Die ökumenische Gemeinschaft im burgundischen Taizé hat auch siebzig Jahre nach ihrer Gründung und zwölf Jahre nach dem Tod ihres charismatischen Gründers Roger Schutz nichts von ihrer Anziehungskraft auf junge Menschen verloren. Etwa hundert Brüder aus 25 Nationen leben in Taizé und in kleinen Fraternitäten im Senegal, in Kenia, Korea, Bangladesch, Brasilien, Kuba und Frankreich. In den Fraternitäten suchen sie die Nähe zur armen örtlichen Bevölkerung als Zeichen der Solidarität.
Woher kommt es, dass Woche für Woche auf dem Hügel in Taizé Tausende von Jugendlichen von April bis Oktober eine Woche lang in einfachen Holzhäusern und Zelten wohnend dreimal täglich am Gottesdienst teilnehmen, Bibeleinführungen zuhören, sich in internationalen Gruppen austauschen und über gesellschaftliche Fragen aus christlicher Perspektive miteinander sprechen? Es wäre falsch zu sagen, der Säkularisierungsschub sei an Taizé spurlos vorbeigegangen. Kamen in den Siebziger- und Achtzigerjahren christlich sozialisierte junge Erwachsene ab 18 Jahren zumeist einzeln oder in kleinen Gruppen mit eigener Anmeldung, so haben die Brüder inzwischen die Altersgrenze nach unten auf 15 Jahre gesetzt. Jugendliche kommen mit schulischen Religionskursen, kirchlichen Jugendgruppen, Firm- und Konfirmationskursen in Begleitung ihrer Religionslehrer oder Seelsorger nach Taizé. Die Brüder von Taizé tragen dann selber einen Teil zu der in der Familie oft kaum noch vorhandenen christlichen Sozialisation bei. „Uns ist dabei wichtig, dass Jugendliche freiwillig und nicht zwangsverpflichtet den Weg zu uns finden“, sagt Frère Timothée, einer der für die deutschen Jugendlichen zuständigen Brüder. Viele von denen, die als Jugendliche mit einer solchen Gruppe in Taizé waren, finden später als junge Erwachsene selbstständig den Weg zur Brudergemeinschaft in Burgund.
Kommunion für alle Getauften
Das zentrale Anliegen der ökumenischen Kommunität von Taizé ist die Einheit, die Überwindung der Spaltung in der Menschheit. Als der Gründer der Gemeinschaft Frère Roger im Jahr 1942 nach Taizé kam, half er im Krieg zuerst Flüchtlingen und kümmerte sich später nach dem Krieg um deutsche Kriegsgefangene. Die große Aufgabe der Brüdergemeinschaft wurde dann die Überwindung der Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten. Das geschah zu einer Zeit, als allein die Heirat zwischen einem Katholiken und einer Protestantin ein Drama darstellte und sich zu einer großen persönlichen und familiären Tragödie entwickeln konnte.
Die konfessionelle Spaltung, die sich in der Feier des Abendmahls, der Eucharistie liturgisch manifestiert, hat die Gemeinschaft für sich überwunden. In der ursprünglich protestantischen Brüdergemeinschaft leben heute katholische, anglikanische und evangelische Brüder. Die Kommunität hätte diese Versöhnung gerne umfassender erlebt. Frère Roger hatte 1968 „mit der Gewalt der Friedfertigen“ die katholische Kirche eindringlich angefragt, ob sie nicht die Exkommunikation der evangelischen Christen aufheben könne. In dem Buch „Dynamique du Provisoire“ schrieb er, es sei schmerzhaft, dass eine Kirche mit der Berufung zur Universalität und Katholizität ein Ort des Ausschlusses sei. In „Kampf und Kontemplation“ fragte er sich 1974, ob „sich als provisorische Lösung für die Übergangsgeneration etwa die Möglichkeit einer ‚doppelten Zugehörigkeit‘ erwägen“ ließe. Nachdem klar wurde, dass sich das alles nicht verwirklichen ließ, haben die Brüder in Taizé einen modus vivendi gefunden, der beiden großen Konfessionen etwas abverlangt.
Im Morgengebet werden das eucharistische Brot und der konsekrierte Wein aus der katholischen Eucharistiefeier gereicht, die vorher stattgefunden hat. Das ist für einzelne Protestanten eine nicht leicht nachvollziehbare Form. Diese Kommunion wird ohne Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten allen Getauften gereicht, die – so heißt es im Aushang am Eingang der Kirche ‒ „darauf vertrauen, dass Christus selbst es ist, der sich uns gibt und den wir empfangen, und die sich nach sichtbarer Einheit all derer sehnen, die Christus lieben“. Das wiederum ist für konservative Katholiken eine „Zumutung“.
Der Gemeinschaft ist es ein Anliegen, dass christliches Leben nicht Menschen ausschließt. Das ist ihnen liturgisch mit Blick auf die verschiedenen Konfessionen und sogar mit Blick auf nichtgetaufte Gottesdienstteilnehmer gelungen. Für die zunehmend nach Taizé kommenden Nichtgetauften wird neben dem eucharistischen Brot und dem eucharistischen Wein gesegnetes Brot in Körben gereicht, was an eine Tradition aus den orthodoxen Kirchen anknüpft. Dazu steht am Eingang der Versöhnungskirche folgende Erläuterung angeschlagen: „Das gesegnete Brot, das Jugendliche an verschiedenen Stellen der Kirche anbieten, ist für alle, für diejenigen, die bereits die Kommunion empfangen haben, genauso wie für diejenigen, die sie nicht empfangen. Es ist ein Zeichen dafür, dass Christus niemanden abweist, sondern jeden willkommen heißt, so wie er in der Wüste die vielen Menschen willkommen hieß und ihnen Brot gab.“ Die Eucharistiefrage wird in Taizé kaum noch thematisiert; die meisten jungen Menschen, die an den Taizétreffen teilnehmen, würden sie nicht verstehen. Sie leben in einem postökumenischen Zeitalter. Die Spaltung der Kirchen ist für sie unverständlich.
Es sind neue Spaltungen, Verwundungen und Trennungen, die junge Menschen prägen und auf die sie in Taizé Antworten suchen: die persönlichen Spannungen und Spaltungen, die Menschen in sich selbst etwa durch Trennungs- und Scheidungserfahrungen in ihren Familien erleiden, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, wie sie am Beispiel zwischen christlichen und muslimischen Gruppen deutlich werden, sowie die Herausforderung durch eine agnostische und atheistische Umwelt.
Viele Texte von Frère Roger gehen auf die Frage ein, wie sich der Mensch inmitten persönlicher Spannungen mit seinen Mitmenschen und mit Gott versöhnen kann. Wie dieses Thema heute in Taizé aufgegriffen wird, zeigt sich bei einem Workshop über Traumata. Eine junge Irakerin, die über Spiritualität und Traumata in den USA promoviert, berichtet von der ganz persönlichen traumatischen Erfahrung, dass ihr Bruder in Gegenwart eines Großteils der Familie mit 32 Schüssen von Extremisten des Islamischen Staates erschossen wurde. „Mit dieser schlimmen Erfahrung werde ich mein Leben lang zu tun haben“, sagt sie. Ein junger deutscher Theologe beginnt mit einer persönlichen Erfahrung: Beim Tod seines Vaters erfährt er, dass dieser Vater nicht nur seine Mutter zur Frau hatte, sondern auch noch heimlich eine zweite Beziehung lebte, die er im Verborgenen gehalten hatte. „Ich musste lernen, mit dieser Wahrheit zu leben und einen Weg zu finden, meinem Vater zu verzeihen.“ In dem Workshop, an dem circa 300 junge Menschen teilnehmen, werden die Anwesenden gefragt, welche persönlichen Verletzungen sie mitbringen und es wird vorgeschlagen, sich mit den Nachbarn, soweit man mag, darüber auszutauschen. Ein junger Mann erzählt in der Kleingruppe, wie er und seine vier Geschwister damit zu leben haben, dass der Vater die Familie wegen einer anderen Frau verlassen hat. „Ich weiß noch nicht, ob ich ihm verzeihen kann“, sagt er. Plötzlich entsteht eine ganz dichte Atmosphäre im Raum und die beiden Workshopleiter beginnen ihre Ausführungen über die Versöhnung angesichts persönlicher, sozialer und politischer Traumata.
„Verzeihen ist nicht Vergessen; es ist ein Erinnern auf eine andere Weise.“ Verzeihung sei ein Geschenk, um das wir beten können. „Niemand kann dich zwingen, zu verzeihen, und du brauchst eine innere Bereitschaft, um dich heilen zu lassen, aber du kannst diese Heilung auch nicht selbst erzwingen.“ Die Spaltungen zwischen Menschen bewirken auch Brüche innerhalb der einzelnen Person. Gerade Menschen mit seelischen Verletzungen sollen in Taizé die Liebe Gottes spüren, die er ausnahmslos jedem Menschen entgegenbringt.
Kein Ort der Nostalgie
Als Frère Roger und die ersten Brüder die Gemeinschaft gründeten und auch als 20 Jahre später die Kirche der Versöhnung in den Sechzigerjahren gebaut wurde, war die Traumaforschung noch nicht bekannt. Was die Lebendigkeit der Taizé-Gemeinschaft ausmacht, ist, dass die Berufung zur Versöhnung immer wieder neu durchbuchstabiert wird. Indem die Brüder neue Herausforderungen aufgreifen, bleiben sie ihrer Berufung treu. Man könnte sich auch Taizé als einen Ort vorstellen, der die dort erkennbare Versöhnung zwischen Katholiken und Protestanten konserviert; es wäre ein Ort der Besichtigung, zu dem viele kommen und gleichzeitig die schönen Lieder in den Gottesdiensten genießen. Dann wäre es ein Ort der Nostalgie und des spirituellen Konsums. Aber hier wird Menschen Raum gegeben, ihre innersten Spannungen und Verwundungen auszudrücken. Junge Menschen fühlen sich angesprochen und spüren die Notwendigkeit der Versöhnung in ihrer Seele. Besonders deutlich wird dies bei dem Gebet vor dem Kreuz am Freitagabend. Die Kreuz-Ikone wird in die Mitte der Kirche gelegt und viele der jungen Menschen, die eine Woche auf dem Hügel in Taizé verbringen, stellen sich in langen Schlangen an, um beim Gesang der Taizé-Lieder nach vorne zum Kreuz zu kommen und ihre Stirn auf das Kreuz zu legen. Mit dieser Geste überlassen sie sich Christus und geben ihre Sorgen und persönlichen Nöte an ihn ab.
Eine weitere Herausforderung, der die ökumenische Gemeinschaft von Taizé sich stellt, ist die gesellschaftlich angespannte Beziehung zum Islam. Erste Erfahrungen im Zusammenleben mit Muslimen sammelten Taizébrüder bereits in den Sechzigerjahren in Fraternitäten in Algerien. Unter Muslimen zu leben war auch eine Hauptmotivation für die Bildung einer Fraternität im Norden Kameruns. „Gott wirkt in den Muslimen“, sagte der verstorbene Frère Denis auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen in den interreligiösen Begegnungen in Afrika. Auch die Fraternität in Bangladesch bringt sich in den interreligiösen Dialog ein. Zum Imam in Chalon bestehen langjährige gute Beziehungen. Mit den Schulklassen kommen auch muslimische Schülerinnen und Schüler nach Taizé. Kirchliche Flüchtlingsinitiativen aus Deutschland bringen muslimische Geflüchtete mit nach Taizé; sie wollen ihnen einen spirituellen christlichen Ort zeigen, an dem dreimal täglich gebetet wird.
Im März 2019 findet ein Taizétreffen im Libanon mit voraussichtlich 1000 jungen Erwachsenen statt, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die lange Erfahrung des Zusammenlebens von Christen mit den verschiedenen muslimischen Gemeinschaften im Libanon kennenlernen können. Durch die Beziehung zur französischen Dialoginitiative „coexister“ und zur „Groupe d’Amitié Islamo-Chrétienne“ (Gruppe christlich-islamischer Freundschaft) entstand die Idee zur Organisation von Treffen mit christlichen und muslimischen jungen Menschen. Diese finden seit drei Jahren einmal jährlich im Sommer statt. Theologisch hatte Frère Roger immer betont, dass Christus für alle Menschen gestorben ist und dass der auferstandene Christus in allen Menschen gegenwärtig ist.
Bei den christlich-islamischen Treffen wird bewusst auch der Kontakt zu spirituellen Richtungen des Islams gesucht. In einem Workshop über Maria als Brücke zwischen Christentum und Islam legt ein muslimischer Ethiker aus Paris Koran-Suren sowohl historisch-kritisch als auch spirituell aus. Maria deutet er als Mutter für uns alle, die das Wort Gottes, Jesus, in sich trägt. In einem anderen Workshop zum Thema „Die Religion und das Recht“ werden Schwierigkeiten im christlich-islamischen Dialog thematisiert und bewusst nicht unter den Teppich gekehrt. Ob es möglich sei, dass ein praktizierender Christ und eine praktizierende Muslima heiraten, wurde gefragt. Die französische „Gruppe der christlich-muslimischen Freundschaft“ verwies darauf, dass ein solches Paar mit vielen Schwierigkeiten zu rechnen habe, dass ihre Organisation jedoch Rat und Unterstützung für solche religionsverbindenden Ehen anbiete.
Die jungen Menschen, die nach Taizé kommen, zeigen eine hohe Sensibilität für die Diskriminierung von Menschen. Das Bewusstsein für Ungerechtigkeit steigt wieder. Die Brüder nehmen diese wachsende politische Sensibilität wahr und greifen sie auf, indem sie Fachleute aus Wirtschaft, Kultur und Politik zu Workshops einladen. Als ein französischer Europapolitiker seine Überlegungen zur europäischen Verteidigungs- und Flüchtlingspolitik erläutert, entsteht eine heftige Diskussion mit den jungen Erwachsenen im Workshop, die aber doch von gegenseitigem Respekt getragen ist. „Ihr müsst euch stärker in die Politik einmischen, wenn ihr eure Vorstellungen durchsetzen wollt,“ fordert der Europapolitiker die Zuhörer auf. Taizé ist wieder deutlich „politischer“ geworden, weil auch die Jugendlichen jetzt mehr politisches Interesse zeigen.
„Junge Menschen müssen das Gefühl haben, gebraucht zu werden“
Besuche von bedrängten und verfolgten Christinnen und Christen in atheistischen Staaten haben bei der Brüdergemeinschaft von Taizé eine lange Tradition. Eine von der Bruderschaft geförderte historische Arbeitsgruppe trägt derzeit zusammen, wie Brüder und ausgesandte junge Erwachsene zur Zeit des Eisernen Vorhangs unter anderem in der DDR, in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der UdSSR christliche Gruppen besuchten und diese in ihrem Engagement ermutigten. Frère Rudolf – heute 82 Jahre alt – gehörte zu denen, die unermüdlich reisten und unter größter Verschwiegenheit andere junge Menschen zu solchen Reisen ermutigten. Auch das ist ein Kennzeichen von Taizé. Jungen Menschen wurde und wird enorm viel Verantwortung übertragen. Auf der römischen Bischofssynode zur Jugend hat es der heutige Prior und Nachfolger von Frère Roger, Frère Alois, so ausgedrückt: „Vielleicht können junge Menschen nur wirklich sie selber sein, wenn sie das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Sie müssen ihre Kreativität bestätigt sehen und Verantwortung übertragen bekommen.“
Nach wie vor reisen Brüder der Gemeinschaft sowie ausgesandte junge Menschen in Gesellschaften, in denen Christen verfolgt werden. Intensiv bemüht sich die Kommunität beispielsweise um Beziehungen zu Christen in China. Die Religionspolitik ist wieder strikter geworden und Jugendliche können nicht mehr problemlos ins Ausland zu religiösen Treffen reisen. So wurde Hong Kong als Ort für ein Jugendtreffen gewählt, weil Hong Kong liberaler und für Festlandchinesen erreichbar ist. Taizélieder waren in die chinesische Sprache übersetzt worden, und dann fand im Sommer 2018 ein großes internationales Jugendtreffen in Hong Kong statt, an dem siebenhundert Jugendliche vom Festland teilnahmen.
Gibt es einen Schlüssel für den Erfolg von Taizé? Frère Alois gab auf der Bischofssynode einen Hinweis: Jugendliche brauchen Menschen, die ihnen zuhören, ohne sie zu vereinnahmen. Dieses nichtmanipulative Zuhören geschieht in Taizé intensiv. Nach jedem Abendgebet verteilen sich Brüder und auch Ordensschwestern, die auf dem Hügel in Taizé mitleben, im Kirchenraum und stehen für Gespräche zur Verfügung. Das Zuhören ist eine spirituelle Haltung. Durch intensives Zuhören und das Hinhören auf die innerste Stimme kann der Mensch mit Gott in Beziehung treten, denn Gott zeigt sich in dieser innersten Stimme. Den Brüdern geht es nicht darum, den jungen Menschen den richtigen Weg für ihr Leben zu zeigen. „Wir sagen uns“, so Frère Alois, „hören wir ihnen, wie Christus, mit unserem Herzen zu und denken wir daran, dass Christus bereits in ihrem Leben am Wirken ist – achten wir ihr Gewissen wie etwas Heiliges!“
Diesen Respekt und das Vertrauen der Brüder, dass die Jugendlichen selber ihren Weg finden werden, spüren die jungen Menschen. Wenn es im Gottesdienst eine sieben- bis zehnminütige Stille gibt, ist es erstaunlich, wie ernsthaft die Anwesenden – gläubige Christen, Suchende und zunehmend auch Angehörige anderer Religionen – in dieser Stille verharren. Die Stille gibt jedem die Möglichkeit, auf die innerste Stimme zu hören. Dann „ist der auferstandene Christus mit jedem verbunden: selbst mit dem, der sich dessen nicht bewusst ist“ (Frère Alois).