Es ist eine Reform, vergleichbar mit der Neuübersetzung der Lutherbibel zum 500. Jahrestag der Reformation: Am 1. Advent wurde mit einem Gottesdienst in Wittenbergs Schlosskirche die neue „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ (OGTL) in allen Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eingeführt.
Die auch als „Perikopenordnung“ bekannte Richtlinie regelt, welche Bibeltexte an welchem Sonntag im Gottesdienst gelesen werden. Insgesamt gibt es für jeden Sonntag sechs Texte: Drei sind liturgischer Bestandteil des Gottesdienstes, nämlich ein Evangeliumstext, eine alttestamentliche Lesung und eine Epistel, also eine Lesung aus den Briefen des Neuen Testaments. Sie alle sind auf eine besondere Bedeutung des Sonntags im Kirchenjahr hin ausgerichtet, das so genannte Proprium, und damit aufeinander bezogen. Über einen dieser drei Texte soll dann gepredigt werden, im jährlichen Wechsel. Da sich die Predigttexte aber nicht alle drei Jahre wiederholen sollen, werden zusätzlich zum Proprium sonntags drei weitere Texte als Predigttexte vorgeschlagen. Damit gibt es insgesamt sechs Textreihen, so dass etwa über die Weihnachtsgeschichte nach Lukas im Idealfall nur alle sechs Jahre im Gottesdienst gepredigt wird, selbst wenn sie in den Lesungen jedes Jahr am Heiligen Abend zu hören ist. Zudem legt die Perikopenordnung fest, welche Wochenlieder im evangelischen Gottesdienst gesungen werden.
Zwischen der mit der Nordkirche verbundenen Nordschleswigschen Gemeinde im südlichen Dänemark und dem kirchlich zur bayerischen Landeskirche gehörenden österreichischen Kleinwalsertal ist die „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ somit ein verbindendes Element in der oft vielfältigen Landschaft des deutschen Protestantismus – weswegen die EKD und die konfessionellen Bünde UEK und VELKD auch ausgesprochen viel Energie in die Vorbereitung der Neufassung investierten. Schon 2010 ging man mit einer Fachtagung in Wuppertal an die Arbeit. Es folgte ein langer Konsultationsprozess. Pastorinnen und Pastoren in der ganzen EKD wurden befragt. Die letzte Perikopenordnung stammte aus dem Jahr 1979 – war 2010 also schon 30 Jahre alt.
Ein Drittel der Predigttexte kommt künftig aus dem Alten Testament
„Die Prediger haben sich vor allem mit der Epistelreihe schwergetan“, sagt Thies Gundlach, der theologische Vizepräsident im Kirchenamt der EKD. Ein ganzes Jahr lang waren als Predigttext Stücke aus den Briefen des Neuen Testaments vorgegeben. Vielen sei das zu redundant gewesen. „Das hat bisweilen zu Unwillen in der Pastorenschaft geführt.“ Und: Es fehlte an Predigttexten aus dem Alten Testament. Womit eine der wichtigsten Veränderungen der neuen Perikopenordnung, die vor ihrer Einführung auch noch ein Jahr lang in ausgewählten Gemeinden erprobt wurde, bereits genannt ist: die „Wiederentdeckung des Alten Testaments als Predigttext“, wie es Gundlach formuliert. Bislang stammte nur ein gutes Sechstel der Predigttexte aus der hebräischen Bibel. Künftig wird es ein Drittel sein.
Nach dem Aufsatz etwa des Berliner Theologen Notger Slenczka, der vor einigen Jahren formulierte, dass die christliche Gemeinde im Alten Testament gar nicht angesprochen sei, ist das ein wichtiges Signal – was freilich manchen Zeitgenossen noch nicht weit genug ging. Die „Konferenz der Landeskirchlichen Arbeitskreise Christen und Juden“ (KLAK) etwa hatte ein eigenes Modell für eine Perikopenrevision vorgestellt, das sogar dazu geführt hätte, dass die Mehrheit, nämlich sechzig Prozent, der Predigttexte aus dem Alten Testament gestammt hätte. „Das wäre für eine christliche Kirche dann aber auch schwierig geworden“, sagt Jochen Arnold, Direktor des „Michaelisklosters Hildesheim ‒ Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik“ der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers.
Doch die Erkenntnisse des jüdisch-christlichen Dialogs fließen nun in die evangelische Leseordnung stärker ein. Spürbar ist das etwa beim Israelsonntag, dem 10. Sonntag nach Trinitatis. Künftig gibt es zwei Varianten, wie dieser Tag gestaltet werden kann, sagt Arnold. „Als Gedenktag der Zerstörung Jerusalems – dann geht es um die Schuld der Kirche auch gegenüber den Juden – oder eben als Israelsonntag, der die besondere Verbundenheit zwischen Christen und Juden zum Ausdruck bringen soll.“ Als Evangelium sieht die neue Perikopenordnung nun das „Doppelgebot der Liebe“ aus dem Markusevangelium vor, in dem Jesus bekanntlich die Thora zitiert. Und als Epistel hören die Gottesdienstbesucher dann eine Stelle aus dem Brief des Paulus an die Römer, in der es darum geht, dass ganz Israel gerettet werden soll.
Was ebenfalls neu ist: Die Jahresreihen sind künftig durchmischt. Statt ein Jahr lang nur über Texte aus den Evangelien oder nur aus den Briefen zu predigen, wechseln sich die Textgattungen nun ab. Auch Psalmen können nun Predigttexte sein. Frauen tauchen stärker in den Predigttexten auf – etwa dadurch, dass nun auch das Buch Ruth in den Textreihen vorkommt. Aber auch apokryphe Texte, etwa aus dem Buch Jesus Sirach, können Thema der sonntäglichen Auslegung werden.
Ein Beispiel für Veränderungen ist auch der Sonntag „Kantate“ („Singet“!), der in der evangelischen Kirche der vierte Sonntag nach Ostern und so etwas wie der Kirchenmusik-Sonntag ist. „Einer der Predigttexte ist jetzt die Erzählung von Saul und David“, sagt Arnold. „David als Musiktherapeut, der den schwermütigen Saul mit der Harfe tröstet, darüber freue ich mich als Kirchenmusiker natürlich ganz besonders.“ Neu hinzugekommen sind auch die Tempelweihe des Salomo mit allerhand musizierendem und singendem Personal und ein Stück aus dem 19. Kapitel des Lukasevangeliums, in dem die Pharisäer den Jüngern den Mund verbieten wollen – und Jesus antwortet: „Wenn diese schweigen werden, dann werden die Steine schreien.“ „Das finde ich als Predigttext an diesem Sonntag ganz besonders spannend“, sagt Arnold.
Neuerungen gibt es in der Perikopenordnung auch bei den Wochenliedern. Ihre Zahl hat sich verdoppelt: Für jeden Sonntag stehen nun zwei Lieder zur Verfügung. Dabei wurde bewusst auch auf modernere Kirchenlieder Wert gelegt. So ist einer der Vorschläge für den Epiphaniastag etwa das 1963 von Hans Zoller komponierte „Stern über Bethlehem“, es steht gleichberechtigt neben dem Gesangbuchklassiker „Wie schön leuchtet der Morgenstern“, erstmals getextet 1597 von Philipp Nicolai. Und am Rogate-Sonntag steht neben Martin Luthers „Vater unser im Himmelreich“ nun das nicht nur in der freikirchlichen Szene äußerst populäre Anbetungslied „Bist zu uns wie ein Vater“. Im Evangelischen Gesangbuch freilich sucht man viele der modernen Lieder derzeit noch vergebens. Für die Nutzung im Gottesdienst ist deswegen ein eigenes Beiheft zu dem Gesangbuch erschienen, und da es in manchen Landeskirchen und teilweise sogar in einzelnen Kirchengemeinden noch eigene Liederhefte gibt, hat der geneigte Gottesdienstbesucher zuweilen bereits erhebliche Mengen Papier auf seinem Platz. Doch nach der Revision der Lutherbibel und der Revision der Perikopenordnung plant die EKD als nächsten Schritt ohnehin eine Revision des Gesangbuchs – die freilich erst irgendwann in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts fertiggestellt sein wird. „Wir nehmen mit den Wochenliedern hier auch noch nichts vorweg“, sagt Thies Gundlach. „Es ist aus meiner Sicht nicht zwingend erforderlich, dass ein Lied, nur weil es jetzt ein Wochenlied geworden ist, dann auch im neuen Stammteil des Gesangbuchs zu finden ist.“
Nicht mitgegangen wird dagegen der von den Katholiken nach dem Zweiten Vatikanum beschrittene Weg, sich auf lediglich drei Lesereihen zu beschränken: In der katholischen Kirche werden abwechselnd Stücke aus dem Markus-, dem Lukas- und dem Matthäusevangelium gelesen. An großen Festen ist Johannes zu hören. „Unsere Predigtkultur ist allerdings auch eine andere als die der katholischen Kirche“, sagt Gundlach. „Wir halten an der altkirchlichen Evangelientradition fest.“ Und Arnold ergänzt, dass es dafür auch noch einen anderen Grund gibt: Die Kantaten Johann Sebastian Bachs etwa seien auf bestimmte Sonntage und ihre Proprien ausgerichtet. Würde man sich an den Lesereihen der Katholiken orientieren, wären sie nur noch unter erschwerten Bedingungen im Gottesdienst verwendbar.
Neu sind in der evangelischen Perikopenordnung auch klassische Heiligenfeste wie der Martinstag oder der Nikolaustag: Sie werden in den evangelischen Kirchengemeinden seit einigen Jahrzehnten stärker begangen, als es früher der Fall war. Auch Kindergärten und Kindertagesstätten der Protestanten beispielsweise veranstalten heute Martinsumzüge. Und die Schokonikoläuse des katholischen Bonifatiuswerks werden auch in evangelischen Gemeinden verteilt. Damit ist allerdings keine Umdeutung der Heiligen in der evangelischen Kirche verbunden: Wie bisher sind sie nur Vorbilder im Glauben, um Fürbitte gebeten werden sie nicht. Erkennbar wird auch das an den Wochenliedern, die für die entsprechenden Feste vorgeschlagen werden. Mehrfach taucht hier ein von dem 2015 verstorbenen Theologen Jürgen Henkys gedichtetes Werk auf: „Die Heiligen, uns weit voran, haben hier nichts erworben, sie sind am Ende ihrer Bahn als Fremdlinge gestorben. Und glaubten doch, dass Gottes Hand, die sie bis dort geleitet, in einem bessren Vaterland die Stadt für sie bereitet.“ Evangelischer geht es an dieser Stelle dann wohl nicht.