Professor Zollner, zusammen mit den Kardinälen Blaise Cupich aus Chicago und Oswald Gracias aus Bombay sowie dem Erzbischof von Malta, Charles Scicluna, sind Sie vom Papst mit der Vorbereitung des Missbrauchsgipfels Ende Februar in Rom beauftragt. Was erwarten Sie von dem Treffen der Vorsitzenden der Bischofskonferenzen, das vom 21. bis zum 24. Februar stattfindet?
Hans Zollner: Kurz gesagt geht es darum, vor dem Hintergrund der Vielzahl der unterschiedlichen kulturellen, politischen, juristischen, soziologischen Kontexte, in denen die Kirche auf Weltebene agiert und von denen sie auch geprägt wird, das gemeinsame, entschiedene Handeln zum Wohl und zum Schutz von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Dabei sollte es gelingen, sich auf einheitliche Standards zu einigen, die zugleich aber auch so viel Spielraum lassen, dass örtliche Besonderheiten berücksichtigt werden können, ohne dass dies Abstriche beim Kinder- und Jugendschutz bedeutet. Dies klingt ein bisschen nach der Quadratur des Kreises. Es hilft aber nichts, wir müssen uns dem stellen, auch wenn es nach Ausrede oder Hintertürchen klingt, um die Latte nicht zu hoch hängen zu müssen! Die Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede ist dringend notwendig. Zum einen verstärkt sich alleine schon dadurch bei allen gemeinsam das Bewusstsein darüber, wie wichtig und dauerhaft unaufgebbar der Kinderschutz ist. Zum anderen verhindern wir damit, dass letztlich der Schein mehr zählt als die Wirklichkeit, indem zum Beispiel große Absichtserklärungen abgegeben und Zielsetzungen verkündet werden, die jedoch kaum eingehalten werden können, weil sie mit den örtlichen Gegebenheiten absolut nicht in Einklang zu bringen oder nicht nachvollziehbar sind.
Papst Franziskus hat die US-amerikanischen Bischöfe gebeten, vor dem Treffen in Rom keine neuen Maßnahmen zum Umgang mit Missbrauch zu verabschieden. Ist mit neuen weltkirchlichen Regeln in Sachen Missbrauch zu rechnen?
Zollner: Regeln alleine sind viel zu wenig. Sie können Regeln aufstellen, so viele Sie wollen; wenn nicht die entsprechende persönliche Haltung da ist, die das, was in den Regeln formalisiert zum Ausdruck gebracht wird, zum persönlichen Anliegen werden lässt, drehen alle Vorschriften oder Regeln hohl. Darüber hinaus darf man eines nicht vergessen: Die Umsetzung beziehungsweise Beachtung von Regeln verlangt nach definierten Strukturen und Prozessen, die Zuständigkeiten festlegen sowie Kompetenzen im Blick auf Unterstützung und Kontrolle umschreiben. Der Ruf nach Regeln hört sich gut an. Aber ehrlich gesagt ärgert es mich ein bisschen, wenn man es sich damit teilweise sehr leicht macht und die Punkte übersieht oder bewusst übergeht, die ich gerade benannt habe. Regeln sind schnell aufgestellt. An ihnen dauerhaft dran zu bleiben, sie nachhaltig umzusetzen, das ist das Schwierige.
Sie sind Professor für Psychologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana und leiten das dortige Kinderschutzzentrum. Seit diesem Semester kann man dort einen Master in Kinderschutz machen. Wofür braucht es einen solchen Studiengang?
Zollner: Studieren heißt selbständig werden, differenzieren lernen, reflektiert und überlegt handeln, fachliche Expertise erwerben – alles Dinge, die man braucht, um den eigenen Einsatz für den Kinderschutz effektiv und effizient zu gestalten. Wir wollen unsere Studierenden so ausbilden, dass sie in all den Bereichen kompetent sind, die für den Kinderschutz relevant sind: Psychologie, Sozialwissenschaften, Kirchenrecht und, für den Bereich der Kirche besonders wichtig, Spiritualität und Theologie. Dabei geht es nicht einfach nur um den Tatbestand sexuellen Missbrauchs als solchen. Mir ist in den letzten Jahren klar geworden, dass wir über viel mehr reden müssen: über Fragen kirchlicher Strukturen, Machtausübung, Lebensformen, Lehre und so weiter. Wenn Sie mich nach einem Wunschbild von unseren Studierenden fragen, dann fällt mir dazu Folgendes ein: Unsere Absolventen sollen in den Bistümern nicht nur Leitlinien zum Thema Missbrauch umsetzen, sondern sie auch im Dialog mit den Wissenschaften und den verschiedenen gesellschaftlichen Playern selber entwickeln. Sie sollen Schulungsmaßnahmen zur Missbrauchsprävention nicht nur durchführen, sondern auch konzeptionell selbst mitplanen und gestalten. Sie sollen in der Lage sein, neue Entwicklungen im Bereich der Präventionsarbeit wahrzunehmen, aufzugreifen und mit ihnen zu arbeiten.
Sie sind selbst als Referent auf der ganzen Welt unterwegs. Wie groß sind die Unterschiede im Umgang mit diesem Thema in den verschiedenen Ortskirchen?
Zollner: Sie können sich vorstellen, dass im Blick auf die Welt die Unterschiede immens sind. Ich war vor einiger Zeit innerhalb weniger Wochen in Europa, Australien, Papua-Neuguinea und Malaysia unterwegs. Die Situationen an diesen verschiedenen Orten sind kaum vergleichbar. In Australien muss sich die katholische Kirche seit Mitte der Neunzigerjahre öffentlich Missbrauchsfällen und Missbrauchsvorwürfen stellen. Sie ist durch drei große Wellen der öffentlichen Erregung und Empörung gegangen. Als Folge davon wurde nahezu alles, was man sich an Interventions- und Präventionsarbeit vorstellen kann, umgesetzt. Das Thema ist derart präsent, dass eigentlich kein Kirchenvertreter, keine Kirchenvertreterin einen Satz sagen kann, ohne darauf Bezug zu nehmen. Ganz anders ist die Lage im Australien am nächsten gelegenen Nachbarstaat Papua-Neuguinea. Die Diskussion über das Thema Missbrauch ist dort in der Gesellschaft so gut wie überhaupt noch nicht angekommen, im Gegenteil: Missbrauch ist tabu, man spricht in der Öffentlichkeit nicht darüber. Und das in einem Land, in dem es als normale Strafmaßnahme angesehen wird, dass ein Vater seine Kinder vergewaltigt, wenn sie sich aus Sicht der Erwachsenen etwas Gravierendes zu Schulden haben kommen lassen. In Malaysia wiederum stellen sich die Verhältnisse nochmals anders dar. Es handelt sich um eines der wenigen Länder, die ich kenne, wo jeder Staatsbürger verpflichtet ist, auch nur im Verdachtsfall Missbrauch der Polizei oder den Sozialbehörden zu melden. Das hat auch Auswirkungen auf die Kirche. Die Bischöfe dort veranlassen keine eigenen kirchlichen Untersuchungen, sondern übernehmen das Untersuchungsergebnis der Polizei und melden es nach Rom weiter.
Wo ist Ihnen aus der Kirche heraus der meiste Widerstand entgegengetreten?
Zollner: Ich kann nicht sagen, dass ich aktiven Widerstand erlebe. Aber es gibt sehr viel passiven Widerstand. Das hat zum einen mit dem generellen Unwohlsein dem Thema gegenüber zu tun, aber zum anderen auch mit der Schwierigkeit, sich Fehler einzugestehen, und mit dem Unwillen, Verantwortung zu übernehmen. Manch ein Bischof sagt sich: „Ich bin erst seit ein paar Jahren im Amt, warum soll ich für das zuständig sein, was vor fünfzig Jahren hier passiert ist?“ Hinzu kommt, dass wir in einer gesellschaftlichen Situation leben, in der sich die meisten Bischöfe der Weltkirche sowieso sehr unter Druck fühlen. Es steht die Beantwortung so vieler neuer Fragen an, weil die Welt enorm komplex geworden ist, sich dauernd verändert und alte, überkommene Muster und Verhaltensweisen nicht mehr greifen. Da ist dann schnell die Versuchung da, sich mit dem Thema Missbrauch nicht vorrangig beschäftigen zu wollen. Die Lösung der anderen Probleme scheint für manche dann wichtiger zu sein. Sie übersehen dabei etwas ganz Entscheidendes. Ob und wie wir uns als Kirche dem Thema Missbrauch stellen, ist für die Kirche eine existenzielle Frage. Hier entscheidet sich zum guten Teil, ob sie als vertrauens- und glaubwürdig wahrgenommen werden kann. Eine Institution, bei der es genau darum geht, um überhaupt ihrem Auftrag gerecht werden zu können, kann und darf sich hier nicht einfach wegducken. Und außerdem: Hat nicht Jesus selbst uns dazu aufgefordert, ehrlich zu sein und denen beizustehen, die verwundet worden sind? Wir sollten alles dafür tun, damit die Kleinen, die er einlädt, zu ihm zu kommen, dies auch wirklich tun können, ohne dass sie in Gefahr stehen, genau von jenen missbraucht zu werden, die vorgeben, im Auftrag Jesu zu handeln.
In den Vereinigten Staaten, in Australien und in einigen anderen Staaten sind in der Vergangenheit bereits Studien und Untersuchungsberichte zum Missbrauch in der katholischen Kirche erschienen. Seit September 2018 liegt auch für Deutschland eine Missbrauchsstudie vor. Zeichnet sich da ein gemeinsames Bild ab?
Zollner: Wir haben tatsächlich nur aus fünf bis sieben Ländern Studien, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Diese zeigen nahezu durchgängig, dass im Durchschnitt etwa vier bis sechs Prozent der Weltpriester in den letzten siebzig Jahren des Missbrauchs beschuldigt worden sind. Bei Ordenspriestern sind die Zahlen etwas niedriger. Was ebenfalls durchgängig erkennbar ist: Dort, wo über Jahre hinweg Präventionsmaßnahmen aufgesetzt und stringent durchgeführt wurden, geht die Zahl der neuen Anschuldigungen nach den Jahren der Einführung dieser Maßnahmen gegen null. Das heißt: Dort, wo man auf die Opfer zugeht, über Missbrauch spricht und in Prävention investiert, gibt es deutlich weniger Missbrauch. Prävention wirkt.
In der deutschen Missbrauchsstudie findet sich der Satz: „Die Problematik dauert an.“ In der Öffentlichkeit wurde das vielfach so interpretiert, dass sich in der Kirche eigentlich nichts geändert habe.
Zollner: Natürlich wird es Missbrauch immer geben – so wie es ihn auch schon immer und überall gegeben hat. Einen Satz wie „Missbrauch wird es nicht mehr geben“ hielte ich für extrem gefährlich. Er geht an der Wirklichkeit vorbei und kann dazu beitragen, dass man sich in falscher Sicherheit wiegt. Wir müssen alles für gute Prävention tun, aber das heißt nicht, dass wir Missbrauch ein für alle Mal verhindern können. Man kann in die Menschen nicht hineinsehen und man kann Menschen weder zu 100 Prozent kontrollieren noch zu 100 Prozent bestimmen.
Sie sagen aber, dass man mit Prävention die Wahrscheinlichkeit von Missbrauch senken kann, sogar sehr deutlich. Jetzt mal konkret: Wie funktioniert Prävention denn genau?
Zollner: Prävention ist entsprechend der unterschiedlich involvierten Personenkreise vielfältig. Auf jeweils verschiedene Art und Weise werden Inhalte vermittelt und Haltungen trainiert. Zunächst muss das Thema bewusst auf die Tagesordnung gesetzt werden. Man muss dafür sensibilisieren, Sprachbarrieren überwinden, ein Klima schaffen, in dem darüber geredet werden kann. Kindern muss man helfen, zu erkennen, was beispielsweise ein übergriffiger Körperkontakt ist. Sie müssen lernen, mit sozialen Medien umzugehen und vorsichtig im Kontakt mit Fremden zu sein. Eltern müssen geschult werden, auf die Signale ihrer Kinder zu hören. Und Lehrer, Sporttrainer sowie alle, die in der Pastoral und in der Jugendarbeit tätig sind, müssen aufmerksam dafür werden, welche Grenzen sie einzuhalten haben, was sie im Verdachtsfall tun müssen, wie sie Aktivitäten planen. Ein Zeltlager beispielsweise kann man so gestalten, dass keine blinden Flecken entstehen, in denen Leute sich unbeobachtet fühlen können, um sich Kindern und Jugendlichen unangemessen zu nähern. Und dann geht es um Strukturen: Es braucht Meldesysteme, Präventionsstellen, Ansprechpartner.
Wie weit ist man in Deutschland mit diesen Maßnahmen? Wurden alle Möglichkeiten ausgeschöpft?
Zollner: Deutschland gehört inzwischen wie Irland, die USA oder Australien zu den führenden Nationen weltweit. Prävention im Verantwortungsbereich der Kirche ist so flächendeckend vorhanden wie vermutlich in keiner anderen Institution in Deutschland. Das ist nicht zuletzt das Resultat der öffentlichen Aufmerksamkeit seit 2010. Das heißt nicht, dass man sich jetzt auf dem Erreichten ausruhen könnte. Es heißt übrigens auch nicht, dass wir genau wüssten, welche Maßnahmen aus wissenschaftlicher Sicht präventiv am wirksamsten sind. Die Faktoren für die Wirksamkeit von Prävention sind uns noch nicht eindeutig klar. Am Kinderschutzzentrum an der Gregoriana in Rom verfolgen wir daher besonders diese Fragestellung, um Präventionsprogramme in Zukunft noch präziser und wirksamer gestalten zu können.
In der Missbrauchsdebatte sind zuletzt immer wieder verschiedene Stichwörter genannt und diskutiert worden. Eines dieser Stichwörter lautet: Zölibat. Befördert die zölibatäre Lebensweise nun den Missbrauch, wie einige sagen, oder schützt sie sogar vor Missbrauch, wie auch schon zu hören war?
Zollner: Alle Studien, die von Wissenschaftlern durchgeführt wurden, sagen: Zölibat führt nicht eo ipso zu Missbrauch. Die Ansicht, die zölibatäre Lebensform sei Ursache für Missbrauch, ist zwar in den Köpfen der Leute anscheinend unausrottbar, aber sie ist dennoch einfach nicht wahr. Nichtsdestotrotz: Der Zölibat gehört in eine priesterliche Lebensform hinein. Wenn diese aus den Fugen gerät, dann kann zölibatäres Leben zum Risikofaktor werden. Eines der Ergebnisse der deutschen Studie lautet: Das Durchschnittsalter der Priester als Ersttäter war 39 Jahre. Geht man von der früheren Praxis aus, dass Priester meist mit etwa 25 geweiht wurden, heißt das: Der Beschuldigte ist durchschnittlich fünfzehn Jahre lang Priester gewesen, bevor es zur ersten Tat kam. Vergleicht man das übrigens mit Lehrern, Sporttrainern oder Familienvätern, zeigt sich ein deutlicher Unterschied: Diese werden im Durchschnitt erstmals mit 25 Jahren wegen Missbrauchs verurteilt. Im Blick auf die Priester kann man daher einigermaßen schlussfolgern: Die moralische Integrität hat einige Zeit gehalten und ist dann zusammengebrochen, wenn wahrscheinlich Einsamkeit, Überforderung, die Unfähigkeit, Freundschaften aufzubauen, und weitere Faktoren wirksam geworden sind. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, bei der Aufnahme von Seminaristen und Ordenskandidaten die Eignung für die zölibatäre Lebensform genau zu prüfen, bei der Ausbildung entsprechende Schulungen durchzuführen und vor allem die Personen nach der Weihe oder der Profess entsprechend weiter zu begleiten.
Ein weiteres Stichwort in der Debatte: Homosexualität. Vor allem in den USA wird darauf verwiesen, dass bei einem hohen Prozentsatz der erfassten Fälle die Betroffenen männliche Teenager sind und dass diese Quote höher liegt als bei außerhalb der Kirche dokumentierten Fällen. Ergo sagen manche, Missbrauch sei ein Homosexuellenproblem, und das könne man dadurch in den Griff bekommen, dass man Homosexuelle daran hindert, Priester zu werden. Was ist dazu zu sagen?
Zollner: Schon 2010 hat Charles Scicluna, der auch damals in der Glaubenskongregation für Missbrauchsfälle zuständig war, gesagt, dass von den durch Priester verübten Missbrauchsfällen zehn Prozent Pädophilie, also erotisch-sexuelle Neigung zu Kindern, und neunzig Prozent Ephebophilie, also erotisch-sexuelle Neigung zu Jugendlichen, sind. Und von diesen neunzig Prozent seien siebzig bis achtzig Prozent seiner Einschätzung nach Missbrauchshandlungen an Jungen. Ähnliche Zahlen finden sich in allen Studien. Aber: Es ist gar nicht klar, ob homosexuelle Übergriffe immer auch auf eine homosexuelle Orientierung schließen lassen. Zumindest in der Vergangenheit war es zum Beispiel so, dass Priester kaum direkten Kontakt zu Mädchen hatten. Ministranten waren männlich, in den Schulen unterrichteten Priester meist nur Jungen, und auch die Jugendarbeit geschah nach Geschlechtern getrennt. Das eigentliche Problem bei sexuellem Missbrauch ist meines Erachtens nicht die sexuelle Orientierung, sondern der Missbrauch von Macht. Wie ich mit meiner Sexualität umgehe, sagt auch etwas über meine Person und deren Verhältnis zur Macht aus: meine Bedürfnisse, Dynamiken und Einstellungen. Ich finde die Debatte darum viel zu eindimensional, beschränkt man sie auf die sexuelle Orientierung.
Ein letztes Stichwort: Klerikalismus. Das ist nicht zuletzt durch den Papst als Ursache von Missbrauch ins Feld geführt worden. Aber was ist das eigentlich, wie definiert man Klerikalismus? Und kann man tatsächlich sagen, dass klerikale Kleriker häufiger missbrauchen als nicht-klerikale Kleriker?
Zollner: Klerikalismus zeigt sich daran, wenn zum Beispiel ein Priester glaubt, alleine schon durch Anlegen der entsprechenden Kleidung ein ganz anderer zu sein und damit Vorrechte zu haben, die weit über das hinausreichen, was einem „normalen“ Menschen zukommt. Die Rolle oder zumindest das, was man dafür hält, wird so bestimmend, dass die individuelle Person des Rollenträgers mit all ihren Stärken, aber vor allem auch ihren Schwächen, Grenzen und Bedürftigkeiten nahezu aus dem Bewusstsein tritt. Die notwendige Einsicht, sich selbst gerade in Bezug auf Ansprüche beschränken zu müssen, die Einsicht in die Notwendigkeit, sich ehrlicher Kritik auszusetzen, nimmt dabei proportional ab. Man hat in einigen Gegenden der Weltkirche zu manchen Zeiten die Rolle des Priesters zu hoch gehängt, um die Menschen dahinter und deren Persönlichkeit noch angemessen einschätzen zu können. Einer der kritischsten Journalisten in den USA zum Beispiel wusste seit den Neunzigerjahren von den Missbrauchsvorwürfen gegen Theodore McCarrick. Heute sagt er: Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass McCarrick so etwas tun könnte. So gesehen gibt es Klerikalismus von beiden Seiten, also auch von Laien, die zum Beispiel den Priester nicht mehr als fehlbaren Menschen wahrnehmen und damit entsprechend umgehen. Hinzu kommt eine strukturelle Dimension. Wie in anderen Institutionen auch, neigen Menschen in Führungspositionen dazu, sich gegenseitig zu schützen und den so genannten guten Ruf der Institution zu bewahren. Das führt dazu, dass nicht transparent und verantwortlich gehandelt wird.
Der Fall des ehemaligen US-Kardinals Theodore McCarrick, den Sie angesprochen haben, hat nicht zuletzt dafür gesorgt, dass der Papst selbst mit dem Thema in Verbindung gebracht wurde. Ex-Nuntius Carlo Maria Viganò wirft ihm vor, schon lange von den Vorwürfen gewusst und zunächst nicht gehandelt zu haben. Ist das nun eine gute Sache, weil jetzt nach Verantwortlichkeit auf allen Ebenen gefragt wird, oder eine schlechte Sache, weil das Ansehen des Papstes in den Dreck gezogen wird?
Zollner: Die Entwicklungen der letzten Jahre haben dazu beigetragen, dass generell die Unberührbaren berührbar geworden sind. Das Be- und Hinterfragen von Geistlichen auf unterschiedlichsten Ebenen ist nicht weiter tabu. Ich meine sogar, dass der Papst da in gewisser Weise auch gar nicht dagegen ist. Er hat ja selber schon im Januar in Bezug auf seine Chile-Reise gesagt: Ich habe einen schweren Fehler gemacht und ich entschuldige mich dafür. Das ist doch das Neue: Ein Papst macht einen Fehler und entschuldigt sich dafür. Die Betroffenen in Chile haben das sehr positiv aufgenommen.
Durch den Fall McCarrick ist deutlich geworden, dass sich das Problem des Missbrauchs nicht nur auf Minderjährige erstreckt. Wir haben gesehen: Es gibt Seminaristen, die von ihrem Bischof missbraucht werden. Auch von Ordensschwestern, die von Priestern vergewaltigt werden, haben wir gehört. Wie geht es jetzt weiter mit der Prävention, wenn nun auch Erwachsene in den Blick geraten?
Zollner: Intern ist von den unterschiedlichen Formen des Missbrauchs schon lange die Rede. Die Öffentlichkeit zieht so gesehen diesbezüglich jetzt nach. Im Vatikan wurde der Missbrauch von Ordensfrauen durch Priester schon im Jahr 2000 diskutiert. In den USA und Australien sind Übergriffe an Erwachsenen schon seit geraumer Zeit im Bewusstsein. Für die gesamte Kirche ist es jetzt sicher der nächste Schritt, das Thema Missbrauch in seiner ganzen Breite anzugehen.
Auch die Rolle von Bischöfen ist zuletzt in den Fokus gerückt: Bischöfe gehen mit Missbrauch falsch um und sie werden auch selbst zu Tätern. Zuletzt ist Kardinal George Pell von einem australischen Gericht wegen Missbrauchs verurteilt worden. Nun gibt es Anschuldigungen gegen einen argentinischen Kurienbischof, Gustavo Zanchetta, der erst von einem Jahr von Franziskus auf den eigens geschaffenen Posten eines Assessors in der Güterverwaltung berufen worden war. Wer kontrolliert eigentlich die Bischöfe?
Zollner: Das ist eine wichtige strukturelle Frage, die geklärt werden muss. Der Papst hat 2016 mit dem Motu Proprio „Come una madre amorevole“ einen ersten Schritt gemacht. Die vatikanischen Behörden, die mit Oberen in der Kirche zu tun haben, sollen Verfahren entwickeln, die festlegen, was geschieht, wenn Anschuldigungen von Verstößen gegen kirchenrechtliche Normen durch Bischöfe in Rom vorgetragen werden.
Ist das schon abgeschlossen?
Zollner: Nein. Was aber bereits geschieht: Wenn entsprechende Vorwürfe aufkommen, stellt der Papst ad hoc ein Gremium zusammen, das den Fall prüft. Danach trifft der Papst eine Entscheidung. Die Grundfrage ist: Wer ist verantwortlich? Das ist in der katholischen Kirche im Grunde immer der Papst. Und darin liegt letztlich das Problem. Der Papst persönlich kann nicht auf jeden Einzelnen der 5100 Bischöfe weltweit schauen. Er kann nicht persönlich Tausende von Ordensoberen kontrollieren.
Aber der Papst kann ja die Kompetenz, die er hat, weiterdelegieren. Kardinal Gerhard Ludwig Müller hat in einem Interview gesagt, es sei ein Fehler, dass für jede Untersuchung der Glaubenskongregation gegen Obere eine explizite Zustimmung des Papstes nötig ist. Die Kongregation müsse hier unabhängiger agieren können. Hat er recht?
Zollner: Die Frage geht eigentlich noch weiter als nur bis zu dem Punkt, an dem es darum geht, in Relation zum Papst eigenständiger Fälle untersuchen zu können. Unbeschadet dessen sollte es schon auch um die Frage gehen: Wer überwacht die Untersucher? Warum gibt es zum Beispiel kein der Glaubenskongregation beigeordnetes Board of Trustees, das als eine Art Beirat die Arbeit der Kongregation im Sinne der Qualitätssicherung begleitet und überprüft?
Auf das Missbrauchsthema scheint derzeit jeder mit einer kirchenpolitischen Brille zu schauen. Vor allem in den USA wird der Missbrauch auch als Kampfmittel in der Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Konservativen gebraucht. Vereinfacht gesagt: Die Konservativen meinen, der Niedergang der Nachkonzilszeit habe zur Missbrauchskrise geführt, die Liberalen denken, es sei gerade das, was sie als vorkonziliar verstehen, was Missbrauch möglich gemacht habe. Wer hat recht?
Zollner: Ich finde den Stand der Diskussion in den USA wirklich beunruhigend. Die Art der Debatte ist vor allem deshalb unangemessen, weil dabei die Betroffenen von Missbrauch nicht im Mittelpunkt stehen. Es gibt einige vernünftige Stimmen auf beiden Seiten, die davor warnen, den Missbrauch kirchenpolitisch auszuschlachten. Es hat ja auch auf beiden Seiten – von Liberalen wie Konservativen – Verbrechen gegeben. Manche sagen, die sexuelle Revolution der Siebzigerjahre und das Zweite Vatikanum hätten zum Höhepunkt der Missbrauchsfälle geführt. Und wenn man sich die US-amerikanischen Statistiken anschaut, kann auch dieser Eindruck entstehen. Doch in Australien wiederum war der Höhepunkt der dokumentierten Fälle in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, also als aus konservativer Sicht die Welt doch noch in Ordnung war. Und denken Sie in diesem Zusammenhang ebenso an die Missbrauchsfälle in einigen wenigstens früher prononciert konservativen Gemeinschaften wie den Legionären Christi. Es ist wirklich unglaublich schädlich für alle Seiten, das Thema jetzt so kirchenpolitisch zu instrumentalisieren.