Der Vater und die Versuchung

Wer hätte gedacht, dass das Vaterunser solche Schlagzeilen produziert? Vor einigen Monaten wurde vielerorts heftig über das Gebet diskutiert, das Jesus seine Jünger zu beten gelehrt hat. In der Kritik stand die traditionelle Übersetzung der sechsten Vaterunser-Bitte: „Und führe uns nicht in Versuchung.“ Viele bis hin zu Papst Franziskus meinten, das könne man so nicht (mehr) sagen. Denn wie sollte uns Gott, den Jesus als liebenden Vater verkündet hat, in Versuchung führen? Auch die Mehrheit der Leserinnen und Leser, die an der großen Umfrage des CHRIST IN DER GEGENWART teilnahmen, vertrat diese Ansicht. Zu einer einheitlichen Entscheidung führte die Diskussion freilich nicht: In Spanien, Portugal, Italien, Frankreich, England wird aus seelsorglichen Gründen künftig eine eingängigere Form gebetet (etwa: „Lass uns nicht in Versuchung geraten“). Im deutschen Sprachraum belassen die Bischöfe alles beim Alten.

Dieses Buch führt mitten hinein in die Debatte um die Versuchungsbitte. Es soll „der Kontroverse dienen, indem es ihr Tiefgang gibt“, schreibt der Herausgeber, der Bochumer Neutestamentler und regelmäßige CIG-Autor Thomas Söding. Versammelt sind elf Beiträge von Autorinnen und Autoren verschiedener theologischer Disziplinen, von alt- und neutestamentlichen Exegeten bis hin zu Dogmatikern und einem Fundamentaltheologen. Die Verfasser stammen aus Deutschland, sind überwiegend katholisch – ökumenisch ausgerichtet –, auch zwei evangelische Autoren sind vertreten.

Wörtlich, sprachlich formal ist die bisherige Übersetzung der sechsten Vaterunser-Bitte korrekt. Da sind sich die Autoren einig. Unterschiedlich beurteilen sie aber die Frage, ob heutige Beter die Bitte anders formulieren müssten, um ihren Sinn nicht zu verfehlen. Die Tübinger Theologin Johanna Rahner etwa äußert in ihrem Beitrag durchaus Sympathien für eine Änderung. Die überragende Gewissheit, dass Gott die Liebe ist, sollte stärker zum Ausdruck kommen, findet sie. Die meisten anderen Autoren sprechen sich jedoch dafür aus, die traditionelle Fassung beizubehalten – eben weil sie die „bleibenden Ambivalenzen“ des biblischen Gottesbildes (so der Alttestamentler Christian Frevel) ernstnimmt – und zum Aushalten aufruft.

Besonders wertvoll ist dieser kompakte Band auch deshalb, weil er immer wieder über die aktuelle Diskussion hinaus ins Grundsätzliche weist. Das ist kein Buch nur für Experten oder Spezialisten. Insbesondere die Beiträge des Freiburger Fundamentaltheologen Magnus Striet und der Erfurter Dogmatikerin Julia Knop geben ganz allgemein Impulse, um über Gott und das Beten nachzudenken.

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