Grundgedanken des türkisch-amerikanischen Predigers Fethullah Gülen„Vertraue auf Gott und sei fleißig“

Wo immer türkische Eltern zuletzt in Deutschland Privatschulen gegründet haben, mussten sie sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, Teil der Gülen-Bewegung zu sein, deren genaue Ziele nicht recht deutlich seien. Was sind die Hintergründe des Bildungsengagements dieser Bewegung – und wie ist sie zu bewerten?

Einem aufmerksamen Beobachter der Debatte um Bildung und Migration wird sein Name nicht entgangen sein. Und wem er entgangen ist, den wird er bald einholen, denn kalt lässt diese Person niemanden: Die Rede ist von Fethullah Gülen, einem in den USA lebenden türkischen Prediger und Inspirator einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, die alleine in der Türkei einige Millionen Menschen umfasst.

In Deutschland ist die Bewegung, die die personalisierte Bezeichnung „Gülenbewegung“ ablehnt und sich statt dessen lieber „Hizmet-Bewegung“, also „Bewegung des freiwilligen Dienstes“ nennt, am bekanntesten durch selbstständige Schulgründungen an mittlerweile über 20 Orten, die von der Grund- über die Realschule bis hin zum Gymnasium verschiedene Schulformen umfassen. Zu schweigen von Nachhilfezentren in allen großen deutschen Städten, Dialog- und Kulturvereinen, die sich zielstrebig und kompetent lokalen und überregionalen Verantwortungsträgern als Gesprächspartner anbieten und mittlerweile drei großen Konferenzen, mit denen die Bewegung manchmal mehr repräsentativ als argumentativ in die Öffentlichkeit tritt.

Man kann zur Charakterisierung des wahrscheinlich 1938 geborenen Gülen drei Orte heranziehen, die wichtige Stationen seines Lebens und der Entwicklung seines Denkens sinnbildlich charakterisieren.

Erzurum im Nordosten der Türkei ist der Ort, an dem Gülen seinen kurzen staatlichen Bildungsgang mit der Volksschule absolvierte, der durch den Umzug des Vaters und mangels Institutionen bald sein Ende fand. Hier erhielt er auch seine traditionelle islamische Bildung, vor allem aus dem Elternhaus sowie durch vom Sufismus geprägte muslimische Gelehrte. Die Atmosphäre Erzurums vereint ein starkes Nationalbewusstsein mit einer Verankerung in der islamischen Tradition: Die so genannte „dadaş“-Identität ist eine Grenzgebietsidentität, die die Gemeinschaft über den Einzelnen und die Sicherheit über alles stellt.

Bei aller späteren Internationalität wie Eigenständigkeit des Denkens Gülens darf man nicht aus dem Blick verlieren, dass die Wertschätzung der türkischen Kultur und Nation, die Priorität eines starken Staates sowie die Verankerung im traditionellen Islam stets grundlegende Bezugspunkte bleiben. In der doppelten Verankerung in türkischer Nation und traditioneller Religion findet übrigens auch Gülens Akzeptanz in traditionell geprägten Schichten ihre Grundlage.

Wer ist Fethullah Gülen?

Eine wichtige Zeit seines Lebens verbringt Gülen jedoch am geographisch wie auch politisch entgegengesetzten Ort der Türkei: Ab 1966 ist er Prediger und Religionsbeamter im westtürkischen, stark säkular, ja kemalistisch geprägten und dem Westen gegenüber offenen Izmir. Dort tritt er mit seinem Denken in die Öffentlichkeit und gewinnt zunehmend Anhänger. Zwar zieht sich Gülen seit dem Beginn der siebziger Jahre (und definitiv 1981) aus der staatlich organisierten religiösen Lehrtätigkeit zurück, dies aber nur, um im Laufe der achtziger Jahre eine wachsende öffentliche Wirksamkeit in Vorträgen und schriftstellerischem Wirken zu entfalten.

Vor allem wird das Thema Bildung in dieser Zeit zum Hauptinteresse Gülens: Seine Predigten motivieren fromme Muslime, die erfolgreiche Teilnahme am säkularen Bildungssystem als zentrale islamische Pflicht zu verstehen. Und die Predigten bleiben keine Theorie: Die Studentenunterkünfte, gefolgt von den Vorbereitungskursen auf das Universitätsexamen und schließlich die ersten privaten Schulen setzen die Idee auch institutionell um.

Für die wachsende türkeiweite Wirksamkeit Gülens und die Entwicklung seines Denkens ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass sie mit der Amtszeit Turgut Özals, zunächst als Ministerpräsident, später als Staatspräsident, zusammenfallen. Die Akzeptanz freier Marktwirtschaft, die Privatisierung und Pluralisierung der Medienlandschaft und die zunehmende Öffnung der Türkei für internationale Fragestellungen eint die Perspektive der beiden Männer in der Theorie – und mit der von Özal unterstützten Ausweitung des Bildungsengagements auf die turksprachigen Nachfolgerstaaten der Sowjetunion nach 1989 auch in der Praxis.

Der letzte prägende Ort ist Pennsylvania. Zwar hatte sich Gülen deutlich von der Regierungspolitik der islamistischen „Refah Partisi“ distanziert, geriet aber dennoch nach dem „postmodernen Putsch“ vom 28. Februar 1997 zunehmend in die Kritik der kemalistischen Elite. Die Jahre 1999 und 2000 sind geprägt durch eine starke Medienkontroverse und die Eröffnung, Niederschlagung und Wiedereröffnung verschiedener Prozesse gegen den sich nach eigenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen in Pennsylvania aufhaltenden Gülen – eine Auseinandersetzung, die formell erst 2006 mit dem Freispruch endete.

Mit dem Lebensmittelpunkt USA gewann auch Gülens Denken neue Akzente: Der schon 1997 in der Türkei mit dem Besuch beim Patriarchen Bartholomaios – und dem Besuch bei Johannes Paul II. 1998 – begonnene interreligiöse Dialog, vor allem im Sinne einer öffentlichen Darstellung der Pluralität religiöser Repräsentanten und der Aufforderung zu gemeinsamen ethischen Anstrengungen, gewann zunehmend an Bedeutung. Gleichzeitig wurden die Bildungsaktivitäten international: Ostasien, USA, Afrika kamen über die Nachfolgestaaten der UdSSR hinaus hinzu – so dass es im Moment interessanter ist zu sagen, wo die Gülen Bewegung nicht aktiv ist: nämlich im Iran, Saudi-Arabien und einigen anderen arabischen Staaten.

In dieser Zeit wurde schließlich die Globalisierung zum prägenden Bezugspunkt des Gülenschens Denkens. Einerseits bejaht Gülen die Bedingungen der Globalisierung: Individualisierung, der überstaatliche Rahmen der new economy, die Focussierung auf Kommunikation und der gesellschaftliche Pluralismus werden von Gülen positiv in sein Denken integriert. Andererseits bietet Gülens Bewegung dem Einzelnen ein Modell an, das die negativen Folgen der Globalisierung zu kompensieren verspricht: Intellektuelle Sicherheit gegenüber postulierter Beliebigkeit, frei gewählte, flexible Gemeinschaft gegenüber Vereinzelung, Versöhnung der Unterschiedlichkeit gegenüber befürchteter gesellschaftlicher und religiöser Zersplitterung. So sehr also die türkische Herkunft für die Person Gülen (und eine idealisiert-vergeistigte Vorstellung des Türkentums für die gesamte Bewegung) eine Rolle spielt, so muss man auf der anderen Seite sagen, dass die Bewegung in den Bedingungen der Globalisierung ihr eigentliches und spezifisches Umfeld gefunden hat.

Positiv gewertete Neugier und Forscherdrang

Heute ist der mittlerweile gesundheitlich vom Alter und der Diabetes gezeichnete Gülen persönlich vor allem durch wöchentliche Internetbotschaften, durch eine sehr umfangreiche Publikationstätigkeit und zunehmend auch durch Symposien, Vortrags- und Dialogveranstaltungen wirksam, mit denen die von ihm inspirierte Bewegung sowohl an eigener Reputation gewinnen als auch in den letzten Jahren verstärkt Gülens Ideen in die öffentliche Diskussion stellen will.

Fethullah Gülen ist überzeugt, dass man bei der Formung und Bildung des Einzelnen ansetzen muss, um die Gesellschaft zu verändern. Durchaus in Einklang mit der islamischen Tradition betont er dabei die Rolle des Verstandes. Gülen hebt hervor, dass Religion nicht als das Gegenteil von Logik und Rationalität zur Kompensation von Erkenntnislücken herangezogen werden dürfe, sondern der Erwerb von Wissen, der Gebrauch des Verstandes und die Forschung selbstverständlich zum religiösen Leben hinzugehört. Zudem fordert Gülen, den Verstand nicht nur zur passiven Nachahmung, sondern aktiv, selbständig und analysierend zu gebrauchen.

Die Wertschätzung des Verstandes konkretisiert sich in der ausdrücklichen Anerkennung wissenschaftlicher Forschung. Die Wissenschaften sind einerseits auf einer funktionalen Ebene wichtig: Ökonomie, Technik und Sozialwissenschaften lehren, die Fähigkeiten des Einzelnen effizient einzusetzen. Andererseits wird aber auch eine nicht direkt verwertbare Grundlagenforschung geschätzt: Positiv gewertete Neugier und Forscherdrang führen dem Menschen gerade in Physik, Chemie und Biologie die Differenziertheit, Komplexität und Größe von Welt und Universum vor Augen.

Die Anerkennung der Wissenschaften verbindet sich mit einer durch den türkischen Gelehrten Said Nursi inspirierten Verhältnisbestimmung von Religion und Naturwissenschaft. Nach Gülen sollen Naturwissenschaften und Religion in einem harmonischen, nichtwidersprüchlichen und sich ergänzenden Verhältnis einander zugeordnet werden. Umgekehrt ist das Auseinanderdriften von Religion und Wissenschaft für Gülen die Wurzel aller globalen Probleme, weil sich die Menschheit zwischen einem verantwortungslosen Materialismus einerseits und einer verstandesblinden, stagnierenden und unfruchtbaren Religiosität andererseits, die entweder weltabgewandt oder fanatisch ist, zerreißt.

Ein ausgesprochen dynamisches Menschenbild

Diese angezielte Verhältnisbestimmung hat Auswirkungen für beide Seiten: Auf der Seite der Religion wird damit die Rationalität der Aussagen von Koran und Tradition betont. Auf Seiten der Naturwissenschaften wird ihre Forschung in ein unlösbares Verhältnis zur Religion gesetzt. Ein nach Gülen recht verstandenes naturwissenschaftliches Wissen respektiert die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis, entkoppelt sich nicht von der Religion und widerspricht der Offenbarung nicht.

Diese Einbindung kristallisiert sich besonders kontrovers in der Ablehnung der evolutionstheoretischen Variabilität sowie der kontinuierlichen und rekonstruierbaren Entwicklung der Arten. Die skizzierte Verhältnisbestimmung macht deutlich, dass das Fundament der angestrebten Harmonie islamisch-theologisch begründet ist und in der Annahme der natürlichen Gotteserkenntnis liegt. Der Mensch ist aufgrund seines Verstandes und seiner Beobachtungen in der Lage, die Existenz Gottes und die Welt als Schöpfung zu erkennen. Hierin liegt einerseits eine Chance der Verständigung: Da die Fähigkeit zur natürlichen Gotteserkenntnis eine dem Menschen mit der Schöpfung gegebene Eigenschaft ist, umfasst sie alle Religionen und auch philosophische Einstellungen und bildet einen gemeinsamen Boden.

Andererseits liegt hierin auch eine klare Begrenzung der argumentativen Auseinandersetzung: Da der Glaube an den einen und einzigen Schöpfer durch die islamische Religion verkörpert wird, bedeutet die Integration des Verstandes in die Religion umgekehrt, dass der Widerspruch gegen Kernaussagen der islamischen Religion – sei es von Seiten einer anderen Religion oder erst recht von Seiten des Atheismus – keine Vernünftigkeit beanspruchen kann. Man trifft hier auf die Chance, aber auch auf die Problematik der Argumentation Gülens: Gülen bietet einen breiten Boden zur Verständigung verschiedener Wissenschaftsbereiche oder Religionen an. Der Umriss dieses Bodens ist jedoch klar in der islamischen Tradition verankert. Universalität ist immer eine islamisch begründete Universalität.

So fest Gülen in der islamischen Tradition verankert ist, so charakteristisch ist seine Konzentration auf die Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Menschen: Die Mitte der traditionellen religiösen Pflichten ist das Individuum mit seinem Potenzial und in seiner Entwicklungsfähigkeit. Umgekehrt ist es als religiöse Pflicht anzusehen, seine gottgegebenen Begabungen zu entwickeln und für die Allgemeinheit einzusetzen. Gülens Denken ist also grundlegend von einem optimistischen Vertrauen in die Veränderungsfähigkeit des Menschen geprägt.

Gülen vertritt in Ausarbeitung des islamisch-mystischen, sufischen Gedanken des vollkommenen Menschen (insan-ı kâmil) ein ausgesprochen dynamisches Menschenbild: Die Würde des Geschöpfes liegt geradezu im Streben nach „mehr“. Es liegt im Wesen des Menschen, mit dem Gegebenen niemals zufrieden zu sein, sondern immer weiter zu streben. Dieses Streben ist jedoch nicht willkürlich und ziellos. Es hat eine innere und eine äußere Form. Innerlich realisiert es sich in der Praxis der steten Selbstprüfung (Muhasaba), die Gülen ebenfalls aus dem Sufismus übernimmt: Der Mensch ist gehalten, seine Taten immer wieder innerlich im Blick auf Aufrichtigkeit und Selbstlosigkeit zu überprüfen – und so die zentrale islamische Tugend der reinen Absicht (Ihlas) zu verwirklichen.

Äußerlich realisiert sich das stete Streben im Dienst, in hizmet, wie sich die Bewegung selbst nennt. Gülen betont mit hizmet die effektive nach außen gerichtete Wirksamkeit des Handelns gegenüber einer Tendenz zur reinen Verinnerlichung, die er dem traditionellen Sufismus vorwirft. Als soziales Wesen könne der Mensch nicht den aktiven Dienst am anderen zugunsten der Selbstvervollkommnung vernachlässigen.

Durch diese Verbindung von zweckrational organisierter, effektiver und moderner Tätigkeit mit den Prinzipien der islamischen Tradition entsteht die eigene Form der Spiritualität Gülens, die als „islamischer Calvinismus“ bezeichnet und von Sympathisanten der Bewegung mit Max Webers Begriff der „innerweltlichen Askese“ in Verbindung gebracht wurde: Das Verständnis der Arbeit (auch und gerade im säkularen Umfeld) als religiöse Mitte des menschlichen Lebens, die Deutung von Rationalität der Organisation und Effizienz als Pflicht des Gläubigen, die Auffassung des Wettbewerbs als religiös zu bejahende Grundsituation und der religiös motivierte Ansporn zu (auch) ökonomischem Erfolg: Mit diesen Grundannahmen verankert Gülen die Bedingungen der globalisierten freien Marktwirtschaft im Glauben selbst und deutet die islamische Pflichtenlehre in den Kontext der Moderne hinein – und zwar nicht im Sinne einer einfachen Anpassung, sondern aus der Mitte der islamischen, türkisch-sufischen Tradition heraus. Die Wirksamkeit und Attraktivität der Bewegung gerade auch für die Schicht der ökonomisch erfolgreichen traditionellen Gläubigen wird hier besonders verständlich.

Auf der Ebene des Individuums setzt Gülen also eine erhebliche Dynamik frei, die sich in innerer Selbstprüfung und äußerem Dienst realisiert. Die Klammer der inneren und äußeren Seite ist nun – wen wundert es – die Bildung: „Man muss jeden Tag, den man erlebt, als die Fortsetzung niemals abgeschlossener Bildung betrachten; die Welt aber ist ein Lehrhaus!“

Erstaunliche Abwesenheit von Religion

Das weltweite Bildungsengagement ist das Markenzeichen der Bewegung geworden, wenn es auch nicht unverbunden neben den anderen Aktivitäten steht. Charakteristisch für die von Gülen inspirierten Schulen ist eine Förderung von Fächern, die man als „Orientierungswissen in der globalisierten Welt“ bezeichnen könnte. Wert wird gelegt auf Sprachen, vor allem auch das Englische, und auf die „Leitwissenschaften“ der Gegenwart: Ökonomie, Soziologie und Naturwissenschaften. Gleichzeitig aber wird auch die künstlerische Seite gefördert, vor allem durch Literatur und Musik.

Demgegenüber hat eine direkte religiöse Bildung keinen Platz in den Lehrplänen. Keine der von Gülen inspirierten Schulen weltweit unterrichtet islamische Religion und konsequenterweise nimmt auch keine der deutschen Schulen Teil an den verschiedenen Versuchen zum islamischen Religionsunterricht. Diese im deutschen Kontext erstaunliche Abwesenheit von Religion ist wohl ein Reflex der Erfahrung mit der türkischen Situation und der daraus entspringenden Überzeugung: Ein expliziter Religionsunterricht ist in der türkischen Situation außerhalb des staatlich vorgeschriebenen islamisch orientierten religionskundlichen Unterrichts nicht möglich und in Gülens Bildungsverständnis auch nicht nötig. Denn Gülens Erfolg liegt ja gerade darin, dass er die Aneignung säkularen Wissens als individuelle islamische Pflicht deutet und so den Wunsch nach gelebtem religiösem Leben mit den Anfordernissen säkularer Bildung verbindet.

Anders als Religion ist aber die türkische Sprache präsent. Türkisch wird in den Schulen zwar nicht als Unterrichtssprache verwendet. Es wird aber oftmals als zweite Fremdsprache neben dem Englischen angeboten und durch die Organisation einer weltweiten Türkisch-Olympiade gefördert. Dahinter steht einerseits das praktische Interesse, die türkische Sprache aufzuwerten und sie zur internationalen Geschäftssprache werden zu lassen. Andererseits und tiefer ist die Förderung der türkischen Sprache in der Auffassung begründet, dass die türkische (osmanische) Kultur die ideale Vermittlerin zwischen den Kulturen und Religionen sei. So changiert im Lehrinhalt Partikulares mit Universalem, Nationales mit Globalem.

Einerseits haben die Gülen-Schulen einen ausgeprägt affirmativen Bezug zu Leistung und Wettbewerb. Sie legen Wert darauf, sich mit der Elite des Landes messen zu können, sie nehmen Teil an internationalen Wettbewerben, und die ganze Atmosphäre des Lernens ist kompetitiv ausgerichtet. Noch bedeutender und prägender ist jedoch andererseits, dass der persönliche Bezug, vor allem in der Lehrer-Schüler-Beziehung, in der Schulkonzeption eine entscheidende Rolle spielt.

Die Pädagogik der Schulen ist eine ausgeprägte Vorbildspädagogik. Der individuellen Haltung des Lehrers und der Lehrerin wird eine entscheidende Rolle zugesprochen und die Ansprüche an sie sind groß. Der Lehrer und die Lehrerin verkörpern exemplarisch die von der Bewegung geschätzten Werte und Tugenden sowie den Prozess der steten Weiterentwicklung: Selbstkontrolle und Selbstdisziplin bei gleichzeitigem Einfühlungsvermögen und Sensibilität, Überwindung von Neid, Zorn und Streit bei gleichzeitiger Stärkung von Versöhnlichkeit und Nachsicht. Auf dieser Ebene, in der Lehrer-Schüler-Beziehung, soll also die von Gülen betonte „Herzensbildung“ geschehen, nämlich als Darstellung und Übermittlung persönlich verkörperter Werthaltungen.

Eine starke innerreligiöse Motivation

Bedeutsam ist schließlich die Ebene der individuellen Motivation, vor allem der Lehrpersonen. Hier spielt die ideelle Motivation eine entscheidende Bedeutung. Ausgeprägt ist auf dieser Ebene die religiöse Dimension: Das – tatsächlich – aufopferungsvolle Engagement des Lehrens wird individuell als religiöse, ja als die entscheidende religiöse Tat verstanden und mit religiösen Vorstellungen gedeutet. Elemente dieser religiösen Deutung sind die Orientierung am Leben und insbesondere an der Hiğra Muhammads, die den vollen Einsatz und die dynamische Bereitschaft zum immer neuen Aufbruch verkörpert.

Hinzu tritt eine Ausweitung des religiösen Begriffs der Ğāhiliya auf alle Formen der Unwissenheit. Somit wird auch der Physikunterricht zum Kampf gegen die Ğāhiliya, die Schulen werden zu den eigentlichen Gebetshäusern und der Lehrer wird zur Kerngestalt des Glaubens. Umgekehrt wird in dem Leben Muhammads seine einfühlsame Lehrtätigkeit herausgestellt – und Gülen selbst als „Hocaefendi“, also mit einem respektvollen Lehrertitel, angeredet.

Neben dieser starken innerreligiösen Motivation spielt der türkische Patriotismus auf der Ebene der ideellen Motivation eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Wie sich die religiöse Motivation bereits an dem Gedanken orientierte, dass der Einzelne Träger einer universellen Botschaft ist und sie durch die eigene – auch geographische – Lebensreise verbreitet, so gilt dies analog auch für die Verbreitung der türkischen Kultur. Auch wenn man in Rechnung stellen sollte, dass diese Motivation für die in der Türkei befindlichen von Gülen inspirierten Personen und Institutionen ausgeprägter sein mögen als an anderen Orten, so spielt auf der Ebene der Motivation die Idee einer erstarkenden Türkei mit weltweiten Verbindungen und der weltweiten Verbreitung ihres Gedankengutes durchaus eine Rolle.

Anders allerdings als in den türkisch-nationalistischen Bewegungen löst sich das Verständnis vom Türkentum bei Gülen von dem Bezug zu Blut und Territorium, zunehmend sogar von dem zur Ethnie. Vielmehr wird es in den Schriften seit den neunziger Jahren ein mehr und mehr vergeistigter und spiritualisierter Begriff – was umgekehrt seine globale Wirksamkeit ermöglicht. Hier kommt Gülens Berufung auf den Sufismus eine Schüsselrolle zu. Sufismus gilt für Gülen als die Synthese von Türkentum und Islam, als die eigentliche Frucht der türkischen Geschichte.

 „Türkisch“ ist also eine sanfte, ästhetisch veredelte, persönlich hingabebereite und den anderen Religionen gegenüber offene Variante des Islam. Mit dieser gleichsam sanften Form der „türkisch-islamischen Synthese“ wird einerseits die enge Form des Nationalismus gesprengt, andererseits macht diese Vergeistigung des „Türkentums“ den patriotischen Motivationsstrang für den weniger national gebundenen gebildeten Teil der zweiten und dritten Generation türkischstämmiger Bürger anderer Länder zugänglich und attraktiv und das „Türkische“ universal kommunikabel.

Einerseits ist das Türkentum Stärkung und Propagierung einer nationalen Kultur. In diesem Sinne steht die türkische Kultur als eine Kultur neben anderen. Da diese Kultur jedoch als Idealbild einer im Pluralismus der Kulturen und Religionen vermittelnden Kultur angesehen wird – und so als beste Grundlage einer pluralistischen Kultur dienen können soll – bekommt die Förderung nationaler Partikularität erneut eine globale und universale Ausrichtung.

In einer gewissen Vereinfachung kann man der Ebene des Lehrplans Kompetenz und Wissen, der Ebene der Methode Ethik und Werte und der Ebene der Motivation die Religion zuordnen. Hiermit lassen sich bestimmte Klischees über „Gülen-Schulen“ differenzierter behandeln: Die Schulen sind keinesfalls islamische Schulen, ohne dabei areligiös zu sein. Sind sie aber „türkische Schulen“? Sicher nicht im Sinne einer Beschränkung auf das Türkisch-Nationale – wohl aber im Sinne einer idealisierend postulierten türkischen Universalkultur.

Insgesamt wird sehr gut sichtbar, dass alle drei Charakteristika im Bildungsverständnis zusammenlaufen. Es zielt die Versöhnung von Wissenschaft und Religion – hier spricht Gülen eher von „Spiritualität“ – an. Es ist praktische Verkörperung des Ansatzes am Einzelnen und des Vertrauens in die Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Und es ist die Umsetzung des „hizmet“-Gedankens in konkretes Engagement und Institutionen.

Die Bewegung, ihre Schulen und Fethullah Gülen selbst sind also ernst zu nehmen und ihr hoch motiviertes und wirkungsvolles Engagement ist nur zu begrüßen. Zum Ernstnehmen gehört allerdings auch, kritische Fragen zu stellen. Neben vielen praktischen und auch politischen Fragen ist dies eine grundlegende: Wie universal ist die postulierte Universalität eigentlich und wie natürlich die vorausgesetzte Natur? Ist die Berufung auf Gemeinsamkeit wirklich das Allheilmittel der Verständigung – und ist nicht schon vorab definiert, was gemeinsam ist?

Das große Manko angesichts dieser Frage ist wohl der in den Schulen noch einmal zementierte Verzicht auf jede ausdrückliche theologische Reflexion. Die Gülen-Bewegung braucht sprachfähige Theologen, die mehr können als erbauliche Predigten zu schreiben. Und umgekehrt bräuchte es eine entspanntere Öffentlichkeit, die nicht bei allem ausdrücklich Religiösen Fundamentalismus wittert. Aber die Hoffnung ist nicht aufzugeben, denn „die Welt aber ist ein Lehrhaus“.

Tobias Specker

Tobias Specker (geb. 1971), Studium der katholischen Theologie und Germanistik in Freiburg und Bochum, 2001 Promotion zum Dr. theol., seit 2001 Jesuit, 2003 bis 2005 Mitarbeit in der Schulseelsorge im Canisius Kolleg Berlin, von 2005 bis 2010 Bildungsreferent im Heinrich Pesch Haus Ludwigshafen, von 2007 bis 2010 Islambeauftragter des Bischofs von Speyer, seit Oktober 2010 Studium der Islamischen Studien an der Goethe-Universität Frankfurt.

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