Das Kirchenrecht angesichts von sexualisierter Gewalt und MachtmissbrauchEinklagbare Grundrechte

Ein Bekenntnis zu den Menschenrechten jeder Person, auch der Kinder und Jugendlichen, ist für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der Kirche unabdingbar.

Justitia mit Schwert und Waagschale
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Die Würde der menschlichen Person und die daraus folgenden Rechte betont Papst Pius XII. mitten im Zweiten Weltkrieg (Weihnachten 1942) gegen den Rassismus der Nazis. Die Kirche lernt in der Konfrontation mit dem Totalitarismus neue Prioritäten zu setzen. 1948 entfaltet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1949 das deutsche Grundgesetz diesen Gedanken der Würde und der daraus folgenden Grundrechte. Es waren unter anderem christliche Politiker, die den Menschenrechten zuerst in Europas Verfassungen eine Heimstatt gaben, betont der amerikanisch-jüdische Rechtshistoriker Samuel Moyn (Christian Human Rights, Philadelphia/Pennsylvania 2015).

Das Zweite Vatikanische Konzil nimmt die neue menschenrechtliche Argumentation ebenfalls auf: „Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer Zeit immer mehr zum Bewusstsein.“ (Dignitatis Humana, Nr. 1) Es wächst zudem das Bewusstsein der menschlichen Person, „Träger allgemeingültiger sowie unverletzlicher Rechte“ (Gaudium et spes, Nr. 26b) zu sein. „Die Menschenwürde und die daraus fließenden Rechte“ (Nostra Aetate [NA], Nr. 5) sind aber nur Makulatur, wenn sie nicht in einklagbare Rechte übersetzt werden, wie dies Papst Paul VI. im Grundgesetz der Kirche (Lex Ecclesiae Fundamentalis) in die Wege geleitet hat.

Alle Personen haben aufgrund ihrer Würde Rechte, auch die Kinder.

Das wird unterstrichen durch die Förderung und Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention durch den Heiligen Stuhl. Zusätzlich fordert die Päpstliche Kinderschutzkommission neben einer Anzeigepflicht und neuen Richtlinien die Schaffung eines unabhängigen kirchlichen Gerichts, vor dem auch Bischöfe angeklagt werden können, die sich der Vertuschung schuldig gemacht haben. „Untersuchungsverfahren sollten robust und transparent sein. Die Erfahrung zeigt, dass die (Richter) entsprechend erfahrene und qualifizierte Laien (Nichtkleriker) sein sollten, um die Unabhängigkeit zu gewährleisten“ (Pontifical Commission for the Protection of Minors, Guidelines Template, Version 2016.12, Nr. 9).

Diese Forderung der Kinderschutzkommission erinnert an Thomas von Aquin. Dem Scholastiker war das antike Gerechtigkeitsverständnis Ulpians vertraut: Gerechtigkeit sei der beständige und dauernde Wille, jedem sein Recht (nicht einfach: das Seine) zuzuteilen. Das heißt, auch jedem Kind, das durch einen priesterlichen Straftäter vergewaltigt und dessen Tat vertuscht wurde, muss zu seinem Recht verholfen werden. „Was dem andern gerechterweise geschuldet ist, was ihm (objektiv) gebührt, ist das nicht auch sein (subjektives) Recht?“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, Tübingen 2002, 328) Der Mensch verliert nach dem Empfang der Taufe nicht seine Menschenwürde und die daraus fließenden Rechte (NA 5). Denn „die Gnade zerstört nicht die Natur, sondern ergänzt und vervollkommnet sie“ (Thomas von Aquin, S. th., 221 IIa IIae, q. 10 a. 10).

Unerledigtes Zweites Vatikanum

Auf diesem rechtsphilosophisch-theologischen Fundament des Thomas haben die spanischen Klassiker des Naturrechts (Francisco de Vitoria OP [1492–1546] und Francisco Suárez SJ [1548–1617]) so etwas wie die Menschenrechte aller, sogar der versklavten Indios, entwickelt (Patrick Huser, Vernunft und Herrschaft, Münster 2011) Daran anknüpfend konnte das Konzil (1962–1965) zur Menschenrechtsanwältin werden. Papst Johannes XXIII. argumentiert in seiner Friedensenzyklika (Pacem in terris 1963) mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Er wollte kurz vor seinem Sterben (1963) sein Glaubensbekenntnis sprechen. Man erwartete das Credo in lateinischer oder italienischer Sprache. Es folgten unerwartete Sätze, die sein Mitarbeiter aufschrieb: „Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letzten Jahrhunderten, sind wir heute darauf ausgerichtet, dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf, in erster Linie und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen“ (Ludwig Kaufmann und Nikolaus Klein, Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis, Freiburg 1990; abgedruckt auf Buchdeckel). Ein solches Bekenntnis zu den Menschenrechten jeder Person, auch der Kinder und Jugendlichen, ist für die Aufarbeitung des Machtmissbrauchs von Priestern in der Kirche unabdingbar.

Die Kirche wollte sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine Verfassung, wörtlich ein Grundgesetz (Lex Ecclesiae Fundamentalis), geben. In dieser rechtlichen Umsetzung des Konzils durch Papst Paul VI. sind einklagbare Grundrechte und unabhängige Gerichte vorgesehen. Sowohl das 6. als auch das 7. Prinzip der Codex-Reform gründen auf der Würde der Person. Der Schutz der Personenrechte wird im 6. Prinzip festgehalten: „Wegen der fundamentalen Gleichheit aller Gläubigen und wegen der Verschiedenheit der Ämter und Dienste, die in der hierarchischen Ordnung der Kirche selbst grundgelegt ist, ist es förderlich, dass die Rechte der Personen in geeigneter Weise umschrieben und sichergestellt werden. Dies bringt mit sich, dass die Ausübung der Gewalt deutlicher als Dienst erscheint, ihre Anwendung besser gesichert und ihr Missbrauch ausgeschlossen wird“ (CIC/1983: Vorrede XLIII).

Das 7. Prinzip erweitert den Schutz subjektiver Rechte durch die Möglichkeit eines Einspruchs gegen Verwaltungsentscheidungen. In der ursprünglichen Formulierung von Papst Paul VI. und der Bischofssynode von 1967 sieht das Prinzip zum Schutz der Rechte der Gläubigen auch die Einrichtung von Verwaltungsgerichten vor. Bis heute wird das Fehlen der Möglichkeit der Verwaltungsbeschwerde auf Diözesanebene beklagt. Kompetenz, Vorgehensweise und Struktur der Verwaltungsgerichte sollten vom Gesetzgeber festgelegt werden. „Der Grund für diese Forderung liegt einerseits in der fehlenden Möglichkeit, gegen Verwaltungsakte kirchlicher Behörden Beschwerde einzulegen, und andererseits in der Tatsache, dass die Würde des Menschen und die Unverletzbarkeit seiner Rechte vom Zweiten Vatikanischen Konzil in besonderer Weise hervorgehoben werden“ (Markus Graulich, Unterwegs zu einer Theologie des Kirchenrechts, Paderborn 2006, 345) Diese Verteidigungsmöglichkeit der Rechte der Gläubigen gegenüber einer kirchlichen Verwaltung wurde geschaffen, um der möglichen Behördenwillkür entgegenzuwirken und die Rechtssicherheit zu fördern.

Einige Rechtsnormen des geltenden kirchlichen Rechts erschweren jedoch eine transparente Verfolgung von sexuellen Verbrechen von Priestern und Bischöfen in der Kirche direkt: Prekär ist die Tatsache, dass sexuelle Gewalt als Delikt nicht vorkommt. Es ist ein Verstoß „gegen das sechste Gebot des Dekalogs“ (c. 1395 § 2 CIC/1983). Warum wird sexuelle Vergewaltigung rechtlich weniger bestraft als eine versuchte Eheschließung eines Klerikers? Beide Tatbestände sind für das kanonische Recht Verstöße gegen das sechste Gebot (c. 1395 CIC/1983). Warum müssen in einem kirchlichen Verfahren bezüglich sexuellen Missbrauchs durch Kleriker alle wichtigen Stellen normalerweise mit Priestern besetzt werden? Diese Rechtslage verhindert so eine transparente Aufklärung der Verbrechen von Priestern und Bischöfen (c. 1421 § 1 CIC/1983), die die Päpstliche Kinderschutzkommission verlangt. Die Voruntersuchungsakten über die Straftat des Missbrauchs müssen im Geheimarchiv der Kurie abgelegt werden (c. 1719 CIC/1983). „Jährlich sind die Akten der Strafsachen in Sittlichkeitsverfahren, deren Angeklagte verstorben sind oder die seit einem Jahrzehnt durch Verurteilung abgeschlossen sind, zu vernichten; ein kurzer Tatbestandsbericht mit dem Wortlaut des Endurteils ist aufzubewahren“ (c. 489 § 2 CIC/1983). Nichttransparente Geheimhaltung gestattet es, anstehende Probleme intern zu lösen, so dass Laien normalerweise ausgeschlossen werden.

Dies zeigen auch die Ergebnisse der MHG-Studie, die die Deutsche Bischofskonferenz während ihrer Vollversammlung im September 2018 der Öffentlichkeit vorstellte. Bei einer solchen Rechtslage, die vor allem die Interessen der Institution und ihrer priesterlichen Amtsträger schützt, kommen die Menschenwürde und die entsprechenden Menschenrechte der Vergewaltigungsopfer gar nicht in den Blick. Nur vor priesterunabhängigen Gerichten, wie sie die Päpstliche Kinderschutzkommission verlangt, könnten die Grundrechte der vergewaltigten Kinder und Jugendlichen eingeklagt werden.

Der Film „Spotlight“ zeigt Kirchenrechtsgeschichte als Krimi der Aufdeckung des systemischen Verschweigens, bei dem Generalvikare, Bischofsvikare, Weihbischöfe und (Erz-)Bischöfe, Kardinäle und Ordensobere die mutmaßlichen Sexualverbrecher, wenn sie Priester waren, versetzten, so dass sie am neuen Ort mit den Sexualverbrechen gegen Kinder im Schutz der Kirche weiterfahren konnten und teilweise auch heute noch können, wie der im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigte Film von John Dickie „Hinter dem Altar. Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche“ zeigt, der auch die Leistungen Benedikts XVI. hervorhebt. Zu Beginn des Missbrauchsskandals (2002), als die Strukturen des Schweigens durch investigative Journalisten des „Boston Globe“ durchbrochen werden konnten („Spotlight“), wurde häufig nur auf Druck des staatlichen Rechts kirchliches Recht verändert.

„Sicher haben auch die Sorge um die Opfer und theologische Gründe bei der Entwicklung neuer Strategien und Verfahrensweisen mitgespielt. Doch sie waren nicht der entscheidende Punkt für den Paradigmenwechsel. Der eigentliche Grund, warum Leitlinien und ein neuer Maßnahmenkatalog eingeführt wurden, war der Druck, der vom staatlichen Recht ausging, und die Furcht kirchlicher Würdenträger vor einer möglichen Verhängung schwerer Strafen“, so der langjährige Dekan der Kanonistischen Fakultät der Universität Löwen, Rik Torfs (Klerikaler Kindesmissbrauch und das Zusammenwirken von staatlichem und kirchlichem Recht, in: Concilium 40 [2004] 344–354, 353). Auch eine andere internationale Organisation, der Weltfußballverband (FIFA), war erst bereit, erste nötige Strukturreformen gegen Korruption anzugehen, als bei einer Ablehnung der Reformen das amerikanische Departement of Justice suggerierte, es „würde die Fifa zur ‚kriminellen Organisation‘ degradieren“ (Elmar Wagner, vgl. Neue Zürcher Zeitung, 27. Feburar 2016), mit den entsprechenden unangenehmen Folgen für den Weltfußballverband.

Wenn die Bischofsversammlung im Februar 2019 den Opfern sexueller Gewalt von Priestern und Bischöfen in der Kirche kirchenrechtlich nicht gerecht werden kann, sind die Opfer moralisch verpflichtet, sich an staatliche Gerichte zu wenden, um zukünftige Opfer vor den 6 Prozent (USA) bis 7 Prozent (Australien) von Priestern in der Kirche zu schützen, die sexuelle Verbrechen im Rahmen der Kirche begehen. Nur so kann der Kinderschutz in der Kirche erhöht werden, solange sich die Kirche nicht selbst zu rechtlichen Kinderschutzmaßnahmen verpflichtet. Denn „Strukturen, die Missbrauch begünstigt hätten, seien allerdings teilweise nach wie vor nicht überwunden“, so der Koordinator des Forschungskonsortiums, der forensische Psychiater Harald Dreßing, bei der Vorstellung der Missbrauchsstudie der deutschen Bischöfe.

Die Opfer sexueller Gewalt von Bischöfen haben es besonders schwer, wie der aktuelle indische Fall des Bischofs von Jalandhar, Franco Mulakkal, zeigt. Zuerst war eine Ordensfrau, die den Bischof wegen zwölffachen Missbrauchs angezeigt hatte, selbst belastet worden. „Sie räche sich wegen eigenen Fehlverhaltens an dem promovierten Moraltheologen, behauptete die Kirchenführung und spielte den Namen des Opfers den Medien zu. Die Polizei verhörte die Ordensfrau fünf Mal, schonte aber den Bischof trotz mannigfachen Indizien. Erst nach Straßenprotesten und einem Hungerstreik von Nonnen schickten sich die Sicherheitskräfte an, ernsthaft gegen Mulakkal zu ermitteln. Ende September wurde er zwar in Untersuchungshaft genommen, doch am Montag wurde er gegen Kaution wieder entlassen“ (Marco Kauffmann Bossart, Neue Zürcher Zeitung, 18. Oktober 2018, 4). Es gilt die Unschuldsvermutung des Bischofs. Wenn Staat und Kirche gemeinsam den unabhängigen Gerichtsprozess verhindern wollen, gilt dann die Vermutung, dass der Bischof schuldig ist?

Der Stellenwert von Recht und Gerechtigkeit im Volk Gottes

Ein Anwalt der „Kleinen“ hat vor der Verführung mit drastischen Worten gewarnt: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde“ (Mk 9,42). Straffreiheit für priesterliche und bischöfliche Sexualverbrecher in der Kirche und für die Vertuscher der Sexualverbrechen in den Ordinariaten ist beim jüdischen Rabbi Jesus von Nazaret nicht vorgesehen. Schon der Prophet Amos lässt keinen Zweifel aufkommen, welchen Stellenwert Recht und Gerechtigkeit im Volk Gottes haben muss, wenn er den Bundesgott ausrufen lässt: „Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen (…) Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ (Am 5,21.23–24). Für Amos ist der wahre Gottesdienst Recht und Gerechtigkeit (Am 5,21–27).

Papst Johannes XXIII. setzt bei der Konzils-Eröffnungsrede an die Bischöfe und Kardinäle klare Prioritäten: „‚Euch muss es zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit gehen‘ (Mt 6,33). Dieses Wort ‚zuerst‘ macht uns aufmerksam, worauf wir unsere Überlegungen und Anstrengungen richten sollen (…). ‚Dann wird euch alles andere dazugegeben‘“ (Kaufmann und Klein, 116–150, 130).

Papst Franziskus nennt im Schreiben an das Volk Gottes (vom 20. August 2018) den „Machtmissbrauch“ der sexuellen Ausbeutung von Minderjährigen durch Priester „ein Verbrechen“. Er stellt fest, „dass die Wunden nie verschwinden und uns mit Nachdruck verpflichten, diese Gräueltaten zu verdammen, wie auch die Anstrengungen zu bündeln, um diese Kultur des Todes auszumerzen“. Die Missbrauchsberichte der verschiedenen Länder erinnern daran, dass einige der Opfer sexueller Gewalt durch Priester später Selbstmord begehen. Die Kultur des Todes ist hier also nicht symbolisch zu verstehen, sondern wörtlich. Dieses anormale Verständnis von Autorität in der Kirche wurzelt im Klerikalismus, jener Haltung, „‚die nicht nur die Persönlichkeit der Christen zunichte (macht), sondern dazu (neigt), die Taufgnade zu mindern und unterzubewerten, die der Heilige Geist in das Herz unseres Volkes eingegossen hat‘“.

Um die Taufgnade institutionell und damit rechtlich zu stärken, haben Papst Paul VI. und die Bischofssynode 1967 die einklagbaren Grundrechte und die unabhängigen Verwaltungsgerichte vorgesehen. Denn die theologische Kritik am Klerikalismus beginnt schon in der Heiligen Schrift. Der Zwölferkreis, an dessen Stelle die Bischöfe traten (Christus dominus, Nr. 2b), hatte „unterwegs darüber gesprochen, wer (von ihnen) der Größte sei. Da setzte er (Jesus) sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat“ (Mk 9,34–37).

Möge das mit 40-jähriger Verspätung in Kraft gesetzte Grundgesetz von Paul VI. (Lex Ecclesiae Fundamentalis) jene stärken, die den Klerikalismus institutionell und damit rechtlich überwinden wollen. Denn erst nach den kirchenrechtlichen Maßnahmen gegen den Klerikalismus wird man von der Nachkonzilskirche wieder sagen können, dass sie „zu einer der weltweit stärksten Kräfte für die Menschenwürde und die Menschenrechte geworden ist“ (Samuel Huntington 1991). Erst dann könnte die Kirche an ihre große eigene Rechtstradition anknüpfen, die die „rule of law“, die Rechtsstaatlichkeit, und die Rechtswissenschaft begründet hat (vgl. Adrian Loretan, www.feinschwarz.net/der-westen-wurzelt-in-der-westkirche/). Diese verlangt auch einen sachgerechten, fairen Umgang mit den Tätern und den Vertuschern. Es bestehen allerdings weiterhin große Zweifel, „ob es der katholischen Kirche gelingen wird, das Phänomen des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker zu verstehen, wenn sie nicht ihre anachronistische Sexualmoral und Homophobie überwindet“ (Hans-Ludwig Kröber, vgl. HK, Dezember 2018, 20–22, 22)

Die Neuorientierung könnte gelingen, wenn Gerechtigkeit nicht mehr aus Sicht des Täters, des Sünders gegen das sechste Gebot, sondern aus Sicht des Opfers verstanden wird. In diesem Fall erscheint Ungerechtigkeit nicht als Abwesenheit von Tugend (Aristoteles), sondern als Verweigerung der Anerkennung der Würde eines Menschen. Die Menschenrechte beziehungsweise die in einer Verfassung gewährten Grundrechte sind Indikatoren gegen den Machtmissbrauch von Amtsmacht, wie schon die Bischofssynode 1967 erkannte.

Die MHG-Studie habe eine Zäsur von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung eingeläutet, deren Ergebnisse für die jetzt anstehende Aufarbeitung von sexueller Gewalt gegen Minderjährige im kirchlichen Kontext von zentraler Bedeutung sei, so der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig,bei der Fachtagung „Präventionserprobt!? Katholische Kirche auf dem Weg zur nachhaltigen Prävention von sexualisierter Gewalt“ am 23. November 2018 in Köln. Ausdrücklich sagte er: „ Betroffene fordern zu Recht, dass das im kirchlichen Kontext ihnen angetane Unrecht endlich umfassend aufgeklärt wird – in Bezug auf verjährte wie nicht verjährte Sexualstraftaten.“

Können die Kirchen diese Aufarbeitung alleine regeln? „Oder sollte und könnte der Staat jetzt nicht viel stärker in die Mitverantwortung gehen mit Blick auf die starke Partnerschaft von Kirche und Staat? (…) Konkret könnten sich Kirche und Staat über Standards einer kontinuierlichen und achtsamen Betroffenenbeteiligung in den Aufarbeitungsprozessen verständigen sowie über konkrete Rechte Betroffener bei der individuellen und institutionellen Aufarbeitung oder auch über Ermittlungs- und Zugangsbefugnisse zu Unterlagen“, schlägt Rörig vor. Auch die bis heute ungelöste Frage der Entschädigungszahlungen sollte geklärt werden.

Lösungen dürfen aber nicht ausschließlich in nationalen Rechtsstaaten gefunden werden. Es gilt nun auf der Bischofsversammlung in Rom die Rechte der über 1,2 Milliarden Katholikinnen und Katholiken in einem Grundrechtskatalog zu sichern. Damit werden rechtliche Instrumente geschaffen, um den Macht- und Amtsmissbrauch in der Kirche weltweit zu bekämpfen, wie dies schon die Bischofssynode 1967 verlangte. Denn dem priesterlichen, prophetischen und königlichen Volk Gottes (c. 204 § 1 CIC/1983) soll in Zukunft keine sexuelle Gewalt angetan werden können, begründet in der absoluten Machtfülle von Leitungs- und Weihgewalt (c. 274 CIC/1983) der Diener Gottes.

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