
In der „Kurzen Story meiner Auferweckung“ beschrieb Thomas Hürlimann 2015 sein „Lazarus-Erlebnis“ und die persönliche Affinität zu dieser biblischen Figur des Dazwischen. Nach einer Krebsoperation und einem Nahtoderlebnis bekannte der Schweizer Autor im Gespräch: „Golgatha, das Sterben am Kreuz, die Kreuzabnahme, das leere Grab – all diese Bilder helfen mir, mein eigenes Leben zu verstehen. Ich erblicke dann Dinge, die ich ohne die Bibel und ihre Auswirkung auf die Kunst des Abendlandes gar nicht wahrnehmen könnte“ (HK, Juli 2016, 18-21).
Lazarus begegnet auch in Hürlimanns jüngstem Roman „Heimkehr“, doch im Zentrum dieses 522 Seiten starken, einfalls- und anspielungsreichen Buchs steht die Heimkehr eines verlorenen Sohns: „Nicht die Fremde war fremd, fremd war die Heimat, die man draußen für immer verlor. Das hatten schon Odysseus, Robinson und all die anderen, die eines Tages zurückgekehrt waren, bitter erfahren müssen. On ne revient jamais. Man blieb draußen. Für immer.“
Unfallbedingt wird die versuchte Versöhnung mit dem dominanten Vater gleich mehrmals erzählt. Heinrich Übel junior heißt der Erzähler, der mit seinem Autor das Geburtsdatum, den 21. Dezember 1950, teilt. In einer Februarnacht des Jahres 1989 verunglückt er auf eisglatter Straße in den Schweizer Bergen. Als er „aus der schlag- und schockbedingten Amnesie“ erwacht und wieder zu Sinnen kommt, ist er an der Südküste Siziliens. Wie ist er dahin gekommen? Was ist in der Unfallnacht passiert? Mit kriminalistischer Energie versucht Enrico junior, diese Erinnerungslücke zu schließen und Stück für Stück die verschlossene Kapsel seines Gedächtnisses zu öffnen.
Aus seinen 40 Gasthörersemestern an der Uni Zürich weiß er, dass Sizilien der Geburtsort des Philosophen Empedokles ist, der „noch vor Buddha den Seelenwandel gelehrt und durch seine Auferstehung beglaubigt“ hat. In einer irrwitzig-abgründigen Odyssee stolpert Heinrich in eine Liebesgeschichte, die ihn über Afrika bis in die DDR führt, wo kurz vor dem Mauerfall den Bonzen die Entmachtung durch „Pastoren und Jesus-Sandalen“ droht. In eigener Sache recherchierend breitet Übel junior immer neue Geschichten aus, nach Stichworten geordnete Blätter seiner 1000-seitigen Autobiografie führen zu den Vorfahren väter- und mütterlicherseits. Damit spinnt Hürlimann die in „Fräulein Stark“ (2001) und „Vierzig Rosen“ (2006) eingeführte Genealogie der in die Eidgenossenschaft eingewanderten jüdischen Konfektionistensippe Katz weiter, der Heinrichs Mutter Mimi entstammt. Lange tot geglaubt, taucht sie in der satirisch aufgespießten Zürcher TV-, Kunst- und Psychoszene auf.
„Heimkehr“ ist ein parodistisch-skurril überdrehter Bildungs-, ja, „ein burlesker Schelmen- und Entwicklungsroman, in dem alles möglich ist“ (Paul Jandl). Mit überbordender Fabulierlust fährt Hürlimann einen schier endlosen Reigen von Slapsticks und Klamauk auf, um den zentralen Grenzgang zwischen Leben und Tod von seiner Düsterkeit zu befreien, die existentielle Dringlichkeit des Romans in karnevaleske Heiterkeit aufzulösen.
Spätestens bei der dritten Begegnung mit dem dementen Vater ist der Realitätsgrad des Erzählten völlig ungewiss: Ist es tatsächlich wahr oder ein surrealer Traum, dass der heimgekehrte Filius aus den Händen des im Rollstuhl sitzenden Verhüterli-Fabrikanten das Zepter der Firma übernimmt? Gewissermaßen aus seinem Nahtoderlebnis heraus erzählt Hürlimanns Altersroman eine Lazarus-Geschichte um Leben und Tod und vor allem um das Dazwischen. Bis zum Schluss bleibt in der Schwebe, ob Heinrich dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen oder ein Grenzgänger ist zwischen dem Bereich der Toten und dem der Lebenden.
Mit biblisch-mythologischen Verweisen auf Lazarus und Empedokles, der seinen Glauben an den Weiterwandel durch einen Todessprung in den Ätna beglaubigte, schreibt sich der 68-jährige Hürlimann kühn an die andere Seite von Leben und Tod heran: „Wandelten wir wirklich weiter? Ging es von einer Existenz in die andere?“, überlegt Übel junior auf Sizilien, „alles Unsinn. Wahnsinn. Im besten Fall Poesie, meinetwegen Religion, jedenfalls nicht für einen aufgeklärten modernen Geist.“
„Wo fliegen wir hin, alter Knabe?“, fragt Heinrich am Ende Kater Dada, der ihm eine Reise „in den Frühling, in die Auferstehung und in eine neue Existenz“ versprach. „Auf die andere Seite“, antwortet die chauffierende Katze, „vom Tod ins Leben!“ Christoph Gellner