Theologinnen fragen nach Macht und Ermächtigung in der KircheAggiornamento in Zeiten der Krise

Hinter der gegenwärtigen Kirchenkrise steht der Konflikt zwischen kirchlicher Tradition und moderner Gesellschaft. Von diesem sind Frauen besonders betroffen: Grundlegende Strukturfragen wie etwa die Frage nach Partizipation und Mitbestimmung spitzen sich hier noch zu. Vor diesem Hintergrund widmet sich „Agenda – Forum katholischer Theologinnen“ den Herausforderungen eines „Aggiornamentos“ für die heutige Zeit.

Nach den heftigen Erschütterungen der katholischen Kirche im letzten Jahr, ausgelöst durch Geschehnisse, die häufig unter dem Stichwort „Missbrauchsskandal“ eingeordnet werden, scheinen manche in der Kirche wieder zu „business as usual“ übergehen zu wollen: neue Leitlinien zum Thema „sexueller Missbrauch“ verfasst, sich öffentlich entschuldigt und Reue gezeigt, eine (teilweise sehr zögerliche) Bereitschaft zu finanzieller Entschädigung erklärt, und das soll es dann auch gewesen sein. Doch die Krise, in der sich die Kirche gegenwärtig befindet, geht tiefer. Letztlich spiegelt sich in den Ereignissen des Jahres 2010 ein zentraler Konflikt, den jede Katholikin, jeder Katholik, die in Demokratien leben, je mehr zu zerreißen droht, desto mehr er in der Kirche verschwiegen, tabuisiert wird: „Bürgerin und Bürger zweier Welten“ zu sein, das heißt zum einen Angehörige einer hierarchisch verfassten Kirche, zum anderen aber Bürger einer modernen, pluralistischen Zivilgesellschaft und eines demokratischen Gemeinwesens.

Angesichts dieses Konflikts scheint es kaum mehr möglich, beides zu sein: engagierte, modern gesinnte Demokratin und ebenso engagierte Katholikin. Man kann diesen Konflikt unterschiedlich zu bewältigen suchen: Die einen entscheiden sich für die kirchliche Tradition und gegen die Prinzipien der Moderne, die dann häufig als Verfallsgeschichte, als Herrschaft von Willkürfreiheit und Relativismus gedeutet wird, gegen die die Kirche ein „Bollwerk“ der Wahrheit bildet. Wer sich so positioniert, wird in der Kirche Heimat finden, nicht aber in der Gesellschaft, in der er lebt.

Andere kehren der Kirche frustriert, müde und erschöpft den Rücken und suchen eine neue religiöse Heimat, ein anderes „Gottesvolk“. Wer sich so entscheidet, ist zwar zunächst kirchlich heimatlos geworden, befindet sich in religiöser Hinsicht „in der Fremde“, nicht aber in der modernen Gesellschaft, deren Prinzipien er anerkennt und lebt.

Wieder andere suchen die Zerreißprobe weiter auszuhalten, hoffen immer noch auf die Modernisierung ihrer Kirche und setzen sich für strukturelle wie positionelle Veränderungen ein. Die Kirche ist ihnen Heimat und Fremde zugleich – Heimat als Kirche Jesu Christi, fremd als eine Institution, die sich fast 50 Jahre nach Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils immer noch dagegen sperrt, den damals begonnenen Weg der Öffnung hin zur modernen Welt beherzt weiter zu gehen. Ihre Vision ist eine Kirche der Freiheit als Zeichen der Freiheit Gottes und der Menschen. Gerade mit Blick auf die gegenwärtige Krise der Kirche ist eigentlich die Zeit für eine neue große Reformbewegung in der Kirche gekommen und damit die Stunde für diejenigen, die trotz aller resignativen Momente nicht gegangen, sondern geblieben sind.

Es mehren sich zudem die Zeichen, dass man nach Überstehen der gröbsten Erschütterungen nicht wieder zur gewohnten kirchlichen Tagesordnung übergehen kann und will: das Schuldbekenntnis, dass der Osnabrücker Bischof Franz Josef Bode in einem Bußgottesdienst am ersten Adventssonntag des letzten Jahres abgelegt hat, die Einladung zu Dialog und Diskussion über notwendige Veränderungen in der Kirche, die der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, in seinem Eröffnungsreferat zur Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz ausgesprochen hat, das erste Gespräch zwischen Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), das von beiden Seiten als wichtiger Schritt gewürdigt wurde. Dies sind deutliche Signale für diejenigen, die sich in und für die Kirche engagieren wollen im Bestreben, das „Aggiornamento“ des Konzils unter den heutigen „Zeichen der Zeit“ fortzuführen und so dazu beizutragen, die immer größer werdende Kluft zwischen dem „Volk Gottes“ und der modernen Gesellschaft zu schließen.

„Empowerment“ des Volkes Gottes

Betrachtet man den skizzierten Konflikt vor dem Hintergrund der jüngsten Kirchenkrise genauer, fällt auf, dass die Frage der Macht eine entscheidende Rolle spielt, wobei „Macht“ hier mehr meint als Funktionsmacht und Leitungs- sowie Entscheidungsgewalt. Selbstverständlich geht es auch darum, wer das Recht hat, solche Leitungs- und Entscheidungsgewalt auszuüben und wer nicht, also um Funktionsmacht. Wer etwa mehr Mitbestimmungsrechte für Laien einfordert, stellt in diesem Sinne die „Machtfrage“ auch in dem Wissen darum, dass unbeschadet des Verständnisses des Amtes als Dienst mit dem Amt wesentlich auch Funktionsmacht verbunden ist. Solche Funktionsmacht ist per se alles andere als illegitim, im Gegenteil ist sie notwendig für alle Handlungsträgerinnen und -träger in Organisationen und Institutionen. Wer keine Macht besitzt, kann nicht gestaltend, auch nicht verändernd wirken, und Organisationen wie Institutionen ohne Machtinstanzen sind letztlich handlungsunfähig. Entscheidend ist allerdings zum einen die Art und Weise der Legitimation sowie zum anderen die Art und Weise der Ausübung von Funktionsmacht. Macht schlägt in Herrschaft um, wenn Macht missbraucht wird, und wenn Funktionsmacht sich verselbständigt. Dies geschieht immer dann, wenn das Prinzip der Achtung und Anerkennung der anderen Person als freies Subjekt missachtet wird.

Doch auch diejenigen, die mit Blick auf die Funktionsmacht vermeintlich ohnmächtig sind, weil sie keine Machtpositionen innehaben, verfügen über Macht: die Macht persönlicher Autorität etwa oder eines ganz eigenen Vermögens. Diese Macht ist nicht an Funktionen oder Rollen gebunden, wenn auch bestimmte Funktionen auf diese Art von Macht angewiesen sind. Sie hat vielmehr mit je eigenem Können, einer Kraft zu tun, die sich auf ganz unterschiedliche Bereiche erstrecken kann. Die Charismen, von denen Paulus gesprochen hat, speisen sich aus diesem Können. Und so vielfältig die Charismen sind, so vielfältig die Macht, mit der sie einhergehen. Letztlich geht diese Macht auf ein grundsätzliches Können zurück, das wir Freiheit nennen. Denn Freiheit bedeutet nicht allein „Freiheit wovon“, also Autonomie und Emanzipation, sondern vor allem auch eine „Freiheit wozu“, eine Befähigung zu denken, zu wollen, zu fühlen, zu handeln. Den Menschen als freie Person zu verstehen heißt somit auch, ihn als in diesem Sinne „mächtige“ Person zu verstehen.

Christinnen und Christen sind davon überzeugt, dass ihre Macht, ihre Freiheit, letztlich auf eine Ermächtigung zurückgeht, die sie sich selbst nicht geben können: auf die Ermächtigung zur Freiheit durch die Kraft Gottes, die in der Gabe des Geistes zum Ausdruck kommt. Auch diese Macht kann in Herrschaft umschlagen, nämlich dann, wenn eine Person ihre Autorität dazu missbraucht, um ohne Rücksicht auf das Wohl anderer Eigeninteressen durchzusetzen, um andere Menschen dem eigenen Willen zu unterwerfen und ihnen Gewalt anzutun. Auch hier wird die Anerkennung der anderen Person missachtet; die Beziehung zur anderen Person schlägt in ein asymmetrisches Verhältnis von Herrschaft und Unterwerfung beziehungsweise Gehorsam um.

Das Beispiel „sexueller Missbrauch“ zeigt im Übrigen auf sehr eindrückliche Weise, wie Macht in Herrschaft umschlagen kann in der sexuellen Unterwerfung und Demütigung anderer Personen, die nicht als Zweck an sich selbst, sondern als Mittel betrachtet werden: Als Mittel nicht etwa nur der Befriedigung des eigenen sexuellen Begehrens, sondern der Bestätigung der eigenen Macht und der Befriedigung des eigenen Machtstrebens. Sexuelle Gewalt hat nur wenig mit Sexualität, aber viel mit Machtmissbrauch, mit Herrschaft und Gewalt, dem Willen zur Macht als Wille zur Unterwerfung zu tun, der sich gegen die leibliche Integrität des Anderen richtet.

Vom Konflikt zwischen kirchlicher Tradition und moderner Gesellschaft besonders betroffen

Doch gerade die Macht, über die alle verfügen, die zur Freiheit ermächtigt sind, und die in vielfältigen Charismen und Talenten sich manifestiert, kann auch dazu dienen, dass die vermeintlich Ohnmächtigen Gegenmacht gegen Formen der Herrschaftsausübung entwickeln. Was aber, wenn diejenigen, die grundsätzlich über Macht verfügen, weil sie frei sind, sich ihrer Freiheit, damit auch ihrer Würde und ihrer Macht, somit auch ihrer Vermögen, Charismen, erinnern? Wenn sich die vermeintlich Ohnmächtigen daran erinnern, in und durch den Geist Gottes ermächtigt und begabt als Gemeinschaft der Glaubenden „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ zu sein?

Von dem skizzierten Konflikt sind nun insbesondere Frauen betroffen: Wenn sie beides sein wollen – Katholikin und engagierte Bürgerin einer demokratisch verfassten Gesellschaft – werden sie mit der Kluft zwischen Tradition und Moderne in besonderem Maße konfrontiert: Mittlerweile haben sich Frauen zumindest in unserem kulturellen Kontext weitreichende Rechte erkämpft, auch wenn Geschlechtergerechtigkeit immer noch nicht in vollen Umfang verwirklicht ist, was etwa das Problem der ungleichen Bezahlung gleicher Arbeit oder der vergleichsweise immer noch geringen Zahl von Frauen in Leitungspositionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung zeigt, ebenso das immer noch ungelöste Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder das Feld der sexuellen Gewalt gegen Frauen und Mädchen.

In der Kirche dagegen sieht die Situation von Frauen bekanntlich anders aus. Grundlegende Strukturfragen wie etwa die Frage nach Partizipation und Mitbestimmung, der Ausübung und der Funktion des Amtes etc. spitzen sich mit Blick auf die Position der Frauen noch zu, und damit ist mehr gemeint als die altbekannte Diskussion um die Zulassung der Frauen zum Amt. Aber auch von anderen Konflikten zwischen kirchlicher Tradition und moderner Gesellschaft sind Frauen in besonderem Maße betroffen, etwa wenn es um die Lebensentwürfe und Lebensformen geht, die nicht mehr dem tradierten Leitbild der Ehefrau und Mutter entsprechen, um eine Lebensführung jenseits überlieferter Rollenmuster und Geschlechternormen, die in einer plural und liberal gewordenen Gesellschaft möglich geworden ist. Doch gerade angesichts dieser Konflikte sind die vermeintlich ohnmächtigen Katholikinnen dazu aufgerufen, die eigene Macht, die je eigenen Vermögen und Charismen zu entdecken, zu denen Gott sie ermächtigt hat, und so für eine moderne Kirche als Teil wie Korrektiv einer modernen Gesellschaft zu streiten.

Lebendige Erinnerung an das Zweite Vatikanum

Der heute anstehende und von Bischofskonferenz, ZdK, Verbänden und anderen eingeforderte Dialog- und Reformprozess erfordert ein „Aggiornamento“ der wegweisenden Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils heute. Die Krise der Kirche ist in der Tiefe eine Anfrage an ihre Glaubwürdigkeit als Trägerin der Evangelisierung und damit eine Anfrage, die den Kern des Glaubens trifft, eine Krise des Christlichen. Gerade darum tut lebendige Erinnerung an die Quellen des Glaubens und die Einbrüche des Geistes in die Geschichte der Kirche Not, Erinnerung an die Momente, in denen Wege in die Zukunft gebahnt worden sind.

Das Zweite Vatikanum hat die entscheidenden Brücken für den Dialog der Kirche mit der Moderne gebaut, hat die „Zeichen der Zeit“ benannt, anhand deren Analyse Kirche ihre institutionelle Gestalt in der Moderne auf neue Weise zu bestimmen hat. Die Ermächtigung dazu ist die Kraft des Geistes Jesu Christi, aus der heraus Kirche je neu in ihr Wesen zu finden hat, aus der heraus sie „immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“ zu gehen hat (so die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ 8).

 „Agenda – Forum katholischer Theologinnen“ wird auf dem 10. Hohenheimer-Theologinnentreffen, das vom 13. bis 15. Mai 2011 zum Thema „Aggiornamento heute. Diversität als Horizont einer Theologie der Welt“ veranstaltet wird, an diese Wege erinnern, vor allem aber in (selbst-)kritischer Einschätzung den kritischen Moment der Gegenwart reflektieren. Wo sind die prophetischen Stimmen der Konzilszeit heute? Wo die Foren, auf denen sie sich äußern können?

Das erste Hohenheimer-Theologinnentreffen wurde im Jahr 1993 als Zusammenkunft wissenschaftlicher Theologinnen in Stuttgart-Hohenheim veranstaltet, als Kooperationsveranstaltung des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB) und seiner erst kurz zuvor wieder gegründeten Theologischen Kommission mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Als Forum für wissenschaftlich arbeitende Theologinnen, aber auch Theologinnen an unterschiedlichen Praxisorten in Kirche, Gesellschaft, Kultur, politischen Parteien und anderswo will „Agenda“ Orte gemeinsamer theologischer Suche, der Begegnung und Ermutigung zu hoffnungsvollen Deutungen von Welt und Geschichte im Geist des Evangeliums Jesu Christi bieten und dabei an die „Macht“ und „Kraft“ von Frauen in der Geschichte der Kirche erinnern, je neu das Evangelium zeitgemäß zu erschließen und so einen Deutungshorizont für die Gegenwart als Zeit Gottes und Zeit der Menschen zu öffnen (vgl. Margit Eckholt und  Marianne Heimbach-Steins, Im Aufbruch – Frauen erforschen die Zukunft der Theologie, Stuttgart 2003, 12 f.).

Neben der Vernetzung zum wissenschaftlichen Austausch sieht „Agenda“ sich als Forum, katholischen Theologinnen in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben, ihre Interessen in Kirche und Gesellschaft zu vertreten, in kritischer Solidarität mit der Kirche, aber auch in der Haltung des Freimutes des Evangeliums (vgl. HK, Januar 2001, 38 ff., und HK, April 2004, 181 ff.). Was „Agenda“ sich als Leitmotiv aufgegeben hat, wird im gegenwärtigen Moment der Krise der Kirche in ganz entscheidender Weise auf den Prüfstand gestellt: als Verantwortung, an den in das Wesen der Kirche eingetragenen Auftrag zu erinnern, das Evangelium Gottes zu verkünden, zum sichtbaren Zeichen der Liebe des Mensch gewordenen Gottes, seiner die Welt verwandelnden, erlösenden, befreienden Macht zu werden.

Auf dem 10. Hohenheimer-Theologinnentreffen sollen die Stimmen der Frauen hörbar werden, die noch um die Prophetie der Nachkonzilszeit wissen, die schwanken zwischen Mutlosigkeit und Verärgerung, und die Stimmen der jüngeren Frauen, die in aller Selbstverständlichkeit ihren Weg als Frauen in Gesellschaft und Kultur gehen und ein modernes Frauenbild sichtbar machen, in ihrer je persönlichen, auch ganz vielfältigen Definition von Karriere und privater Biographie, und die verständnislos auf das Ringen um die „Frauenfrage“ in der katholischen Kirche schauen.

Die Erinnerung an das Aggiornamento des Konzils verlangt ein Aggiornamento heute

Die Erinnerung an das Aggiornamento des Konzils verlangt ein „Aggiornamento heute“. Das heißt, die Aufbrüche des Konzils sollen angesichts der mit der Globalisierung übereingehenden vielfältigen „Sollbruchstellen“ – der weiterhin immensen Schere zwischen Arm und Reich, zunehmender Gewaltbereitschaft junger Menschen durch soziale Ausgrenzung, der Zunahme religiöser Fundamentalismen und religiöser Konflikte – im Horizont der aktuellen wissenschaftstheoretischen Perspektive der „Diversität“ in den Blick genommen werden.

Angeknüpft wird an die Weiterentwicklungen des Gender-Diskurses der vergangenen Jahrzehnte und an die Debatten um den Feminismus, die gerade von Frauen aus dem Süden, anderer Kulturen, auch anderer ethnischer Herkunft geführt worden sind: ob nicht das feministische Anliegen die vielen Stimmen unter den Frauen zu wenig ernst nehme, ob in den Gender-Debatten die feministisch-befreiungstheologischen Impulse und auch die Kritik an Strukturen zu wenig berücksichtigt worden ist (vgl. HK, April 2009, 135 ff., und Saskia Wendel, „Neuer Wein in neue Schläuche“. Von der Feministischen Theologie zu einer genderbewussten Rede von Gott, in: Feminisms Revisited. Freiburger Geschlechter Studien. Ausgabe 24/2010. BudrichUniPress 2010, 129–144).

Die Frauenfrage kann nicht losgelöst von den anderen Zeichen der Zeit wie Armut und Migration, der Bedrohung der Umwelt, dem Dialog der Kulturen und Religionen behandelt werden; unter dem Zeichen der „Diversität“ ist sie hinsichtlich der Verhältnisbestimmung ganz unterschiedlicher Differenzen und Widersprüche zu erschließen.

Das Zweite Vatikanum hat in seiner neuen Ortsbestimmung der Kirche in der Moderne den Horizont für eine solche Diversität erschlossen. Sie gründet in der neuen Würde und radikalen Anerkennung aller Menschen – unabhängig von Geschlecht, sozialer Stellung, ethnischer Zugehörigkeit usw. –, die sich im Ereignis von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi ereignet hat (vgl. Gal 3,28). Der Aufbau der Gesellschaft und sicher in gleicher Weise auch der Aufbau der Kirche ist nur durch die Partizipation aller, unter Anerkennung ihrer Vielfalt, möglich. Christen und Christinnen sollen zum „Sauerteig“ dieser einen Welt werden, sie sind nicht Bürger und Bürgerinnen zweier Welten.

Der schwierige Rezeptionsprozess des Zweiten Vatikanums zeugt von der Radikalität der Herausforderungen, die im Kern christlicher Botschaft und in der Anerkennung der neuen „Zeichen der Zeit“ angelegt ist. Diversität ernst nehmen, das heißt, dass die Gültigkeit von Perspektiven, Normen und Regeln und damit ein öffentlicher Grundkonsens immer wieder neu ausgehandelt werden muss, und das sowohl in der Gesellschaft als auch in einer sich als „Kirche in Welt“ verstehenden und vollziehenden Kirche. Diversität impliziert aus theologischer Perspektive aber nicht „Beliebigkeit“: Sie orientiert sich an der Wahrheit, wie sie die Anerkennung, für die das Ereignis von Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi steht, vermittelt und wie sie in das Herz der Konzilskirche eingeschrieben ist.

Eine ermächtigende und frei machende Wahrheit

Das Zweite Vatikanische Konzil hat entscheidende Weichenstellungen für eine erneuerte Ekklesiologie gegeben. In den verschiedenen Konzilsdokumenten, vor allem der Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“, werden die Grundlagen für das neue Selbstverständnis der Kirche gelegt. Von Jesus Christus her, dem „Licht der Völker“ bestimmt sie ihre Identität und Aufgabe: als Volk Gottes in Jesus Christus gleichsam Sakrament für die Einheit mit Gott und mit den Menschen zu sein (LG 1). Wenn in ihr aus erlöstem und befreitem Miteinander, in und aus Freiheit Lebensgestalten erwachsen, in denen Sinn und Wahrheit für den Menschen aufgehen, führt sie die Sendung Jesu Christi fort. Alle, die über das Sakrament der Taufe Glied der Kirche werden, haben Anteil an dieser Sendung.

Das drückt „Lumen Gentium“ darin aus, dass alle an den „Ämtern“ Jesu Christi, dem königlichen, priesterlichen und prophetischen, teilhaben; alle Getauften stehen so in der Verantwortung, das Ihre beizutragen, dass die Gemeinschaft des Volkes Gottes dem Anspruch, das Evangelium zu verkündigen und die Gemeinschaft mit Gott und untereinander wachsen zu lassen, gerecht werden kann. Für die Ekklesiologie, für die Amtstheologie, für den Blick auf Gemeinde und Pastoral sind hier ganz entscheidende theologische Weichenstellungen gegeben worden; alle Ämter sind als Dienste an dieser sakramentalen Kirche zu verstehen, dass die Kirche immer mehr hineinwächst, sich als dieses Sakrament Jesu Christi zu vollziehen.

 „Macht“ ist zunächst die Ermächtigung, die aus dieser Gemeinschaft mit Jesus Christus erwächst, aus der Wahrheit Gottes, die eine freimachende und befreiende ist, eine Wahrheit, die Vielfalt anerkennt, die in den Wegcharakter des Glaubens eingeschrieben ist und um die Bedrohtheit und Angefochtenheit aller Lebensformen des Glaubens weiß. Dies geht jeder amtstheologischen Perspektive voraus und damit jeder Macht, die über ein konkretes Amt in der Institution Kirche ausgeübt wird. Allen Gliedern des Volkes Gottes ist die priesterliche Würde, königliche Macht und prophetische Kraft eingeschrieben.

Die nachkonziliaren Ekklesiologien haben in dieser theologischen Perspektive die Kirche als „Communio“ bestimmt, einen neuen Blick auf das Amt und die Laien geworfen und neue Modelle für eine kommunikative Pastoral vorgelegt. Genau diese ekklesiologischen Impulse sind auf dem Hintergrund neuer institutionentheoretischer Ansätze und unter stärkerer Berücksichtigung der charismatischen Leitperspektive weiter zu entfalten. Neue Partizipationsformen und Mitgliedschaften in der Kirche sind auszuhandeln, die Öffentlichkeit von Kirche ist neu zu bestimmen, der Grundkonsens in der Kirche ist neu zu finden. Sicher ist dies in Zeiten der „Diversität“ nicht einfach, das Abstimmen von neuen Formen hat mit dem je neuen Austarieren von Macht zu tun, auch mit der Anerkennung von Fremdem und Befremdendem, mit der je neuen Unterscheidung der Geister und der Orientierung an der Macht der Wahrheit, die in der Ohnmacht des Kreuzes sichtbar geworden ist.

Die Krise der Gegenwart erinnert die Kirche an ihren eigentlichen Auftrag, Zeichen des Heils, der Einheit mit Gott und der Gemeinschaft unter allen Völkern, Religionen und Kulturen, von Männern und Frauen, Jungen und Alten zu sein. Wenn Kirche selbst nicht mehr diese Kirche Jesu Christi sichtbar machen kann, versündigt sie sich gegen ihr eigenes Wesen. Es tut Not, an die Umkehrbewegung zu erinnern, die das Konzil in das Herz der Kirche eingeschrieben hat (LG 8). Die Macht, die aus dieser Bewegung erwächst, ist die, die Maria von Magdala am Grab erfahren hat, als sie sich zum Herrn „umkehrte“, und aus dieser Kraft der Auferstehung erwächst der Mut, Neues zu wagen, Tradition im Sinne dieses Lebens aufzubrechen und nach neuen Formen des Miteinanders im Volk Gottes zu suchen.

Wenn Kirche demgegenüber an überkommenen Formen der Macht festhält, wird sie in der Öffentlichkeit nicht mehr plausibel machen können, wofür Kirche einsteht, und das trifft dann nicht nur die Kirche, sondern bedeutet die Krise des Christentums insgesamt. Miteinander so zu gestalten, dass authentische, neue, prophetische Stimmen aufbrechen, das ist von Bedeutung, einzuladen, mitzudenken, mitzufeiern und die Attraktivität christlichen Glaubens vorzuleben, in aller Vielfalt. Dann ist es wieder spannend, katholisch zu sein. Die Katholizität der Zukunft ist eine solche, die Vielfalt nicht nur „zulässt“, sondern die Kirche im konfessionsspezifischen Sinne aufsprengt und Einheit in der Anerkennung einer neuen Vielfalt des Christlichen und des „Katholischen“ lebt.

Margit Eckholt / Saskia Wendel

Saskia Wendel (geb. 1964) ist Professorin für Systematische Theologie am Institut für katholische Theologie der Universität zu Köln und 1. Vorsitzende von „Agenda – Forum katholischer Theologinnen“.

Margit Eckholt (geb. 1960) ist Professorin für Systematische Theologie am Institut für kathologische Theologie der Universität Osnabrück und 2. Vorsitzende von „Agenda – Forum katholischer Theologinnen“ sowie Vorsitzende der theologischen Kommission des Katholischen Deutschen Frauenbundes.

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