Ein Gespräch über Papst Franziskus mit Thies Gundlach vom EKD-Kirchenamt„Die katholische Kirche verändern“

Papst Franziskus sorgt für Aufsehen auch über die katholische Kirche hinaus. Was bedeutet der Jesuitenpapst aus Lateinamerika für Protestanten? Welche Herausforderungen bietet sein Kurs für die evangelische Kirche? Darüber sprachen wir mit Thies Gundlach, Vizepräsident im Kirchenamt der EKD. Die Fragen stellte Ulrich Ruh.

HK: Herr Dr. Gundlach, vor einem Jahr hat Papst Franziskus sein Amt angetreten und hat inzwischen damit begonnen, seine Kirche umzukrempeln. Hätten Sie als Protestant der katholischen Kirche so etwas zugetraut?

Gundlach: Bei dem, was man der katholischen Kirche zutrauen kann oder nicht, muss man vorsichtig sein. Schon der Rücktritt von Benedikt XVI. war jenseits aller Erwartbarkeit. Mit diesem in der jüngeren Kirchengeschichte präzedenzlosen Akt hat eine Entwicklung begonnen, die so nicht abzusehen war. Papst Franziskus wiederum bringt „vom Ende der Welt“, wie er es selber nannte, eine Atmosphäre von Frömmigkeit mit, die wir in den letzten Jahrzehnten so nicht vor Augen hatten. Die Orientierung an den Armen war zumindest theoretisch schon vorher präsent. Aber das Stichwort Barmherzigkeit, das Verständnis von Religion als Trostreligion, die Bereitschaft, an die Ränder zu gehen, auch im Sinn der menschlichen Abgründe: Das ist eine Tonlage, die ich beeindruckend und auch ein Stück weit überraschend finde.

HK: Franziskus stellt bei allem, was er sagt und tut, die Begegnung mit Jesus Christus in den Mittelpunkt, konzentriert sich auf den Kern der christlichen Erlösungsbotschaft und ruft zu einem neuen Engagement für die Evangelisierung auf. Sind das nicht wichtige Anliegen gerade der Reformation und damit des reformatorischen Christentums?

Gundlach: Das hat die reformatorischen Kirchen immer ausgezeichnet: solus Christus. Die Konzentration auf das Wort Gottes ist aber spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch wesentlich für den Katholizismus. Andererseits ist die Dimension des Evangeliums als Barmherzigkeit, die der jetzige Papst so stark herausstellt, auch für Protestanten eine gute Herausforderung. Es gibt ja in unserer Tradition auch immer wieder Strömungen, die das Evangelium als strenge und gerade nicht zuerst als gütige Botschaft auslegen. Aber in einer Welt voller Gefährdungen und Unbarmherzigkeiten haben wir Christen allen Grund, das Evangelium als Befreiung und Erlösung zum Leuchten zu bringen. Insofern ist Papst Franziskus ein wichtiger Sprecher evangelischer Anliegen, ohne diese jetzt in einem konfessionellen Sinn zu verengen.

HK: Der Papst ist erkennbar darum bemüht, den eingefahrenen Apparat katholische Kirche an wichtigen Stellen zu reformieren, angefangen mit der römischen Kurie. Wie nehmen sich diese neuen katholischen Reformansätze aus protestantischer Perspektive aus?

Gundlach: Mit protestantischer Nüchternheit ist zu konstatieren, dass zwar Reformbereitschaft bei Papst Franziskus deutlich erkennbar ist, aber entsprechende Reformen noch nicht beschlossen oder gar umgesetzt sind. Dabei ist natürlich zuzugestehen, dass das in einem Apparat wie dem Vatikan eine schwierige Aufgabe darstellt. Es ist aber sicher noch zu früh, von Franziskus als einem Reformpapst zu sprechen, gerade wenn man auf manche seiner auch ökumenisch relevanten Personalentscheidungen im Vatikan schaut. Es herrscht zweifellos ein neuer Geist, ein anderer Ton. Aber dogmatisch wie strukturell sehe ich bislang unter dem neuen Papst noch keine wirklichen Reformen, mit einer wichtigen Ausnahme: Dass Franziskus sich dafür interessiert, wie die Gläubigen Ehe und Familie wirklich leben, statt sie vor allem mit den kirchlichen Normen zu konfrontieren, ist eine Sensation.

„Werden sich Morallehre und -verkündigung wirklich ändern?“

HK: Dadurch erhält innerhalb der katholischen Kirche die Auseinandersetzung darüber neue Nahrung, was gelebte Pluralität bedeutet und welcher Stellenwert normativen Festlegungen unter den heutigen Bedingungen zukommen kann. Sie holt damit sozusagen Diskussionen ein, die auf evangelischer Seite seit jeher gang und gäbe sind…

Gundlach: Die evangelische Kirche wird regelmäßig mit dem Vorwurf konfrontiert, sie liefere sich dem Zeitgeist aus, wenn sie darum bemüht ist, auf die Menschen zuzugehen und zu hören, was sie wirklich denken und wie sie tatsächlich leben. Dieser Vorwurf ist für die katholische Kirche etwas Neues, denn bisher war es gerade ihr besonderer Markenkern, sich gegenüber dem Zeitgeist abzugrenzen, sich vielmehr an Lehre und Tradition zu orientieren. Sie wird deshalb jetzt auch mit den entsprechenden Vorwürfen konfrontiert und tut sich damit ähnlich schwer wie wir. Offen bleibt natürlich die Frage nach dem Ergebnis dieses spannenden Prozesses: Werden sich Morallehre und -verkündigung wirklich verändern? Dabei darf sich der Blick im Übrigen nicht auf Deutschland beschränken. Der Papst steht vor der Aufgabe, eine weltweite Kirche zu integrieren und zusammenzuhalten.

HK: Kann man aber als Papst einen neuen Geist ausstrahlen, einen neuen Stil praktizieren, ohne dass davon auch die Glaubens- und Sittenlehre der Kirche tangiert würde? Wie lange kann die katholische Kirche die daraus entstehende Spannung aushalten?

Gundlach: Die römisch-katholische Kirche hält diese Spannung schon ziemlich lange durch; schließlich ist es nicht so, dass sie den Geist der Güte und Barmherzigkeit, den Papst Franziskus eindrucksvoll herausstellt, nicht auch schon vorher gekannt hätte. Es bestehen eben auch erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen regionalen Kontexten in der katholischen Weltkirche. Lateinamerikanische Katholiken sind vermutlich mit dem, was der Papst jetzt für die Gesamtkirche artikuliert, von vornherein aufgrund ihrer Erfahrungen besser vertraut. Es ist also nicht so, dass derzeit etwas geschieht, was die katholische Kirche noch nie ausgehalten hat. Da ist jetzt einfach jemand, der in einem neuen Ton neue Fragen stellt und das wird, wenn sich dieser Ton durchsetzen kann, die katholische Kirche verändern.

HK: Und inwiefern ist der neue Stil des Papstes, der innerkatholisch in seinen Konsequenzen für Streit sorgt, eine unmittelbare Herausforderung für die reformatorischen Kirchen? Können sie sich einfach mit der Haltung zurücklehnen, sie hätten bestimmte Dinge schon immer gewusst und die katholische Kirche müsse jetzt einfach manches nachholen?

Gundlach: Dieser Überheblichkeitsgestus steht uns keineswegs zu; wir sollten dem Papst zunächst einmal bei der Entwicklung seiner neuen Tonart zuhören. Ich denke dabei nicht zuletzt an ein Dokument wie „Evangelii Gaudium“. Das sind Texte, denen man gerade in ihrem geistlichen Gehalt über weite Strecken als Protestant nur zustimmen kann. Das Christliche wird dabei überzeugend ausgelegt; das ist allemal wichtiger als die Frage nach spezifischen konfessionellen Akzenten, seien sie katholisch oder protestantisch. Auch wir Protestanten haben übrigens gelegentlich eine recht autoritäre Haltung, mit der wir versuchen, der Gesellschaft oder bestimmten Mitgliedern der Gesellschaft beizubringen, wie der gegenüber dem Evangelium verantwortbare Weg aussieht. Und auch wenn wir in unserer Kirche kein vergleichbares Amt mit vergleichbarer Autorität haben, schadet es doch keiner Kirche, ermahnt zu werden, nicht päpstlicher als der Papst daherzukommen.

„Eine gewisse Unbefangenheit im Blick auf die ökumenischen Herausforderungen“

HK: Nach katholischem Verständnis kann ein Papst in der Kirche souverän schalten und walten. Zeigt sich nicht jetzt am Beispiel Franziskus, dass dieses Modell durchaus auch seine Vorzüge hat?

Gundlach: Die katholische Kirche hat eine hierarchische Struktur mit entsprechenden Durchgriffsrechten von der Spitze aus. Ob das praktisch funktioniert, ob man von einem Punkt aus die Kirche als ganze umgestalten kann, ist eine andere Frage. Es gibt ja heftige innerkatholische Diskussionen darüber, inwieweit sich Papst Franziskus in der eigenen Kirche wirklich durchsetzen kann. In der evangelischen Kirche liegen die Dinge jedenfalls grundsätzlich anders: Sie baut sich von unten, von den Gemeinden her auf und versucht, durch Transparenz und breite Beteiligung Entscheidungen herbeizuführen. Ich gebe zu, dass das mitunter mühsam ist. Aber auf dem protestantischen Hintergrund erscheint es ein wenig suspekt, mit wie vielen Hoffnungen jetzt gerade reformorientierte Katholiken auf einen Mann blicken und von ihm beinahe Wunderdinge erwarten. Diese Haltung können wir nur schwer nachvollziehen.

HK: Nun gäbe es auch in der Tradition der katholischen Kirche Elemente, die eine einseitige Akzentsetzung auf dem Papstamt korrigieren könnten, und das wäre durchaus im Sinn von Papst Franziskus…

Gundlach: Es wäre sehr zu hoffen, dass es ihm gelingt, die kirchlichen Strukturen in Richtung auf mehr Partizipation zu verändern und so etwas wie innerkirchliche Demokratie zu fördern. Es gibt ja bei Franziskus durchaus entsprechende Signale, etwa zur Dezentralisierung zugunsten regionaler Entscheidungsbefugnisse oder auch zur Aufwertung der Bischofssynoden. Das sind auch aus protestantischer Sicht verheißungsvolle Ansätze.

HK: Papst Franziskus kommt aus einem Subkontinent, auf dem bis vor wenigen Jahrzehnten Kirchen aus dem reformatorischen Spektrum nur eine untergeordnete Rolle spielten, auch in seinem Heimatland Argentinien. Welcher ökumenische Horizont ergibt sich unter diesen Voraussetzungen?

Gundlach: Die inzwischen in Lateinamerika stark vertretenen Pfingstkirchen sind auch Erben protestantischer Aufbrüche und diese Variante der reformatorischen Christenheit kennt Papst Franziskus durchaus aus eigener Anschauung. Papst Benedikt kannte sich in den klassischen ökumenischen Diskussionen zwischen der katholischen Kirche und den Reformationskirchen so gut aus, dass man davor nur Respekt haben konnte. Gleichzeitig hat er die Ökumene mit den reformatorischen Kirchen nicht vorangetrieben. Ich vermute, dass Papst Franziskus die ökumenische Gesprächslage in Europa nicht in gleichem Maß geläufig ist. Aber vielleicht gibt ihm gerade das eine gewisse Unbefangenheit und Freiheit im Blick auf die ökumenischen Herausforderungen, die Anlass zur Hoffnung geben.

HK: Dass jeder Christ und auch die Kirche insgesamt die Aufgabe der Evangelisierung neu ernst nimmt, ist eines der zentralen Anliegen des Papstes aus Lateinamerika. Müsste es auf dieser Ebene nicht einen ökumenischen Konsens geben, der den weiteren Bemühungen um die größere Gemeinschaft der Christen neuen Schwung verleihen könnte?

Gundlach: Auch unabhängig vom jetzigen Papst gilt, dass es bei uns doch eine etablierte und stabile Ökumene im seelsorgerlichen, missionarischen und auch im ethischen Bereich gibt – ebenso wie gemeinsame Krisen, die durch individuelle Fehler oder grundlegende Missstände der einen oder anderen Seite ausgelöst werden. Das Verkünden des Evangeliums als Frohe Botschaft für den Menschen und als Gegenwart Gottes in einer säkular gewordenen Welt ist darum umso mehr eine gemeinsame Grundaufgabe. Es gibt ja in unserer Gesellschaft eine zunehmende Indifferenz gegenüber der Religion, ein Nichtverhältnis ihr gegenüber, die uns massiv herausfordert. Benedikt XVI. hat anlässlich seines Besuches in Erfurt bei der Begegnung mit der EKD zu Recht daran erinnert, wie zentral heute die Gottesfrage ist. Im Blick auf diese wichtigen Aufgaben gibt es jetzt schon einen Konsens! Es ist auch gar nicht schlimm, dass wir mit der katholischen und protestantischen Frömmigkeit über zwei Varianten des Bezugs zum einen Grund Jesus Christus verfügen. In der konfessionellen Differenz liegt ja auch eine kreative Kraft, es werden jeweils unterschiedliche Menschen angesprochen und beteiligt. Deshalb empfinde ich die ökumenische Gemeinsamkeit an diesem Punkt als großen Reichtum.

„Unterschiedliche geistliche Einsichten können gut nebeneinander stehen bleiben“

HK: Papst Franziskus ist auf selbstverständliche Weise ka­tholisch, sei es durch seine Zugehörigkeit zum einstmals ­gegenreformatorischen Jesuitenorden, sei es durch seine von Lateinamerika geprägte Frömmigkeit, gerade auch die Marienfrömmigkeit. Muss das auf Protestanten nicht erst einmal ziemlich fremd wirken?

Gundlach: Zwischen katholischer Marienfrömmigkeit und protestantischer Christuszentriertheit liegt tatsächlich ein weiter Weg, auch wenn es im ökumenischen Dialog einige Versuche gibt, dieses spezifisch katholische Erbe Protestanten zu erschließen. Aber gleich, ob Sie die Marienfrömmigkeit oder die eucharistische Frömmigkeit nehmen: Es handelt sich um unterschiedliche geistliche Einsichten und spirituelle Frömmigkeitsstile, die gut nebeneinander stehen bleiben können und an denen in ökumenischer Hinsicht nichts scheitern muss.

HK: In seinem ersten Amtsjahr war Ökumene im engeren Sinn offenbar keine ausgesprochene Priorität für Papst Franziskus; im Vordergrund standen einerseits innerkatholische Fragen, andererseits gemeinchristliche Themen. Was ist von ihm für das ökumenische Geschäft zu erwarten?

Gundlach: Der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, war mit einer kleinen Delegation im April 2013 bei Papst Franziskus und hat ihn als einen Mann erlebt, der die Ökumene schätzt und würdigt. Wir würden uns in diesem Zusammenhang wünschen, dass die katholische Kirche im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 nicht ausschließlich die strittige Frage der Spaltung thematisiert, sondern auch den mit der ­Reformation verbundenen Reichtum der initiierten Ausdifferenzierungen in den Blick nimmt, von dem sie ja selber auch profitiert hat. Die Reformation hat so viel geschichtliche Wirkungskraft entfaltet, auch weil sie durch theologischen Widerspruch innerhalb und außerhalb ihrer Reihen immer klarer zu sich selbst gefunden hat. In letzter Zeit mehren sich aber die Signale, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist und die ökumenische Gemeinsamkeit im Blick auf 2017 noch deutlicher herausgestellt werden kann.

HK: Die derzeitige innerkatholische Diskussion um Papst Franziskus und seine Kirchenvision ist gleichzeitig auch eine Debatte über katholische Identität, in der im Gegenzug auch enggeführte Konzeptionen dieser Identität vertreten werden. Was bedeutet das für die Ökumene?

Gundlach: Es ist ja oft so, dass Öffnungen dann Gegenakzente produzieren. Vielleicht ist dies auch ein Grund für Franziskus, das Thema Ökumene jetzt nicht so sehr in den Vordergrund zu stellen, weil er genau diesen Mechanismus kennt. Wenn er auch noch ökumenisch einen Schritt voranginge, irgendeine Tür überraschend öffnen würde, könnte das Kritiker und Gegnern seines Kurses zusätzlich Munition liefern. Möglicherweise praktiziert er insofern aus Klugheit eine gewisse ökumenische Zurückhaltung.

HK: In den klassischen theologischen Kontroversfragen zwischen katholischer Kirche und Reformationskirchen hat man in den vergangenen Jahrzehnten intensiv gearbeitet und auch eine Reihe von Konvergenzen erzielt. Was stünde denn heute vorrangig auf der ökumenischen Tagesordnung?

Gundlach: Auf der einen Seite wünschen wir uns, dass in der katholischen Kirche auch offiziell eine andere Haltung zum Thema eucharistische Gastfreundschaft erarbeitet wird. Gerade für konfessionsverbindende Ehen wäre dies ein starkes, seelsorgerlich wichtiges Signal. Andererseits gibt es auch klassische Lehrfragen, die nach wie vor zwischen den Kirchen sehr strittig und deshalb virulent sind. Das gilt zuvörderst für das Amtsproblem und die Amtstheologie, hier stehen wir noch weit auseinander. Und zuletzt sind die Zielvisionen von ökumenischer Einheit der Kirchen strittig. Für Evangelische ist – wie in der Leuenberger Konkordie von 1973 ausgeführt – die gegenseitige Anerkennung als Kirchen ein zentraler Schritt, für die römisch-katholische Kirche bedeutet Einheit völlige Übereinstimmung im Kirchen- und Amtsverständnis. Es sieht deshalb nicht danach aus, als könnten wir hier im ökumenischen Gespräch bald einen Schritt vorankommen.

„Nicht Repräsentant der Christenheit, sondern des Humanum“

HK: Ökumene hat immer verschiedene Dimensionen, die alle ihren Wert haben: Theologische Gespräche, gemeinsames Auftreten in ethischen Fragen, missionarische Anstrengungen. Wo braucht es Nachbesserungen?

Gundlach: In vielen Bereichen des Ethischen gelingt die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche durchaus. Das Gemeinsame ist auch hier trotz weiterhin bestehender Unterschiede viel stärker als das Trennende. Das zeigt sich jetzt etwa bei der Reaktion auf die verhängnisvolle Entwicklung der Euthanasiegesetzgebung in Belgien oder in der Problematik der Flüchtlinge aus Syrien.

HK: Und wie sieht es mit dem Papstamt selber als ökumenischem Stolperstein aus? Wird es durch einen Papst wie Franziskus für Protestanten leichter, ein Amt der Einheit für die Christenheit positiv in den Blick zu nehmen?

Gundlach: Papst Franziskus ist mit manchem, was er sagt – ich nenne nur das Stichwort Lampedusa – nicht Repräsentant der Christenheit, sondern des Humanum. Als Protestant kann ich ganz vorbehaltlos sagen: Es ist wunderbar, dass es eine solche Stimme gibt! Mit einem Papst als Sprecher der Christenheit haben Protestanten dagegen Mühe, unabhängig von den jeweiligen Inhalten, die er vertritt. Nicht nur im Blick auf das Papstamt zeigt sich übrigens, dass das Amtsverständnis eine Last für unsere katholischen Geschwister ist. Ob sie den Zölibat nehmen oder die Lebensform von Priestern insgesamt: Die entsprechenden Probleme hängen alle mit der Grundfrage nach dem Amtsverständnis zusammen. Wir Protestanten können froh sein, dass wir diese Probleme nicht haben, womit ich nicht sagen will, dass wir in diesem Bereich keine Probleme hätten. Aber uns trägt das Grundverständnis vom Priestertum aller Getauften, das heißt Männer und Frauen, Verheiratete und zölibatär Lebende, Ordinierte wie Nicht-Ordinierte leiten die Kirche gemeinsam.

HK: Papst und Bischofskollegium verkörpern jeweils auf ihre Weise die universalkirchliche Dimension, die für die katholische Kirche kennzeichnend ist. Kann nicht gerade dieser Papst aus einem fernen Teil der einen katholischen Kirche Protestanten darauf aufmerksam machen, dass das weltkirchliche, länder­übergreifende Element bei ihnen selber nur relativ schwach ausgeprägt ist?

Gundlach: Im Zug der Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum 2017 wird uns noch einmal sehr bewusst, dass auch die reformatorisch geprägten Christen Weltkirche sind. Es gibt erfreulich viele Reaktionen auf die entsprechenden Vorbereitungen aus allen Teilen der Welt, „Wittenberg gehört uns allen“, hören wir von Korea bis Lateinamerika. Man merkt dabei auch, dass wir mehrsprachig werden müssen. Wir können nicht nur Deutsch reden, sondern müssen es auch auf Englisch, am besten noch auf Koreanisch tun! Wir deutschen Protestanten haben dieses weltkirchliche Element manchmal ein wenig unterschätzt; wir sind weltkirchlicher, als wir oft denken. Es ist uns zu wenig bewusst, dass ein Drittel aller Christen in der Welt Protestanten oder protestantisch geprägt sind.

HK: Es gäbe also in dieser Hinsicht durchaus noch deutsch-protestantischen Nachholbedarf…

Gundlach: Wenn man in Deutschland das Stichwort „Wittenberg“ erwähnt, kommt oft die Reaktion: Wo liegt denn das eigentlich? Geht man dagegen hinaus in die weltweite protestantische Gemeinschaft und spricht von Wittenberg, erhält man zur Antwort: Das sind wir, das ist unsere Identität! Dieser Unterschied zwischen Binnenperspektive und Außenperspektive ist signifikant und macht deutlich, was wir über unsere eigene Kirche neu lernen müssen. Im Übrigen haben wir im Blick auf die Geschichte des Jubiläums auch schwere Schatten zu erinnern; das nationale Element wurde seit 1817 und besonders 1917 völlig überbetont.

HK: Zu lernen haben alle Kirchen vor allem, dass sie sich auf den Kern ihrer Botschaft konzentrieren müssen, ohne es damit allen Leuten recht machen zu können, ihnen gleichzeitig aber mit aller Sensibilität zu begegnen. Können Gestalt und Stil von Papst Franziskus über die Konfessionsgrenzen hinweg dafür hilfreich sein?

Gundlach: Die evangelische Kirche macht verstärkt den Versuch, mit kirchen- und glaubensfernen Zeitgenossen ins Gespräch zu kommen, ohne sie gleich mit dem kompletten Credo und hohen Bekehrungserwartungen zu konfrontieren. Es geht eher darum, sie auf einen Weg in das Geheimnis des Lebens mitzunehmen, sie im Blick auf Transzendenz und Gott nachdenklich zu machen. Da kann Papst Franziskus mit seiner bescheidenen und zurückhaltenden Art faszinieren, die neugierig darauf macht, was diesen Mann prägt, was hinter seiner beeindruckenden Haltung steht. Ein solcher Lebensstil kann Menschen für die Frage nach dem Glauben, nach Gott und nach Jesus Christus öffnen. In der direkten Begegnung der Kirche mit dem Menschen gibt es im Übrigen kaum evangelisch-katholische Unterschiede: Wir wenden uns den Menschen mit ihren Geschichten tröstend und stärkend zu. Dass diese fundamentale Ökumene jetzt durch den Papst ans Licht gezogen und als Gemeinsamkeit bewusst gemacht wird, ist sehr hilfreich.

„Eine Beunruhigung der eingefahrenen Situation wäre durchaus wünschenswert“

HK: Inwieweit kann der Papst durch seine Verkündigung und sein Verhalten dazu beitragen, dass die Karten in der Ökumene neu gemischt werden, auch jenseits der gewohnten Wege in der Zusammenarbeit der Kirchen?

Gundlach: Eine Beunruhigung der eingefahrenen Situation wäre durchaus wünschenswert. Es täte uns gut, wenn durch diesen Papst vom „Rande der Welt“ neue ökumenische Fragen aufbrechen würden. Wir haben vieles bedacht, es ist vieles durchgearbeitet, es sind auch viele Grenzen deutlich geworden, an denen es im Augenblick nicht weitergeht. Insofern wäre ein „Durchschütteln“ der ökumenischen Verhältnisse segensreich.

HK: Und was hieße das für das Verhältnis der Christen und Kirchen in Deutschland, wo sich Katholiken und Protestanten als etwa gleich starke Blöcke gegenüberstehen? Wie sollten die großen Kirchen hierzulande miteinander umgehen, die ja beide gleichermaßen mit enormen Problemen zu kämpfen haben?

Gundlach: Beide großen Kirchen stehen letztlich vor der He­rausforderung, wie sie Identität stiften und gleichzeitig kommunikationsfähig bleiben beziehungsweise werden können. Wir sollten wieder stärker die geistliche und gesellschaftliche Bedeutung der christlichen Kirchen für unser Land, gerade auch im Umgang mit den Rändern der Gesellschaft, gemeinsam thematisieren. Den Aufbruch, der durch Papst Franziskus in seine Kirche hineinkommt, sehe ich dabei ohne Einschränkung als ein Hoffnungszeichen; er ist auch ein Beleg dafür, dass die katholische Kirche Wege findet, alle anderen immer mal wieder positiv zu überraschen.

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