Am 6. Januar 2019 überreichte der Ökumenische Patriarch Bartholomäus in Istanbul Epifanius, dem Metropoliten von Kiew und Oberhaupt der Orthodoxen Kirche der Ukraine, den Tomos über die Autokephalie. Mit diesem feierlichen Akt wird ein Prozess besiegelt, der seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts andauerte und seit 2014 eine bemerkenswerte Dynamik gewonnen hatte: die Gründung einer selbständigen orthodoxen Kirche in der Ukraine. Die Kontroversen über diesen Prozess zeigen jedoch, dass die Entstehung dieser Kirche, ihrer Strukturen und Verortung erst am Anfang steht. Politische Verstrickungen und innerorthodoxe Diskussionen, vor allem aber der andauernde Krieg zwischen der Ukraine und Russland sorgen für enorme Herausforderungen für die Gläubigen und die Kirchenführer der beiden orthodoxen Kirchen in der Ukraine.
Frage der Unabhängigkeit seit über einem Jahrhundert diskutiert
Die Unabhängigkeit der orthodoxen Kirche in der Ukraine hat in den internationalen Medien besonders aufgrund ihrer politischen Implikationen Interesse geweckt. Auch wenn es sich bei der Loslösung einer Ortskirche von ihrer Mutterkirche zunächst um einen innerkirchlichen Prozess handelt, ist er doch in den meisten Fällen mit wichtigen gesellschaftlichen und politischen Bewegungen in einem Land verknüpft. Die Frage einer unabhängigen ukrainischen orthodoxen Kirche wird seit über einem Jahrhundert diskutiert und ist eng mit der Frage der nationalen Unabhängigkeit der Ukraine verbunden. Die in den Neunzigerjahren entstandene Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP) hat sich seit der Abspaltung vom Moskauer Patriarchat als nationale Kirche der Ukraine profiliert und wurde mit dieser Haltung von verschiedenen Präsidenten gefördert oder instrumentalisiert, obwohl sie von keiner orthodoxen Kirche in der Welt anerkannt war.
Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) gehört strukturell zum Patriarchat von Moskau und genießt laut Statuten eine „weitreichende Autonomie“. Ihre Verbindung mit Moskau, die vor allem durch die Berufung auf die gemeinsamen Wurzeln in der Kiewer Rus’ begründet wird, wurde ebenfalls unter verschiedenen pro-russischen Stimmungen politisch ausgenutzt. Als einzige kanonisch anerkannte orthodoxe Kirche in der Ukraine hatte sie zwar die meisten Gemeinden und kirchlichen Strukturen. Allerdings waren auch die UOK-KP und alle anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften in dem Allukrainischen Rat der Kirchen und Religionen vertreten, um wichtige gesellschaftspolitische Positionierungen einzubringen. Die historisch geprägte religiöse Vielfalt der Ukraine hatte trotz entsprechender Versuche die Entstehung einer Staatskirche oder dominanten Religion verhindert.
Die Revolution auf dem Maidan von 2013/2014, die russische Besetzung der Halbinsel Krim und der unerklärte Krieg in der Ostukraine haben die politische und gesellschaftliche Wahrnehmung der Kirchen verändert. Die eindeutige Loyalität zu dem ukrainischen Staat, seinen Grenzen und seinem Selbstbestimmungsrecht wurde zu einem maßgeblichen Kriterium der Akzeptanz der Kirchen durch die Gesellschaft. Während die UOK-KP und die kleinere Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UAOK) sich eindeutig mit den pro-europäischen Protesten solidarisch erklärten und die militärische Aggression Russlands deutlich verurteilten, blieb die UOK weitgehend neutral. Ihre Gläubigen befanden und befinden sich auf beiden Seiten des Konflikts, so dass eine klare Verurteilung für sie nicht in Frage kam. Dennoch sprach sie sich mehrfach ausdrücklich für die Achtung der nationalen Grenzen aus und unterzeichnete die entsprechenden Äußerungen des Ukrainischen Kirchenrates. Gleichzeitig ließ auch das Moskauer Patriarchat angesichts der Aggressionen des russischen Militärs keine Verurteilung verlauten, sondern sprach durchgehend von einem „Bruderkrieg“ innerhalb der Ukraine. Diese Neutralität beziehungsweise der Schulterschluss mit der russischen Regierung wurden unter den Gläubigen und Politikern in der Ukraine sehr sensibel wahrgenommen.
Als Petro Poroschenko im April 2018 zum wiederholten Mal den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomäus I., um die Gewährung der Autokephalie bat, hatte er die nachhaltige Vereinigung der ukrainischen Gesellschaft als zentrale Botschaft seines Wahlkampfes im Blick. Die unabhängige Kirche sollte auch die spirituelle Verbindung mit Moskau endgültig kappen. Die Anwesenheit Poroschenkos im Präsidium des Konzils der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) am 15. Dezember 2018 in Kiew und bei der Übergabe des Tomos am 6. Januar 2019 in Istanbul, vor allem aber seine Reden nach der Wahl des neuen Kirchenoberhaupts und nach der Übergabe des Tomos beweisen nachdrücklich, dass diese neue Kirche in der Agenda Poroschenkos nur als gesellschaftspolitisches Instrument vorkommt. Dabei ist seine einzige inhaltliche Idee für die neue Kirche die Abgrenzung von Russland, also die Ablehnung und Verteufelung von allem Russischen. Mit dem Vorwurf gegen die UOK, als politische Agenten Russlands nur russische Interessen zu vertreten, wird die ukrainische Identität von Millionen von Gläubigen der UOK ignoriert. Diese Rhetorik untergräbt die Idee der Einheit und wird die Spaltung innerhalb der ukrainischen Bevölkerung eher verschärfen als überwinden. Da diese Politisierung der neuen Kirche in der Gesellschaft sehr kritisch wahrgenommen wird, hängt die Zukunft der OKU davon ab, ob sie sich weiterhin für die Interessen der politischen Elite instrumentalisieren lässt.
Schwere Grenzüberschreitung
Mit der Entstehung der OKU ist der Bruch des Moskauer Patriarchats mit dem Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel für unabsehbare Zeit verfestigt. In den Augen des Moskauer Patriarchats hat sich der Ökumenische Patriarch mit der Anerkennung der Kirchenspalter der UOK-KP und der UAOK auf die Seite der Schismatiker gestellt und damit selbst aus der Kirchengemeinschaft mit Moskau bewegt. Das Eingreifen des Ökumenischen Patriarchats auf dem kanonischen Territorium des Moskauer Patriarchats gilt als schwere Grenzüberschreitung und wurde von Moskauer Seite sogar mit der Annexion der Krim verglichen – ein bemerkenswerter Vergleich, da die Annexion der Krim bisher vonder Russischen und der Ukrainischen Orthodoxen Kirche nicht offen benannt wurde.
Bisher ist keine andere orthodoxe Kirche dem Abbruch der Kommuniongemeinschaft mit dem Ökumenischen Patriarchat gefolgt, es handelt sich also um einen einseitigen Akt, nicht um ein Schisma. Allerdings hat bisher auch keine andere orthodoxe Kirche die Gründung der neuen autokephalen Kirche in der Ukraine offiziell begrüßt. Dieses Abwarten weist zum einen darauf hin, dass die politische Dimension des Konflikts sehr genau wahrgenommen wird und man keine weiteren schweren kirchlichen Zerwürfnisse aufgrund politischer Konflikte riskieren will. Zum anderen steht hinter der abwartenden Haltung auch das Bewusstsein der tieferliegenden ekklesiologischen Fragen hinter dem scheinbar lokalen Konflikt. Die nun in der Ukraine bestehenden parallelen Strukturen von zwei kanonischen orthodoxen Kirchen führen zu zahlreichen Fragen zum Verständnis von Einheit, mit denen sich orthodoxe Kirchen in der Diaspora seit vielen Jahren auseinandersetzen müssen, ohne dass es bisher zu einheitlichen Regelungen gekommen wäre.
Andere Konflikte wie um die orthodoxen Kirchen von Montenegro und Makedonien, oder aber auch neue Wirren um die Zugehörigkeit der orthodoxen Gemeinden in Westeuropa zeigen, dass die Situation der Ukraine als Katalysator für eine ganze Reihe brodelnder Konflikte wirken kann. Die OKU hat künftig einen Platz in der orthodoxen Kirchengemeinschaft und kann ihre Erfahrungen in die theologischen Diskussionen einbringen. Sie beansprucht, von der Moskauer Kirchenführung unabhängig das geistliche Erbe der Kiewer Rus’ theologisch durchdenken und profilieren zu können, auch durch eine größere Unabhängigkeit vom Staat und einen stärkeren Dialog mit der Gesellschaft.
Die Zukunft der Orthodoxie in der Ukraine wird maßgeblich davon abhängen, welche Möglichkeiten die orthodoxen Kirchen vor Ort finden, sowohl den theologischen Dialog über die Gestalt der ukrainischen Orthodoxie miteinander zu führen, als auch die gesellschaftliche Versöhnung in Zeiten des Krieges zu fördern. Beide Aufgaben brauchen viel Zeit, und sie können nur lokal gelöst werden.