Kann ein neues Sozialwort der Kirchen in Deutschland helfen?Wachsende Ungleichheit – fehlendes Vertrauen

In weiten Teilen der deutschen Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit über eine wachsende soziale Ungleichheit im Land stetig zu. Der Politik begegnet man mit zunehmendem Misstrauen. In dieser Situation könnte ein neues gemeinsames Sozialwort der Kirchen zur Problemlösung beitragen.

Obwohl sich Deutschland aus der Finanz- und Wirtschaftskrise schneller erholt als erwartet, halten sich in der Bevölkerung zwei für die politische Stimmung entscheidende Gefühle: dass nämlich die soziale Ungerechtigkeit ständig zunimmt und dass man den Politikern und Politikerinnen sowie den Verantwortlichen in der Wirtschaft kein Vertrauen mehr schenken kann. Nach einer aktuellen Emnid-Umfrage im Auftrag der Bertelsmannstiftung fordern 90 Prozent der Befragten eine „neue Wirtschaftsordnung“ mit mehr Umweltschutz und besserem sozialen Ausgleich. Schneller als die Börsenkurse in der Finanzmarktkrise ist im Jahr nach der Bundestagswahl im September letzten Jahres das Vertrauenskapital der Regierung aus Union und Freidemokraten in sich zusammengebrochen.

Das ermüdende Gezerre um die illusorischen Forderungen nach Steuererleichterungen, die klientelistische Reduktion des Mehrwertsteuersatzes für Hotels, der Streit um die Gesundheitsreform mit einem mageren Ergebnis, das Hin und Her bei der Familienpolitik und zuletzt das Sparpaket haben nicht den Eindruck hinterlassen, man werde gut regiert. Nach dem „Politbarometer“ vom 10. September 2010 erreichte die jetzige Regierungskoalition bei der Sonntagsfrage zusammen nur noch 37 Prozent der Stimmen (SPD und Grüne erreichten 48 Prozent).

Dabei betrifft der Vertrauensverlust nicht nur Fragen der Sozialpolitik. Beispielsweise steht auch der jüngst erzielte Atomkompromiss weniger für eine zukunftsorientierte Energiepolitik als für Kungeleien mit den marktbeherrschenden Stromkonzernen und einem notdürftigen Kompromiss zwischen zerstrittenen Gruppen innerhalb der Koalition.

Die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation nehmen allgemein zu

Die durch den Vertrauensverlust verstärkte Unzufriedenheit mit der „gefühlten Ungerechtigkeit“ hat reale Hintergründe, auch wenn die Sozialausgaben 2009 die Rekordsumme von 754 Milliarden Euro erreichten: Im vergangenen Jahrzehnt ist eine kontinuierliche Polarisierung der Einkommensverteilung zu beobachten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat auf der Basis der Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) hierzu Auswertungen vorgelegt. Teilt man die Bevölkerung nach ihrem steigenden Einkommen in 10-Prozent-Gruppen („Dezile“) ein, so ist im Vergleich von 2000 zu 2007 das Einkommen der fünf untersten Dezile zurückgegangen (besonders deutlich in den untersten drei), während die obersten fünf Einkommenszuwächse zu verzeichnen hatten, hier vor allem das oberste Dezil.

Definiert man diejenigen Personen, die über ein Pro-Kopf- Einkommen zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens (das Einkommen der am meisten verdienenden Person aus dem fünften Dezil) verfügen, als „Mittelschicht“, so hat der Anteil dieser Mittelschicht an der Bevölkerung von 2000 bis 2008 von 66,4 Prozent auf 60,8 Prozent abgenommen. Die Unterschicht hat von 18,1 auf 20,0 Prozent zugenommen, allerdings hatte auch die Oberschicht einen Zuwachs von 15,5 auf 19,2 Prozent zu verzeichnen. Auf Grund der Wirtschaftskrise hat sie in 2009 wieder auf 16,6 Prozent abgenommen, zugleich die Unterschicht aber auf 21,8 zugenommen.

Das scheint im Bewusstsein der Angehörigen von Mittel- und Oberschicht Abstiegsängste hervorzurufen. Die subjektive Einkommenszufriedenheit ist zwar je nach Einkommen unterschiedlich hoch, hat aber interessanterweise in allen drei Schichten in den letzten zehn Jahren abgenommen, während die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation ebenfalls in allen drei Schichten zugenommen haben.

Ähnliche Tendenzen beobachtet man bei der relativen Einkommensarmut, die durch ein so genanntes „bedarfsgewichtetes“ Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf definiert ist, das niedriger liegt als 60 Prozent des Medianeinkommens (im Jahre 2008 lag diese Armutsschwelle bei 925 Euro). Die davon betroffene Gruppe hat von 10,3 Prozent 1999 auf 14 Prozent im Jahr 2008 zugenommen, wobei der Osten weit stärker von Armut betroffen ist als der Westen (19,5 beziehungsweise 12,9 Prozent). Wegen der Wirtschaftskrise ist die Einkommensarmut 2009 gestiegen, im derzeitigen Aufschwung wird sie aber auch wieder zurückgehen.

Trotzdem ist auch hier der Zehnjahrestrend einer kaum unterbrochenen Steigerung beunruhigend. Der Anteil derjenigen, die seit mehreren Jahren arm sind, hat sich verfestigt. Besonders betroffen sind Kinder und junge Erwachsene, Familien mit drei oder mehr Kindern und Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern. Bei der letzten Gruppe beträgt die Armutsquote sogar über 50 Prozent, wenn das jüngste Kind noch keine drei Jahre alt ist.

Die Einführung des Erziehungsgeldes 1986 beziehungsweise des Elterngeldes 2007 hatte gerade in dieser Gruppe erheblich zur Armutsreduktion beigetragen. Das im Rahmen des Sparpaketes beschlossene Vorhaben der Streichung des Elterngeldes für so genannte Arbeitslosengeld-II-Bezieher (ALG II) wird deren Situation wieder verschlechtern. Auch die Kindergelderhöhung zum 1. Januar 2010 hilft dieser Zielgruppe nicht, weil das Kindergeld voll auf die Transferzahlungen nach dem Sozialgesetzbuch II angerechnet wird.

Sparpaket und Gesundheitsreform verschlechtern die Situation der Ärmeren noch weiter

Die Ursachen der zunehmenden Armut sind vielfältig. Ein wichtiger Faktor hat mit der Veränderung der Lebensweise und Eigenheiten der Statistik zu tun. Es werden nämlich die Haushaltseinkommen zur Berechnung eines Pro-Kopf-Einkommens durch einen Divisor geteilt, in den die Haushaltsmitglieder mit bestimmten Gewichtungen eingehen: nach der neuen OECD-Skala werden der erste Erwachsene mit dem Faktor 1,0, der zweite und alle weiteren mit 0,5 und Kinder bis 14 Jahren mit 0,3 gezählt. Wenn sich also Ehepaare scheiden lassen oder Jugendliche oder erwachsene Kinder den elterlichen Haushalt verlassen, muss sich an ihren Einkommen in der Summe nichts geändert haben, damit sie nach der Trennung oder dem Auszug rechnerisch als ärmer eingestuft werden. Das ist durch den höheren Lebensbedarf von in getrennten Haushalten lebenden Personen gerechtfertigt, bedeutet aber nicht, dass es zu einem Verfall der Arbeitseinkommen gekommen wäre.

Ein Teil der wachsenden Ungleichheit ist also bei dieser Art der statistischen Berechnung einfach ein Ergebnis der zunehmenden Einpersonenhaushalte und Scheidungen. Das Wachstum der Armutsquote bei den 19- bis 25-jährigen Personen hat auch damit zu tun, dass Menschen in dieser Altersgruppe heute länger in Berufsausbildung sind, der Anteil der Studierenden gestiegen ist, der Einstieg in die Berufstätigkeit oft über prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder Praktika erfolgt und dass diese jungen Leute in höherer Zahl nicht mehr zuhause wohnen.

Ein weiterer Faktor liegt in den Veränderungen am Arbeitsmarkt. Langanhaltende Arbeitslosigkeit, aber auch der Rückgang an Vollzeitstellen zugunsten von Teilzeitstellen und geringfügiger Beschäftigung erklären ebenfalls zunehmende Einkommensarmut. Auch hat der Anteil der Vollerwerbstätigen mit Niedrigeinkommen in den letzten 15 Jahren deutlich zugenommen. Andere Ursachen sind durch steuer- und sozialpolitische Entscheidungen entstanden. Die Steuerreformen, vor allem das Absenken des Spitzensteuersatzes von 56 Prozent in den achtziger Jahren auf erst 42 Prozent und nun 45 Prozent (mit Solidaritätszuschlag 47,48 Prozent) sowie die Abgeltungssteuer für Kapitaleinkünfte in Höhe von nur 25 Prozent haben die Reicheren stärker begünstigt als die Armen.

Die Einführung des Arbeitslosengeldes II bedeutet für viele nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeld-I-Bezugs eine deutliche Schlechterstellung im Vergleich zur früheren einkommensabhängigen Arbeitslosenhilfe. Für viele staatliche Transfers fehlt es am notwendigen Inflationsausgleich, während diejenigen, die ohnehin schon den Spitzensteuersatz zahlen, von der kalten Steuerprogression nicht mehr betroffen sind.

Das von der Bundesregierung beschlossene Sparpaket und die anstehende Gesundheitsreform verschlechtern die wirtschaftliche Situation der ärmeren Bevölkerungsteile noch weiter, während die reicheren Gruppen nicht herangezogen werden. Von dem für 2011 bis 2014 veranschlagten Einsparvolumen von 81,6 Milliarden Euro werden 32,3 Milliarden durch Einsparungen im Sozialbereich erbracht.

Da der Sozialetat der größte Einzeletat des Bundeshaushaltes ist, war klar, dass er von Einsparungen nicht würde verschont werden können. Aber eine für alle zumutbare Erhöhung der Steuersätze um einen Prozentpunkt über den gesamten Tarifverlauf hinweg würde jährlich 7 Milliarden, also für den Zeitraum 2011 bis 2014 immerhin 28 Milliarden erbringen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Einsicht, dass eine Steuererhöhung allein für die Bezieher hoher Einkommen die Einnahmen des Bundes relativ wenig steigern würde. Der Bundesanteil der gesamten Lohn- und Einkommenssteuer wird 2010 voraussichtlich nur 63,3 Milliarden Euro betragen. Die so genannte „Reichensteuer“ (Erhöhung des Spitzensteuersatzes für Einkommen über 200 000 Euro von 42 Prozent auf 45 Prozent) bringt nur 640 Millionen.

Der zu pauschale Vorwurf der Integrationsunwilligkeit

Die Ungleichheit bei der Verteilung der Vermögen ist noch größer als die der Einkommensverteilung. Die untersten 40 Prozent haben so gut wie gar kein Geld- und Sachvermögen, während die reichsten zehn Prozent im Durchschnitt über mehr als 500 000 Euro verfügen. Die Tatsache, dass ALG-II-Empfänger vor dem Leistungsbezug ihr Vermögen weitgehend aufbrauchen müssen, wird in Zukunft noch zu höherer Ungleichheit beitragen. Allerdings wird die Vermögensungleichheit durch Renten- und Pensionsansprüche, über die auch die meisten der Ärmeren verfügen, deutlich korrigiert. Selbst Arbeitslose hatten 2007 noch Rentenansprüche, die nicht wesentlich unter denen für gering- und mittelqualifizierte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen lagen. Dies wird sich allerdings in Zukunft ändern, wenn der Zuschuss zur Rentenversicherung bei ALG II-Empfängern abgeschafft wird.

Wegen des generell sinkenden Rentenniveaus und der höheren Arbeitslosigkeit im Osten wird es in den nächsten Jahrzehnten vor allem dort zu wachsenden Problemen von Altersarmut kommen. Wenn sich die bisherigen Entwicklungen fortsetzen, sinkt die durchschnittliche Rente der jüngeren ostdeutschen Geburtskohorten sogar unter die Grundsicherung im Alter. Wenn jedoch unter günstigen wirtschaftlichen Bedingungen Menschen bis zum 67. Lebensjahr eine Arbeit finden und erwerbstätig bleiben, könnte die „Rente mit 67“ die Höhe der Altersrente wieder steigern und Altersarmut verhindern helfen.

Die Dynamik gesellschaftlicher Polarisierungen wäre nicht ausreichend verstanden, würde man ausschließlich auf Disparitäten der Einkommen und Vermögen schauen. Es gibt mindestens drei weitere Felder, in denen soziale Spaltungen thematisiert werden, die Ängste auslösen werden. Dabei ist der derzeit grassierende „Sarrazynismus“ in vielen Aspekten nicht nur menschenverachtend und rassistisch, er überzieht auch in der Analyse die Dramatik der Situation.

Nach dem im März 2010 veröffentlichten Jahresgutachten „Einwanderungsgesellschaft 2010“ des „Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration“ ist die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland keineswegs gescheitert, sondern „vielmehr in vielen empirisch fassbaren Bereichen durchaus zufriedenstellend oder sogar gut gelungen“. Beeindruckend an dem Bericht ist vor allem, dass sowohl Menschen mit wie Menschen ohne Migrationshintergrund in vielen Einschätzungen zu ähnlichen Wertungen kommen, beispielsweise hinsichtlich der notwendigen Voraussetzungen und Ziele gelingender Integration. Wir haben es mit tendenziell eher sehr ähnlichen als mit gegensätzlichen Wertvorstellungen zu tun.

Sicher gibt es eine Reihe von Problemen, die aber weniger mit dem Faktor Migrationshintergrund als mit mangelnden Bildungschancen und als Konsequenz daraus fehlender Integration in den Arbeitsmarkt zu tun haben. Auch deutsche Jugendliche mit niedrigem Bildungshintergrund haben ein massives „Integrationsproblem“. Deshalb ist auch der in guter Absicht erfolgte Hinweis von Bundesinnenminister Thomas de Maizière bei der Vorstellung des „bundesweiten Integrationsprogramms“ der Bundesregierung am 8. September 2010 problematisch, dass „nur“ zwischen 10 und 15 Prozent der Migranten „integrationsunwillig“ seien. Der angenommene „Unwille“ dürfte durchaus mit Erfahrungen der Exklusion oder des Scheiterns zusammenhängen, für die die Betroffenen nicht alleine verantwortlich sind.

In der Bildungsdebatte gibt es ein ähnliches Phänomen, wenn denjenigen, die am deutschen Bildungssystem scheitern, pauschal „Bildungsunwilligkeit“ attestiert wird. Bei den aktuellen politischen Auseinandersetzungen hat man manchmal den beunruhigenden Eindruck, dass diejenigen, die nie eine Integration von Ausländern und Ausländerinnen in Deutschland wollten, diesen nun vorwerfen, nicht zur Integration bereit zu sein, um dadurch ihre Ausländerfeindlichkeit unter dem neuen Imperativ der Integration weiterhin zu legitimieren. Im Übrigen haben selbst die gegenüber Migration offen Eingestellten in der Freude über die Akzeptanz des Begriffs „Einwanderungsgesellschaft“ noch nicht wahrgenommen, dass derzeit und wohl auch in Zukunft die Wanderungsbilanz Deutschlands ausgeglichen ist. So attraktiv ist Deutschland gar nicht, dass mehr Menschen zu- als abwandern würden.

Spaltungsprozesse im Bildungssystem

Die auf Zukunft hin beunruhigendsten Spaltungsprozesse beobachten wir nach wie vor im Bildungssystem. Das hat noch einmal die im Juni 2010 veröffentlichte Studie „Sprachliche Kompetenzen im Ländervergleich“ gezeigt. Weiterhin hängt der Bildungsabschluss in hohem Maße vom Bildungshintergrund der Eltern ab. Das deutsche Bildungssystem ist kaum in der Lage, Chancenungleichheiten aufgrund unterschiedlicher Herkunft auszugleichen. Hier müssen größte Anstrengungen unternommen werden, wenn soziale Exklusion in Deutschland bekämpft werden soll.

Auch aus ökonomischen Gründen liegt es angesichts des bevorstehenden Mangels an Fachkräften im ureigensten Interesse der Mehrheitsbevölkerung, dafür zu sorgen, dass alle Menschen in einem chancengerechten Bildungssystem ihre Potenziale besser ausschöpfen können als bisher. Der neueste OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick 2010“ macht deutlich, dass Bildungsinvestitionen langfristig sogar zu höheren Staatseinnahmen führen, sich also durchaus „rechnen“. Was ist eigentlich mit Deutschland los, wenn nicht einmal solche ökonomischen Argumente zu einem entschiedeneren Umsteuern führen?

Der Hamburger Volksentscheid gegen das längere gemeinsame Lernen in einer sechsjährigen Primarschule hat sicherlich auch damit zu tun, dass Teile der Mittel- und Oberschicht Angst haben vor einem sozialen Abstieg ihrer Kinder aufgrund der Konkurrenz von Kindern aus niedereren sozialen Schichten. Dabei gibt es gute Argumente dafür, dass letztlich alle nur gewinnen können, wenn es mehr Chancengleichheit im Bildungssystem gibt. Schließlich wird auch die soziale und interkulturelle Kompetenz, die man als Kind in multikulturell zusammengesetzten Klassen erwerben kann, in Zukunft eine immer wichtigere Schlüsselqualifikation sein.

Ein weiterer Aspekt gesellschaftlicher Polarisierung hat mit dem veränderten Geschlechterverhältnis zu tun. In Schulen und auf dem Arbeitsmarkt sind heute junge Frauen erfolgreicher als Männer, das gilt sowohl für die Gruppe der Menschen ohne wie für die mit Migrationshintergrund. Ein Teil der jungen Männer scheint darauf mit extremistischen Einstellungen, wachsender Gewaltbereitschaft und Leistungsverweigerung zu reagieren, während Frauen sich schwer tun, einen Partner zu finden, der ihnen ebenbürtig ist und zugleich ihr Lebensmodell unterstützt. Gösta Esping-Andersen legt in seinen Untersuchungen nahe, dass solche Probleme typisch sind für Gesellschaften, in denen die Revolution der Angleichung der Geschlechterrollen noch nicht vollendet ist, während eine vollständig erreichte Gleichstellung wieder zu mehr Geburten, stabileren Ehen und höherem sozialen Frieden führt.

Nicht ohne einen offenen Konsultationsprozess

Könnte ein neues gemeinsames Sozialwort der Kirchen in Deutschland dazu beitragen, diese problematischen Tendenzen aufzuhalten oder sogar umzukehren? Auf dem Ökumenischen Kirchentag haben sich im Mai 2010 der amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Nikolaus Schneider, und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, für ein solches Sozialwort ausgesprochen. Derzeit finden Gespräche in verschiedenen Kommissionen und gemeinsamen Arbeitsgruppen statt, um die Möglichkeiten und Perspektiven dafür auszuloten.

Sicher, auch die Kirchen, insbesondere die katholische, stecken derzeit ebenfalls in einer massiven Vertrauenskrise. Durch einen ernsthaften und uneigennützigen Beitrag zur Bewältigung der aktuellen gesellschaftlichen Probleme könnten sie jedoch ihr Image in der Öffentlichkeit deutlich verbessern. Um ein Anforderungsprofil für ein solches Projekt zu entwickeln, kann man sich am Gemeinsamen Wort von 1997 orientieren, hinter das das neue Sozialwort nicht mehr zurückfallen darf. So sollte wieder ein offener Konsultationsprozess angestoßen werden, allerdings anders als in den Jahren 1993 bis 1997 mit klareren Zielen, transparenteren Methoden und größeren Ressourcen zur Begleitung, Steuerung und Auswertung. Damals war am Anfang nicht recht klar, wie der Prozess aussehen sollte; die Kirchen sind in gewisser Weise in diesen Prozess „hineingestolpert“, weil sie damit noch keine Erfahrungen hatten.

In sachorientierter und dialogoffener Haltung sollte schon in einer von Experten erarbeiteten Diskussionsgrundlage transparent gemacht werden, wie die Kirchen selbst die Probleme analysieren. Sie können dadurch einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der Probleme leisten. Sie wären dadurch zugleich gezwungen, sich intensiv mit der Realität zu befassen und nicht zu früh zu moralisieren oder sich in eine falsche theologische Abstraktheit zu versteigen. Daran anschließend müsste offengelegt werden, mit welcher Motivation und aus welcher Ethostradition heraus die Kirchen Stellung beziehen – wobei klar sein muss, dass sie sich dabei ihrer eigenen Partikularität bewusst bleiben und diese eigenen Positionen nicht einfach für „die Wahrheit“ schlechthin halten.

Schließlich sollten sie einen konsensfähigen Vorschlag bezüglich der moralischen Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens unterbreiten, von dem sie hoffen können, dass sich alle Menschen in unserer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft darauf verständigen können. Hier ist in besonderer Weise Dialog- und Lernbereitschaft zu signalisieren, weil sonst die angestrebte Suche nach einem möglichst breiten Konsens von vornherein unglaubwürdig würde.

Am Ende gilt es auch wieder konkrete Maßnahmen zu diskutieren, für die die Kirchen erst recht keine letzte Autorität beanspruchen können. Es ist aber wichtig, sich in solchen Reflexionen über die realistische Anwendung der eigenen moralischen Forderungen Rechenschaft zu geben und sie dadurch einem ersten Test zu unterziehen. In diesem Zusammenhang ist es für die Glaubwürdigkeit der Kirchen zudem erforderlich, wie schon im Sozialwort von 1997 auch das eigene Handeln in den Blick zu nehmen.

Hinsichtlich der Inhalte dürften sich gegenüber dem Gemeinsamen Wort von 1997 einige wichtige Akzentverschiebungen ergeben: So muss das Problem der bestehenden Ungerechtigkeiten in der Bildungsbeteiligung einen sehr viel größeren Stellenwert bekommen als damals – was leicht möglich ist, da sich ja beide Kirchen in verschiedenen Stellungnahmen bereits intensiv mit der Beteiligungsgerechtigkeit befasst haben.

Im Blick auf die Probleme der Migration müssen die Kirchen unzweideutig für die Würde und die Rechte aller Menschen, unabhängig von ihrer kulturellen, sozialen und religiösen Herkunft eintreten. Inzwischen sind auch die mit dem demographischen Wandel auf uns zukommenden Probleme sehr viel deutlicher erkennbar, wenn auch noch nicht – wie die Diskussion um die „Rente mit 67“ zeigt – wirklich im allgemeinen Bewusstsein angekommen. Besonders dringlich ist die Frage, wie das Problem der durch die Bekämpfung der Finanzkrise stark angewachsenen Staatsverschuldung so gelöst werden kann, dass die soziale Gerechtigkeit dabei nicht auf der Strecke bleibt.

Auch haben Fragen des Klimawandels und einer wirklichen Revolution unserer Energieverbrauchsstile und der Verfahren zur Energieerzeugung enorm an Bedeutung gewonnen. Schließlich ist heute klarer als je zuvor, dass die notwendigen Veränderungen eigentlich nur in einer globalen Kooperation aller Staaten im Sinne einer „Global Governance“ wirklich realisierbar sind, weil sonst die Bemühungen einzelner Staaten durch „Trittbrettfahrer“ immer wieder unterlaufen werden. Vielleicht könnten sich die deutschen Kirchen auch darauf verständigen, im Blick auf solche Fragen des Weltgemeinwohls eine stärkere Kooperation mit den Kirchen und nicht-christlichen Religionsgemeinschaften anderer Länder, auch außerhalb Europas, beispielsweise der in der G–20 zusammengeschlossenen Staaten zu suchen, um von dortigen Prozessen selbst zu lernen, oder aber entsprechende Prozesse dort anzustoßen. Vielleicht muss die Idee eines weltweiten „konziliaren Prozesses“ unter Einbeziehung aller Religionen keine Utopie bleiben.

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