämisse des Idealismus.“

Wer Kaube folgt, dem wird es ob solcher Töne nicht bange, denn der Journalist sucht und findet fortlaufend Beispiele, die die Gedankenflüge erden. Dafür steht bereits das Bild einer „Montgolfière“ auf dem Cover, eines Heißluftballons also, den als Erste die Montgolfier-Brüder am 4. Juni 1783 haben aufsteigen lassen: „Das war Idealismus: Sich durch fast nichts und einen Gedanken – hier, dass erhitzte Luft Auftrieb erzeugt – in eine Höhe zu erheben, die es erlaubte, die Erde aus einer nie gekannten Perspektive zu betrachten, ohne dass dabei unmittelbar kommerzielle, politische oder religiöse Motive im Spiel waren.“

Der Weg, den Kaube beschreitet, umfasst Biographisches, Denkerisches, Zeitgeistiges. „Hegel geht zur Schule“ kann es dann genauso heißen wie „Ein Quantum Sinn: das schwierigste Buch der Welt“ oder „Beweisaufnahme. Rede des lebendigen Philosophen vom Katheder herab, dass Gott sei“. An manchen Stellen braucht der Leser tatsächlich ein gehöriges Maß an Beharrlichkeit. Umso schöner dann die Genugtuung, etwas Schwieriges verstanden zu haben, umso sympathischer eine Erkenntnis wie die, dass die beliebte Etikettierung Hegels als „Reaktionär“ vielen Fakten nicht standhält. So pflegte der Philosoph am 14. Juli seine Freunde zu einem Glas Champagner einzuladen. Der Toast galt diesem Tag des Jahres 1789, der Französischen Revolution.

Klaus Vieweg, Professor für klassische deutsche Philosophie in Jena, legt eine höchst detaillierte, „vollständige“ Biographie vor. Die vielen hundert Seiten könnten überraschen, wenn man bedenkt, dass Hegel kein spektakuläres Leben führte. Doch war der schwäbische Weltdenker alles andere als ein Überflieger, eine Maulwurf-Existenz eher, und der Weg zu bedeutenden Lehrstühlen und dem folgenden Ruhm war lang. So stellt Vieweg nicht nur Hegels Hauptwerke wie „Die Phänomenologie des Geistes“ oder „Die Wissenschaft der Logik“ gründlich vor. Er spinnt auch einen lebensgeschichtlichen Faden, der bei Hegels Lehr- und Studienjahren in Stuttgart und Tübingen ansetzt, seine Stationen als Hauslehrer in Bern und Frankfurt, als Privatdozent in Jena, als Zeitungsredakteur in Bamberg und Schulrektor in Nürnberg vorstellt, um schließlich in den Professuren in Heidelberg und Berlin zu gipfeln.

Dabei kommt es zu keiner Faktenhuberei. „Hegels Aufstieg zur Weltgeltung“ wird so präzise wie farbig geschildert. Als der Philosoph 1818, mit fast fünfzig Jahren, an die Berliner Humboldt-Universität berufen wird, hat er seine wichtigsten Gedanken längst entwickelt, seine Hauptwerke veröffentlicht – und bleibt doch ein Geistesakrobat, dem man beim Verfertigen von Gedanken zuschauen kann. „Er dachte seinen Zuhörern etwas vor“, so die Überschrift eines „Berlin“-Kapitels, das ausführt, weshalb Hegel, dessen miserable Rhetorik und schwäbische Aussprache berüchtigt waren, es gleichwohl schaffte, eine große, international und prominent besetzte Zuhörerschaft in seinen Bann zu ziehen.

Und auch Viewegs durchaus provozierende These von Hegel als dem Philosophen der Freiheit lohnt jede gedankliche Anstrengung. Der Begriff „Ende der Geschichte“, der in den neunziger Jahren, nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, die Feuilletons aufwühlte, spielt in Hegels geschichtsphilosophischen Betrachtungen eine prominente Rolle. Dieses „Ende“ wird von der Ausbreitung der Freiheit gefördert, die Hegel in noch so verwirrenden und blutigen historischen Momenten zu entdecken glaubte. Für die Neuzeit sah er vor allem in der lutherischen Reformation und der Französischen Revolution wirkmächtige Freiheitszugewinne. Solche Entwicklungen verblieben für ihn nicht nur im Äußeren, sie bedeuten zugleich ein Fortschreiten des Geistes zu sich selbst. So ist das „Ende der Geschichte“ keinesfalls mit dem Abschluss des menschlichen Geschehens oder dem Zustand der Perfektion zu verwechseln. „Es bleibt den Menschen ‚nur‘ die Erkenntnis und die weltumspannende Realisation des Gedankens Freiheit als des wahrhaften Prinzips menschlicher Gemeinschaft“, so Vieweg. Und: „Das Ende der Geschichte bedeutet, die Bestimmungen von Freiheit immer wieder neu zu fassen und neue Formen ihrer Konstitution auf dem Schauplatz der Welt zu finden.“

Das Ewige – im Hier und Jetzt

Sebastian Ostritsch, Jahrgang 1983, der am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart lehrt und forscht, legt einen vergleichsweise schmalen Band vor mit einem Schwerpunkt auf Hegels Denkwegen. Und da Ostritsch es versteht, gerade die Gretchenfragen der Hegel-Forschung zu pointieren, bietet die Lektüre ein hervorragendes Verhältnis zwischen Lesezeit und Erkenntnis. Bestechend sind nicht zuletzt die Seitenblicke: scheinbar selbstverständliche wie die auf Kant und Spinoza, von denen sich Hegel jeweils abzusetzen suchte, oder auch spielerische wie die auf Hegels „philosophische Schwabismen, die Gegensätzliches als Einheit präsentieren“.

Wer wissen will, wie Hegels „Christentum“ zu verstehen ist, bekommt in einem Kapitel von gerade neun Seiten genug Stoff zum Nachdenken. Mag Hegel auch im Christentum die „absolute Religion“ erkannt haben, so wäre es laut Ostritsch naiv, dem Philosophen ein orthodoxes Verständnis des christlichen Glaubens zu unterstellen. In Hegels „System“ hat die Menschwerdung Gottes genauso einen Platz wie sein Tod und seine Auferstehung, ja auch die Trinität. Aber alle diese Begriffe sind durch und durch philosophisch, nicht biblisch gemeint. „Nur im Hier und Jetzt“, referiert Ostritsch Hegels Sicht, „kann das ewige Leben genossen werden. Es wartet auf jeden, der begreift, dass nicht seine zeitlich-endliche Natur, sondern der allgemeine Geist, der jeden einzelnen übersteigt und überlebt, das Wesentliche ist.“ Von hier aus war der Weg zur Religionskritik Ludwig Feuerbachs oder auch zu der Interpretation durch Karl Marx, der nach einem berühmten Wort von Friedrich Engels die Hegelsche Philosophie „vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt“ hat, nicht mehr weit.

Fortschritt ohne Vorsehung

Von den kürzeren Einführungen in Hegels Denken kann die des Münchner Philosophieprofessors Günter Zöller als klassisch und gediegen angesehen werden, die des Publizisten Dietmar Dath als eigensinnig und inspirierend. Beide Autoren legen Wert darauf, die politische Dimension in Hegels Werk herauszustellen, denn es sind die politischen und sozialen Umbrüche – die es in Hegels Zeit reichlich gab, und wie es sie auch in unserer Zeit reichlich gibt! –, die den Kraftstoff für jenes Denken liefern, das man als „dialektisch“ bezeichnet. Ein Denken, das wach ist für die Widersprüche und zugleich für die Früchte, die sich aus den Widersprüchen ergeben. „In Hegels makroskopischer Perspektive“, resümiert Zöller, „wird aus den Ruinen und dem Gemetzel, das die Weltgeschichte darbietet (‚Trümmermasse‘, ‚Schlachtbank‘), eine Meistererzählung von Vernunft und Fortschritt, die ohne göttliche Fügung (‚Vorsehung‘) auskommt und deren Beurteilung und Bewertung Hegel in die Geschichte selbst verlegt: ‚Die Weltgeschichte ist das Weltgericht‘.“ Das ist eine knallharte Sicht, die auf den ersten Blick alles andere als „idealistisch“ anmutet. Ohne Zweifel aber ist das zugleich eine „Gesamtschau“, mit der sich eine Auseinandersetzung lohnt.

Dietmar Dath, der sich als „dialektischer Materialist“ versteht, geizt nicht mit seinem Wissen in Philosophie, Mathematik, Logik. Das macht seine „100 Seiten Hegel“ nicht gerade einfach zu lesen, doch würde Dath kontern, dass es nicht um Simples geht, sondern um Denkarbeit und um ein Weiterdenken. „Hegel funktioniert anders. Wer ihn nicht weiterdenkt, versteht ihn nicht. Sein historisches Bild vom Geist beruhigt sich bei keinem unangreifbaren Anfang und keinem garantierten Schluss, er ist die Spannung zwischen beiden.“ Und so kann sich der Leser im Umfeld des 250. Geburtstages Hegels auf sehr unterschiedliche Weisen einem Denker nähern, der Antworten formulierte und doch wusste, dass der Geist ein Wühler ist und seine Bewegung nicht endet. Oder wie es Dath so schön wie melancholisch formuliert: „Manchmal, gerade bei besonders guten Fragen, kommt keine Antwort heraus, sondern, wenn man sich die Frage genau anschaut, nur, aber immerhin, eine bessere Frage.“

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