Stigmatisierung psychischer ErkrankungenBezeichnende Gesellschaft, gezeichneter Mensch

Jeder dritte bis vierte Mensch in Deutschland leidet im Verlauf seines Lebens unter einer psychischen Störung. Durch die Stigmatisierung verschlimmert sich die Situation. Eine verbesserte Versorgung tut not. Politik und Gesellschaft sind gefragt.

Jemand sitzt mit angezogenen Beinen vor einer Wand.
© Pixabay

Mitte Dezember 2018 hat das Bundeskabinett den Bericht „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin für das Berichtsjahr 2017 verabschiedet. Alarmierend ist, dass sich die Anzahl an Arbeitnehmern, die aufgrund psychischer Erkrankungen ausfallen mussten, in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt hat. Solche Befunde lassen sich nicht auf die einzelnen Betroffenen und deren individuelle seelische Disposition oder deren persönliche Lebensumstände abwälzen, sondern sie haben eine gesellschaftliche Dimension. Sie bedürfen der politischen Aufmerksamkeit. Dabei sind sowohl Präventions- und Arbeitsschutzmaßnahmen als auch eine angemessene psychotherapeutische Versorgung in den Blick zu nehmen, die neben der Qualitätssicherung den Zugang sowie die Anzahl an Therapieplätzen betrifft.

Der Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, durch eine vorinstanzliche Begutachtung mit Therapeutenzuweisung eine bessere Versorgung zu ermöglichen, stößt allerdings auf erheblichen Widerstand. Denn der Entwurf zum Terminservice- und Versorgungsgesetz drohe, so die Kritiker, die Hürden noch zu erhöhen, die passende Therapeutenwahl zu erschweren und letztlich die Erkrankten noch weiter auszugrenzen, wenn man dies mit der Versorgungspraxis bei somatischen Erkrankungen vergleicht. Damit würde aber gerade das Gegenteil erreicht und zumindest eine latente Diskriminierung gefördert. Ausgrenzung und Stigmatisierung führen jedoch dazu, dass sich das Leiden und die Situation der Betroffenen noch mehr verschlechtern.

Psychische Störungen wirken sich nicht nur auf die erkrankten Personen selbst, sondern auch auf ihre Angehörigen und das Umfeld aus. Darüber hinaus sind auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen beträchtlich. Dies zeigt bereits ein kurzer Blick auf die gesundheitsstatistischen Zahlen. Denn volkswirtschaftlich betrachtet zählen psychische Erkrankungen zu jenen Krankheitsgruppen, die die höchsten Kosten verursachen. Die Krankheitskostenrechnung gemäß dem Statistischen Bundesamt ist eine Abschätzung der ökonomischen Folgen von Krankheiten, die die deutsche Volkswirtschaft betreffen. Dazu zählen die Kosten, die unmittelbar mit einer medizinischen Heilbehandlung sowie mit Präventions-, Rehabilitations- oder Pflegemaßnahmen verbunden sind.

Gemäß den Angaben des Statistischen Bundesamtes betrugen diese Krankheitskosten im Jahr 2015 allein in Deutschland 44,4 Milliarden Euro; das entspricht einem Anteil von 13,1 Prozent der gesamten Krankheitskosten (338,2 Milliarden Euro). Lediglich bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren die Kosten ein wenig höher. Gemäß der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin lässt sich feststellen, dass im Jahr 2017 insgesamt etwa 16 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage auf psychische und Verhaltensstörungen zurückgingen. In absoluten Zahlen sind das etwa 107 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage. Errechnet werden Produktionsausfallkosten von etwa 12,2 Milliarden Euro und ein Ausfall an Bruttowertschöpfung von 21,7 Milliarden Euro. Lediglich die Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes übertreffen diese Werte. Hier sind es nämlich 150,4 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage.

Psychische Störungen zählen schließlich mit Abstand zu der häufigsten krankheitsbedingten Ursache für verminderte Erwerbsfähigkeit. Von 1993 bis 2017 lässt sich ein weitgehend kontinuierlicher Anstieg von jährlich 41 409 auf 71 300 Personen feststellen, also ein Zuwachs von über 70 Prozent. Diese Krankheitsklasse macht rund 43 Prozent aller Rentenfälle wegen verminderter Erwerbsfähigkeit im Jahr 2017 aus. Im Vergleich dazu fällt die zweithäufigste Krankheitsklasse, Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes, mit 12,9 Prozent deutlich geringer aus.

Blickt man auf den Arbeitsmarkt, dann zeigt sich, dass vor allem Personen betroffen sind, die im Gesundheits- und Sozialwesen, im Bildungssektor, in der öffentlichen Verwaltung oder im Dienstleistungssektor tätig sind. Diese Branchen stellen eine wichtige Säule in der modernen Arbeitsmarktgesellschaft dar.

Wirksame Strategie zur Prävention ist noch nicht gefunden

Gleichwohl zeigen die gesundheitsstatistischen und gesundheitsökonomischen Befunde, dass eine angemessene und wirksame Strategie zur Prävention noch nicht gefunden ist. Ganz im Gegenteil. Vielmehr lässt sich ein Anstieg der Fallzahlen psychischer Erkrankungen zwischen 35 und 45 Prozent allein in den letzten zehn Jahren beobachten. Das ist mit Abstand die höchste Zuwachsrate im Vergleich zu den anderen Krankheitsklassen. Allerdings ist hier vor linearen und einfachen Erklärungsversuchen zu warnen. Gerade das komplexe und vielschichtige Zusammenspiel von leibseelischen, psychosozialen, soziokulturellen und ökonomischen Faktoren weist eindimensionale Erklärungshypothesen und Bewältigungsstrategien als zu kurz aus.

Bereits diese wenigen statistischen Befunde zeigen zweierlei: Erstens, psychische Störungen stellen persönlich, psychosozial, gesellschaftlich und volkswirtschaftlich eine große Herausforderung dar. Und zweitens, es ist nicht unüblich, mit psychischen Erkrankungen zu tun zu haben. Als Ursachen für diesen Anstieg müssen unterschiedliche Faktoren in Betracht gezogen werden. Als Erstes ist insbesondere eine Sensibilisierung für psychische Erkrankungen überhaupt zu nennen mit der Folge, dass mehr medizinisch-therapeutische Hilfe aufgesucht wird. Überdies differenziert sich das Diagnosesystem weiter aus, so dass neue Erkrankungen definiert und dann auch diagnostiziert werden können. Außerdem ist von Zuschreibungsverschiebungen auszugehen; demnach werden mitunter körperliche Beschwerden, die früher rein somatisch erklärt wurden, nun als körperliche Symptome einer psychischen oder psychosomatischen Erkrankung bestimmt und entsprechend anders klassifiziert, so dass – und das ist ebenso medizinisch wie ethisch relevant – dementsprechend auch andere Therapiemaßnahmen und Versorgungsleitungen angezeigt sind.

Ferner dürfen auch ökonomische Interessen nicht unterschätzt werden. Schließlich wird diskutiert, ob nicht auch die veränderten Bedingungen der Arbeits- und Lebenswelt das Aufkommen psychischer Erkrankungen – auch bereits bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Schule und Studium – begünstigen. Mit Verweis auf eine zunehmende, die gesamte Lebenswelt okkupierende Ökonomisierung scheinen erhöhter Leistungsdruck, Beschleunigung und Hektik, der Imperativ zur Selbstoptimierung, Zukunftsunsicherheiten und anderes mehr ebenfalls die leibseelische Gesundheit anzugreifen und an den Widerstandskräften zu zehren. Die Folge ist ein erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken. Aber auch der umgekehrte Fall wie Unterforderung, Arbeitslosigkeit oder mangelnde Strukturierung beziehungsweise Rhythmisierung des Alltags können krank machen.

Wenngleich also der Anstieg psychischer Störungen vielschichtig ist und kontrovers diskutiert wird, lassen sich die Befunde nicht ignorieren. Denn es ist auch mit gegenläufigen Tendenzen und einer hohen Dunkelziffer zu rechnen. So werden aus Sorge vor Stigmatisierung, Ausgrenzung und Bagatellisierung psychische Erkrankungen mitunter durch den Vorschub anderer Diagnosen zu verschleiern gesucht. Studien zur psychiatrischen Stigmaforschung zeigen etwa, dass somatische oder wenigstens psychosomatische Erklärungen, wie etwa die Bezugnahme auf Erschöpfung, Burnout oder Schmerz, üblicherweise mehr soziale Akzeptanz erfahren und mit weniger Befürchtungen vor abwertenden sozialen Reaktionen verbunden werden als rein psychiatrische Krankheitsbilder.

Gemäß der für Deutschland repräsentativen Studie von Georg Schomerus et. al. 2013hat in den letzten 20 Jahren das Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, deutlich zugenommen. So stieg etwa die geäußerte Ablehnung, „jemanden mit einer Schizophrenie einem Freund vorzustellen“, von 39 Prozent auf 53 Prozent. Dagegen blieb das Bedürfnis nach sozialer Distanzierung gegenüber an Depression erkrankten Menschen weitgehend unverändert; dennoch äußerten sich hier etwa ein Drittel der Befragten zurückhaltend. Im Vergleich dazu erfahren Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit die stärkste Ablehnung; die Quote liegt hier bei über 60 Prozent.

Krankheitsbezogene Vorurteile, Schuldzuweisungen und Diskriminierungen haben vielgestaltige negative Folgen für die Betroffenen, so dass sie auch als „zweite Krankheit“ (Asmus Finzen) bezeichnet werden. Daher ist es nicht verwunderlich, psychische Störungen möglichst geheim zu halten, wenn man selbst daran erkrankt ist oder zu den Angehörigen zählt. Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ist somit kein Einzelschicksal. Denn schätzungsweise durchschnittlich zehn bis fünfzehn Prozent der Menschen leiden aktuell in unserer Gesellschaft an einer leibseelischen Erkrankung. Wenn man zudem noch die ihnen vertrauten Personen hinzunimmt, ist mindestens ein Drittel unserer Gesellschaft stigmatisierungsgefährdet.

Bedenkt man ferner die möglichen Konsequenzen am Arbeitsplatz, im Gesundheitswesen, im Rahmen der Sozialversicherung oder schlicht, wenn es um eine mögliche Verbeamtung geht, wird ersichtlich, mit welchen strukturellen Konsequenzen psychische Erkrankungen behaftet sein können, wobei im Einzelnen zu differenzieren ist.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das Problem der „Stigmatisierung psychischer Erkrankungen“ dringend der gesellschaftlichen, ethischen und pastoralen Aufmerksamkeit bedarf. Denn auch innerhalb von Kirche und Gemeinden werden psychische Erkrankungen, etwa Suchterkrankungen, insbesondere Alkohol, oder auch affektive Erkrankungen, oft verschwiegen oder nur im forum internum thematisiert. Ebenso sind spezifische pastorale Fort- und Weiterbildungsangebote außerhalb des Kontextes von Caritas und kirchlichen Beratungsdiensten zu dieser Thematik selten.

Angesichts der Unterschiedlichkeit psychischer Störungen – etwa Depressionen, Phobien, Medikamentenabhängigkeit oder Essstörungen – lässt sich keine einheitliche Definition ausmachen, die sämtliche Aspekte gleichermaßen abbildet. Maßgebliche Merkmale psychischer Erkrankungen sind: statistische Seltenheit; persönliches Leid, das entweder unmittelbar auf die Symptome zurückgeführt wird oder mittelbar aus den sozialen Reaktionen folgt; Beeinträchtigung der Lebensführung; unangemessenes Erleben und Verhalten oder Verletzung sozialer Normen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Aspekte bei den verschiedenen Krankheitsbildern die gleiche Bedeutung haben; stattdessen können sie unterschiedlich ausgeprägt und relevant sein. Diese Variabilität ist ein Grund dafür, weshalb eine einheitliche Definition kaum möglich ist.

Neben dem Klassifikationssystem ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation, das für die Klassifikation und kassenärztliche Abrechnung bei Erkrankungen in Deutschland maßgeblich ist und das psychische Störungen mit einer F-Diagnose versieht, gibt es das Diagnostisch-Statistische Manual Psychischer Störungen, im Jahr 2015 als fünfte Auflage auch auf Deutsch erschienen (DSM-5). Es gilt weltweit als das diagnostische Referenzwerk für Forschung, klinische Praxis und Ausbildung. Dem Verständnis des DSM-5 zufolge werden psychische Störungen als Syndrom, also dem gleichzeitigen Vorliegen mehrerer Krankheitszeichen, verstanden. Laut dem DSM-5 ist eine psychische Störung „durch klinisch bedeutsame Störungen in den Kognitionen, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person“ charakterisiert. Die Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychologischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und seelischen Funktionen zugrunde liegen. Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten.“ Ausdrücklich grenzt das DSM-5 eine psychische Störung von kulturell akzeptierten seelischen Reaktionen ab: „Eine normativ erwartete und kulturell anerkannte Reaktion auf übliche Stressoren oder Verlust, wie zum Beispiel der Tod einer geliebten Person, sollte nicht als psychische Störung angesehen werden. Sozial abweichende Verhaltensweisen (zum Beispiel politischer, religiöser oder sexueller Art) und Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft sind keine psychischen Störungen, es sei denn, der Abweichung oder dem Konflikt liegt eine der oben genannten Dysfunktionen zugrunde.“

Vier Stufen der Stigmatisierung

Gemäß dieser Definition von psychischer Störung zeigt sich, dass das Phänomen der leibseelischen Erkrankung an der Grenze zwischen körperlichen Vorgängen und sozialen Prozessen angesiedelt ist. Normative Aspekte spielen ebenso eine Rolle wie deskriptive.

Was konkret jeweils als eine psychische Erkrankung zu verstehen ist, ist von praktischer Bedeutung. Denn damit geht die Bestimmung spezifischer Aufgabenbereiche medizinisch-therapeutisch-pflegerischer Fachkräfte oder auch die Festlegung gesellschaftlicher und sozialstaatlicher Versorgungsleistungen einher. Aus theologisch-ethischer Sicht wäre ferner ihre Bedeutung für zwischenmenschliche Interaktionen und die Identitätsarbeit von Menschen zu nennen.

Die Bestimmung dessen, was eine psychische Störung ausmacht, verweist auf zwei Aspekte. Denn eine psychische Störung lässt sich als schädliche leibseelische Dysfunktion in individueller und sozialer Hinsicht bestimmen. Eine leibseelische Störung liegt demnach dann vor, wenn zum einen ein biopsychischer Mechanismus nicht mehr seine natürliche Funktion ausüben kann (empirisches Kriterium) und wenn zum anderen diese Dysfunktion einen Schaden für die betroffene Person verursacht, gemessen an ihren soziokulturell-biografisch gebildeten Maßstäben (werthaftes Kriterium).

Letzteres verweist darauf, dass durch eine leibseelische Dysfunktion für die Betroffenen, „bezogen auf ihre aktuelle Umgebung und die relevanten kulturellen Maßstäbe, ein signifikanter Schaden“ (Jerome C. Wakefield) entsteht. Hinsichtlich der seelischen Gesundheit kommen also jene Funktionen in den Blick, die man für die eigene Lebensführung in der je aktuellen sozialen Umwelt und in der jeweiligen Kultur benötigt, in der man lebt. Hier sind es insbesondere Menschenbilder, Weltbilder und Sinnannahmen; sie alle fließen ein in das Verständnis von Gesundheit und Krankheit.

Kontroversen über psychische Erkrankung können somit durch unterschiedliche Einschätzungen der empirischen Befunde und Modelle entstehen. Sie können aber auch aus unterschiedlichen Wertvorstellungen resultieren, etwa bei der Bewertung, ob eine behandlungsbedürftige ADHS-Erkrankung vorliegt oder nicht.

Studien zufolge kennen mehr als die Hälfte aller psychisch erkrankten Menschen und viele der ihnen Nahestehenden die Erfahrung von Vorurteilen, Ausgrenzung und Diskriminierung. Stigmatisierung ist ein schmerzhafter und belastender Teil ihrer Lebenswirklichkeit, der die ohnehin schon anstrengende Aufgabe der Krankheitsbewältigung erschwert. Abwertende Bemerkungen in sozialen Kontakten über auffällige Störungen und Therapiebedarf, soziale Distanzierung im privaten und beruflichen Umgang sowie Schwierigkeiten, neue soziale Rollen einzugehen, sind konkrete Stigmatisierungserfahrungen, aber auch verzerrende und negativ konnotierte mediale Darstellungen (etwa im Zusammenhang mit kriminellen Taten). Diese Formen der sogenannten öffentlichen Stigmatisierung können dann zu struktureller Diskriminierung führen, die etwa sozial- und versorgungsrechtliche Beeinträchtigungen nach sich zieht.

Typisierend lassen sich vier Stufen von Stigmatisierungsprozessen unterscheiden: Aufgrund einer medizinischen Diagnose wird erstens eine gesundheitsbezogene Normabweichung festgestellt. Diese wird dann zweitens mit spezifischen Stereotypen und negativen Meinungen über eine bestimmte Personengruppe verbunden. Das Vorurteil, das aus der Zustimmung zu diesen Stereotypen erwächst, löst drittens negative gefühlsbesetzte Reaktionen, etwa Angst oder Ärger, aus, was zur Abgrenzung und Ausgrenzung der Betroffenen führt. Schließlich sind viertens Abwertung und Diskriminierung das Resultat von Stigmatisierungen.

Die Gründe für Stigmatisierung sind vielfältig. Sozialpsychologisch können solche Dynamiken der Stabilisierung des Selbstwerts derer dienen, die bewusst oder nicht bewusst stigmatisieren, aber auch der Verdrängung eigener Ängste im Umgang mit Andersheit, Fremdheit und Ohnmacht. Oft spielen auch Unkenntnis, fehlende Information oder Unerfahrenheit eine Rolle.

Stigmatisierung hat Auswirkungen auf das Gesundheitsverhalten und die Identität der Erkrankten und deren Angehörigen. Dabei werden oft stigmatisierende Zuschreibungen von den Betroffenen unfreiwillig übernommen. Das hat eine Verringerung des Selbstwertgefühls und der Selbstwirksamkeit zur Folge. Negative Gefühle wie Scham und Schuldgefühle, Selbstabwertung, Unsicherheit, Hilflosigkeit und Ohnmacht führen dazu, dass die Betroffenen die ihnen möglichen Hilfen nicht voll ausschöpfen können. Alltägliche Strategien des Selbst-Managements, um antizipierte negative Reaktionen zu vermeiden, wie Verschweigen, Verstellung oder sozialer Rückzug, führen zu erhöhtem Stress und schränken weiter die Handlungs- und Selbstregulationsfähigkeit der Betroffenen ein. All diese Mechanismen beeinflussen den Krankheitsverlauf negativ und können sogar das Risiko für suizidale Handlungen erhöhen.

Am Phänomen der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen lässt sich überdies eine unausgewogene Spannung in unserer Gesellschaft beobachten. Allein schon aufgrund der volkswirtschaftlichen Kosten sollte es ein großes Interesse daran geben, Bedingungen und Voraussetzungen zu schaffen, um möglichst präventiv leibseelischen Erkrankungen vorzubeugen, Resilienz zu fördern oder frühzeitig therapeutische Maßnahmen umzusetzen. Das schließt nicht nur die Bereitstellung einer hinreichenden Anzahl und raschen Verfügbarkeit an psychotherapeutischen Angeboten, sondern auch ein umfassendes Netz an gemeindepsychiatrischer Versorgung und Krisendiensten mit ein. Dies entspricht dem fundamentalen Recht eines jeden Menschen auf angemessene Gesundheitsversorgung und auf den höchstmöglichen Standard medizinischer Versorgung.

Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ist eine vielschichtige Herausforderung, die auch den Kern unseres Gerechtigkeitsverständnisses berührt. Dabei sind jedoch nicht nur institutionelle Bedingungen zu beachten, sondern auch die interaktionellen Voraussetzungen zu berücksichtigen. Neben „harten“ Bedingungen struktureller Diskriminierung sind ebenso die eher „weichen“, aber nicht minder schwerwiegenden Formen medialer, sozialer und interaktioneller Stigmatisierung in den Blick zu nehmen.

Denn Krankheit und Leiden sollen „nicht Anlass zur Denunziation oder Rechtfertigung zur Aussonderung aus der Lebensgemeinschaft (sein), sondern zuallererst Grund zur Teilnahme an der Not des Anderen und Herausforderung zu helfen“ (Konrad Hilpert). Neben Initiativen wie dem „Aktionsbündnis seelische Gesundheit“ und anderen mehr bedarf es noch großer Anstrengungen, auch seitens der Kirchen, für eine helfende Praxis, die neben rechtlichen und strukturellen auch die interaktionellen Bedingungen im Blick behält. Aus theologisch-ethischer Sicht käme darin dann eine weitere Facette der therapeutischen Dimension des christlichen Glaubens zum Vorschein. Aus theologisch-ethischer Sicht käme darin dann eine weitere Facette der therapeutischen Dimension des christlichen Glaubens zum Vorschein.

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