Die Welt ist nicht genug

Mit der neuen Enzyklika „Fratelli tutti“ und ihren turbulenten Begleitumständen tritt dieses Pontifikat in eine Phase der Klärung ein. Papst Franziskus sieht seinen Auftrag längst in der Rettung des Planeten. Und setzt so den Frieden in seiner Kirche aufs Spiel.

Die Welt ist nicht genug
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Der Kabarettist Herbert Feuerstein, der Anfang Oktober starb, hatte sich für sein Publikum noch eine letzte Pointe ausgedacht: Er hinterließ seinen eigenen Nachruf. Einen knapp zweistündigen Radiobeitrag, vor einigen Jahren von ihm selbst geschrieben, eingesprochen und mit seiner Lieblingsmusik (Bach, Mozart) unterlegt, der erst nach seinem Tod im WDR gesendet werden durfte. Den Journalisten traute er schlicht nicht zu, sein Leben vernünftig einzuordnen.

Man könnte meinen, Papst Franziskus seien ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen, als er an seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ saß. Jedenfalls findet sich ziemlich weit vorne im Text, in Nummer 4, ein Satz, der eigentlich auf den heiligen Franz von Assisi gemünzt ist, aber fast zwangsläufig zugleich als verstecktes Selbstporträt gelesen werden muss, als Zusammenfassung dessen, was der Papst als persönliches Ideal zumindest anstrebt: „Er führte keine Wortgefechte, um seine Lehren aufzudrängen, sondern teilte die Liebe Gottes mit.“ Ein Satz, der eines hoffentlich noch fernen Tages auch locker als Epitaph des Jorge Mario Bergoglio durchgehen würde.

Tatsächlich tritt dieses Pontifikat mit der neuen Enzyklika und ihren turbulenten Begleitumständen in eine Phase der Klärung ein. Papst Franziskus selbst hat „Fratelli tutti“ programmatisch als Zusammenfassung früherer Wortmeldungen angelegt (vgl. Nr. 5). Er gibt darin also Hinweise, worin er den Kern seines Wirkens sieht und was von seinen unzähligen großen und kleinen Auftritten im Gedächtnis bleiben soll. In Verbindung mit der ganzen kirchenpolitischen Aufregung, die derzeit im Vatikan herrscht, vom Ärger über deutsche Ökumene-Papiere bis zum spektakulären „Game of Thrones“ mächtigster Kurienkardinäle, lässt sich seine oft so schillernde Regierung damit nun doch allmählich zu einem klareren Profil verdichten. Reformpapst oder nicht, diese Frage geht demnach offensichtlich wirklich am Denken von Franziskus vorbei. Die Liebe Gottes mitzuteilen, und zwar in der ganzen Welt, mit Mund und Händen, darin besteht aus Sicht von Franziskus die eine große Aufgabe des Christentums. Wortgefechte dagegen, gar solche um die Lehre oder überhaupt um die Kirche und ihre Verfasstheit, interessieren ihn weder, noch liegen sie ihm. Anders gesagt: Papst Franziskus hat das Heil nicht der Kirche, sondern der ganzen Welt im Blick. Was für die Kirche naturgemäß nicht nur Vorteile hat, wie man derzeit gut sehen kann.

In seiner neuen Enzyklika arbeitet der Papst seine Prioritäten deutlich heraus. Dass der Text nicht nur Christen, sondern „allen Menschen guten Willens“ offen steht, dafür sorgen schon formale Besonderheiten: der Verzicht auf ein Mariengebet am Ende zum Beispiel, wie es noch Anfang dieses Jahres im nachsynodalen Schreiben „Querida Amazonia“ zu lesen war, oder die fast völlige Vermeidung des „Christus“-Titels für Jesus (anders als in den vorigen Enzykliken „Laudato si“ und „Lumen fidei“). Überhaupt sind dezidiert christliche Motive eine Randerscheinung in diesem Papstdokument. Sie werden bisweilen fast entschuldigend anmoderiert, etwa wenn Franziskus auf den Barmherzigen Samariter zu sprechen kommen will: „Wenn sich dieses Schreiben auch an alle Menschen guten Willens, jenseits ihrer religiösen Überzeugungen, richtet, so äußert sich das Gleichnis doch in einer Weise, dass jeder von uns sich von ihm ansprechen lassen kann.“

Stattdessen hat der religiöse Führer Franziskus seine Enzyklika geschrieben, um die Versöhnung der Religionen voranzutreiben und so den globalen Frieden zu fördern. Besonders das konfliktträchtige Verhältnis des westlich-christlichen Kulturkreises zum Islam will er ersetzen durch einen Zustand geschwisterlicher Verständigung. Einmal gönnt er sich dafür sogar ein neues Spiel mit der Bedeutung des Wortes „Islam“: Von der Toleranz des heiligen Franziskus könne man lernen, „eine demütige und geschwisterliche ,Unterwerfung‘ zu üben“ (Nr. 6), auch Andersgläubigen gegenüber. Ein recht cooler Konter auf Michel Houellebecq, der allerdings leider mit ziemlicher Sicherheit keine Papstenzykliken liest.

Die Religionen sollen aber noch mehr zur Rettung der Welt beitragen, als lediglich durch die Aussöhnung untereinander die Gefahr religiöser Konflikte zu verringern. Sie allein können die unersetzliche Motivation zur Lösung aller großen Menschheitsprobleme liefern: zum Umweltschutz (Bewahrung der Schöpfung), zur Bekämpfung von Armut und Krankheit (Nächstenliebe), zur Abfederung der verschiedensten durch Globalisierung und Digitalisierung entfesselten menschenfeindlichen Dynamiken. In diesem funktionalen Verständnis von Religion als Weltenretterin erhält auch die Evangelisierung, das Franziskus-Anliegen par excellence, ihre eigentliche Stoßrichtung: Sie ist kein Selbstzweck zur religiösen Erbauung der Menschen, sondern zielt letztlich auf die Praxis: „Daher ist es wichtig, dass die Katechese und die Predigt auf direktere und klarere Weise die soziale Bedeutung der Existenz, die geschwisterliche Dimension der Spiritualität, die Überzeugung der unveräußerlichen Würde jedes Menschen und die Beweggründe, um alle zu lieben und anzunehmen, einbezieht“ (Nr. 86).

Keine Frage: Wenn diese Prioritäten des Papstes, wie sie „Fratelli tutti“ überblicksartig vereint, allgemein beherzigt würden, wäre die Welt ein besserer Ort. Ironischerweise hat aber ausgerechnet die Körperschaft, der Franziskus als geistliches Oberhaupt vorsteht, im Moment mit dem gegenseitigen Sich-lieben und Sich-Annehmen gewaltige Probleme. Während Franziskus’ Anliegen der Versöhnung weit über die Kirche hinaus anschlussfähig sind, werden im Innern der Kirche die Fliehkräfte seit seinem Amtsantritt immer stärker.

Eigenleben der Bischofskonferenzen

Dabei stehen sich nicht nur konservative und liberale Kräfte immer verbitterter gegenüber. Auch die Verstimmungen zwischen Rom und den Teilkirchen nehmen zu. Das zeigt etwa die fortdauernde Auseinandersetzung um das deutsche ökumenische Abendmahl-Papier „Gemeinsam am Tisch des Herrn“: Nach dem scharfen Brief der Glaubenskongregation vom September an den DBK-Vorsitzenden Georg Bätzing, in dem eine gegenseitige Einladung von Katholiken und Protestanten zum Abendmahl ausgeschlossen wurde, schrieb Bätzing eine empörte Replik an den päpstlichen Nuntius in Deutschland, Nikola Eterović. Darin beschwerte sich Bätzing unter anderem darüber, dass die Post der Glaubenskongregation in der Presse gelandet sei. Dass eben diese Bätzing-Replik danach wiederum wundersamerweise an Journalisten gegeben wurde (an die „Zeit“), spricht eher für einen Geist des „Auge um Auge“ als für Fratelli tutti.

In ähnlicher Weise, nur unter umgekehrten kirchenpolitischen Vorzeichen, entwickelt auch die polnische Bischofskonferenz gerade ein Eigenleben: In einem Lehrschreiben, das mit der LGBT-Bewegung scharf ins Gericht geht, definieren die polnischen Bischöfe, dass man die Lehre der Kirche über „das moralische Übel homosexuellen Verhaltens“ als „universell, zeitlich und räumlich unveränderlich und unfehlbar“ zu betrachten habe. Dabei liegt eine Entscheidung darüber, ob und welche moraltheologische Aussage über Homosexualität nun unfehlbar ist und welche nicht, nicht bei einer Bischofskonferenz, sondern nur beim Heiligen Stuhl.

Diese und andere Themen (Viri probati, Pfarreienreform, Frauendiakonat) entfalten immer größeres Konfliktpotenzial, weil der Papst es vermeidet, sich festzulegen. Es handelt sich nämlich um genuin kircheninterne Fragen, oder anders gesagt: um Wortgefechte über die Lehre. Und bei denen scheint Franziskus entweder unschlüssig zu sein, oder er hält sie für nachrangig im Vergleich zu seiner Mission, die ganze Schöpfung und die ganze Menschheit wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Seine Kurie ist deshalb lediglich ermächtigt, einzuschreiten, wenn irgendwo derStatus quo dauerhaft verletzt zu werden droht (siehe deutscher Kommunionsstreit). Solche Eingriffe seiner Behörden will der Papst aber gerade nicht als definitive Entscheidung für oder gegen kirchliche Veränderungen verstanden wissen. Sondern schlicht als Vertagung, für spätere Zeiten, für spätere Päpste.

Während Franziskus so die theologischen und moralischen Streitereien schwelen lässt, so sehr, dass selbst Kardinäle und Bischöfe offen oder verdeckt aufeinander losgehen, tragen die immer neuen Skandalmeldungen aus dem Vatikan vollends zum krisenhaften Gesamteindruck der Franziskus-Kirche bei. So undurchsichtig die Umstände um das fragwürdige Finanzgebaren des früheren Kurienkardinals Giovanni Angelo Becciu sind und gewiss auch in Zukunft bleiben werden: Allein der spektakulär erzwungene Verzicht Beccius auf seine Kardinalswürde, verbunden mit der möglichen Rehabilitierung des unter Missbrauchsverdacht vom Papsthof gejagten Kardinal George Pell geben ein derart desaströses Bild der Kurie ab, dass sich die Schlussfolgerung aufdrängt: Franziskus, dem Insider seit jeher demonstratives Desinteresse an Verwaltungsfragen bescheinigen, hat seinen Laden nicht im Griff.

In diese Gemengelage passt nur zu gut, dass die schon im Vorkonklave 2013 diskutierte große Reformtat, eine Neuaufstellung der Kurie, noch immer auf sich warten lässt. Die Kurienreform des Franziskus, an der seit Jahren herumgedoktert wird, schien immer wieder kurz vor der Fertigstellung zu stehen, drehte dann aber doch wieder die nächste Feedbackschleife durch den Vatikan. Erst jetzt, in der Corona-bedingten terminfreien Zeit dieses Jahres, scheint Franziskus mit seinem Reformgesetz wieder voranzukommen, wie zu hören ist. Einen Veröffentlichungstermin gibt es aber auch weiterhin nicht. Was Franziskus während Corona dagegen bis zum Ende durchgezogen hat, war: eine neue Enzyklika zu schreiben.

Und so wächst das Paradox eines Papstes, der so wirkmächtig wie kaum eine andere zeitgenössische Persönlichkeit für den Frieden in der Welt eintritt, während er in seiner Kirche nichts als Ärger hat. Für Nachrufe auf Franziskus ist es zum Glück noch zu früh. Ihm bleibt noch Zeit, die eigene Antriebslosigkeit beim Regieren nach innen zu überwinden. Eines Tages aber wird die historische Würdigung seiner Amtszeit unweigerlich mit der Frage stehen oder fallen, ob er, der Pontifex, die Einheit und Geschwisterlichkeit in seiner Kirche mehren konnte oder nicht. Die Welt zu retten, ist eine gewaltige Aufgabe. Von einem Papst aber wird mehr erwartet. wiegelmann@herder.de

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