Gen-Scheren-Interventionen an frühen EmbryosDarum brauchen wir jetzt ein CRISPR-Moratorium

Ein chinesischer Wissenschaftler will die Gen-Schere CRISPR-Cas an Zwillingen getestet haben. Klar ist: Wenn das stimmt, hat er wichtige ethische Standards verletzt. Klar ist aber auch: Eine Totalblockade dieser Forschungsrichtung wäre keine Lösung.

Blick auf vergrößerte DNA-Doppelhelix
© Pixabay

Kurz vor Beginn einer hochkarätig besetzten internationalen Tagung behauptete der chinesische Forscher Jiankui He vor wenigen Monaten, zwei jüngst geborene Mädchen mittels Keimbahneingriff genetisch verändert zu haben. Nur wenige Tage später kündigte der US-amerikanische Fortpflanzungsmediziner und Stammzellforscher Werner Neuhausser von der Harvard Medical School Versuche an, mittels gentechnisch veränderten Spermazellen das Risiko von in vitro gezeugten Kindern, im Verlaufe ihres späteren Lebens an der Alzheimer-Demenz zu erkranken, deutlich zu senken.

Auf den ersten Blick haben beide Bemühungen ein gemeinsames Ziel: Sie beabsichtigen beide, durch den Einsatz der Genschere CRISPR-Cas 9 eine schwere Erkrankung zu verhüten. Diese Genschere ist in bisher ungewohnter Präzision in der Lage, bestimmte Gene des menschlichen Erbgutes auszuschneiden, zu ersetzen oder zu reparieren und damit unerwünschte Veranlagungen eines Menschen zu unterbinden oder umgekehrt erwünschte Veranlagungen zu generieren. Der amerikanische Forscher Neuhausser versucht, die Genvariante ApoE4 – sie ist neben weiteren Genvarianten wesentlich für das genetisch bedingte Alzheimer-Erkrankungsrisiko verantwortlich – zu eliminieren. Der chinesische Forscher He hat – sollten sich seine spektakulär veröffentlichten Behauptungen tatsächlich als belastbar herausstellen – noch vor der Zwillingsbildung beider Mädchen in die Keimbahn des frühen Embryos eingegriffen und ein Gen verändert, das die nun geborenen Mädchen vor einer HIV-Infektion schützen soll. Und noch ein Weiteres ist beiden Bemühungen gemeinsam: Ihre Eingriffe setzen an der menschlichen Keimbahn (männliche Spermazelle, weibliche Eizelle, früher Embryo) an. Bei der somatischen Gentherapie, bei der das Genom eines bereits weit entwickelten oder schon geborenen Menschen verändert wird, bleiben die eintretenden (erwünschten wie unerwünschten) Effekte auf diesen einzelnen Menschen beschränkt. Bei der Veränderung der menschlichen Keimbahn („Human Germline Gene Editing“) setzen sich diese dagegen über das entstehende Kind auf seine etwaigen Kinder und Kindeskinder fort.

Doch ansonsten unterscheiden sich beide Bemühungen gravierend: Das amerikanische Forschungsteam um Werner Neuhausser plant Keimbahneingriffe an nicht überlebensfähigen Spermazellen. Zudem will er seine Experimente über die bewährten Wege präklinischer Forschung und Entwicklung durchführen. Jiankui He hingegen hat diese Phasen weitgehend übersprungen und ist voreilig in die Phase der klinischen Anwendung eingetreten: Seine manipulierten Mädchen leben, und der Erfolg oder Misserfolg seiner Forschungen werden in ihrem Leben unmittelbar leibhaftig werden. Damit hat er elementare forschungsethische Standards schwer missachtet. Seine Forschungen an lebenden Menschen führen auf gefährliche und völlig unverantwortliche Abwege.

First steps first: präklinische Forschung vor klinischer Anwendung

Denn als Konsequenz aus den fürchterlichen Erfahrungen von Menschenversuchen insbesondere in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern sind alle Formen von Humanexperimenten weltweit strengen Bedingungen und Limitierungen unterworfen. Bevor neuentwickelte Therapien überhaupt zur klinischen Anwendung, also zur Anwendung am Menschen kommen dürfen, müssen viele Entwicklungsstufen der Forschung wie In-vitro- oder Tiermodelle erfolgreich, und das heißt nicht zuletzt: wissenschaftlich überprüft und forschungsethisch verantwortet durchlaufen sein. Der Überstieg von präklinischer Forschung zur gewöhnlichen medizinischen Anwendung führt erst noch über die Phase einer klinischen Forschung; also einer Erprobung an einem lebenden Menschen, die als Humanexperiment nochmals strikteren Bedingungen unterliegt. Insbesondere müssen die betroffenen Personen („Probanden“) solchen Experimenten in Kenntnis aller Folgen und Nebenfolgen ausdrücklich und aus freiem Willen zustimmen.

Aber noch diesseits dieser zentralen Bedingung sind viele Fragen, die an die Erforschung von Keimbahnänderungen zu stellen sind, noch ungeklärt. Gemäß den üblichen lege-artis-Kriterien muss jede Forschung methodisch kontrolliert, transparent und durch die Wissenschaftsgemeinschaft überprüfbar, mit Blick auf das Verhältnis von Nutzen und Schaden beziehungsweise von Chancen und Risiken angemessen sowie nicht zuletzt sinnvoll und erforderlich sein. Ob bestimmte Keimbahnänderungen wirklich sinnvoll und erforderlich sind, ist aber zum jetzigen Zeitpunkt noch weitgehend offen. Erforderlich sind sie nur dann, wenn es keine realistischen und zumutbaren Alternativen gibt, die zum angestrebten Ziel führen. Sinnvoll sind sie vor allem nur dann, wenn die angestrebten Ziele auch ethisch geboten oder wenigstens akzeptabel erscheinen.

Hier aber wird die Debatte sehr kontrovers geführt. Üblich ist die Unterscheidung zwischen therapeutischen und verbessernden Zielsetzungen. Therapeutische Ziele wie die Verhinderung von schwerwiegenden Erkrankungen (Krebs, Demenz, Diabetes, Mukoviszidose usw.) gelten als moralisch unproblematisch, möglicherweise sogar als geboten. Anders verhält es sich im Kontext von Behinderung. Schon die Auffassung, dass somatische, seelische, geistige oder sinnesbezogene Beeinträchtigungen eines Menschen keine Krankheiten sind, die, wenn möglich, geheilt werden müssten, verweist auf die schwierige Debattenlage: Die Abwendung schwerer genetisch bedingter somatischer Schädigungen wie eine Spastik mag legitim oder sogar geboten sein. In Bezug auf eine der bekanntesten Genvarianten, nämlich die Trisomie 21, sehen das die Betroffenen oftmals anders. Spätestens die Debatte in der Gehörlosen-Community offenbart, dass eine keimbahninterventionsbasierte Verhinderung genetisch bedingter Gehörlosigkeit gelegentlich als flagranter Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines Menschen gewertet wird, der ansonsten Teil dieser kulturellen Gemeinschaft werden würde.

Nochmals kontroverser verläuft die Debatte bei verbesserungsbezogenen Zielsetzungen („Enhancement“). Einerseits zeichnet sich ein breiter Konsens darüber ab, Leistungssteigerungen oder „Verschönerungen“ von ansonsten „gewöhnlich“ ausgestatteten Menschen auf dem Wege von Keimbahninterventionen – so überhaupt gentechnisch irgendwann möglich – abzulehnen. Interessanterweise werden oftmals sozialethische Gründe geltend gemacht: Führt ein solches Enhancement nicht zu unlauteren Wettbewerbsvorteilen all jener, die sich dafür entscheiden und vor allem über die nötigen Ressourcen verfügen? Steigert nicht die Verfügbarkeit solcher Instrumente die gesellschaftliche Erwartungshaltung und damit den individuellen Entscheidungsdruck, alles erdenklich Mögliche zur Selbstoptimierung einzusetzen? Andererseits könnten – so ein vielfach vorgebrachtes Gegenargument – Verbesserungen genetischer Dispositionen dazu eingesetzt werden, genetisch oder sozial bedingte Benachteiligungen auszugleichen und auf diesem Wege den Betroffenen gerechte Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen.

Minimales Risiko und minimale Belastung

Das maßgebliche Kriterium für alle Humanexperimente ist zweifelsohne die Menschenwürde der beforschten Personen. Sie manifestiert sich zunächst im kategorischen Verbot ihrer ausschließlichen Vernutzung („Totalinstrumentalisierung“) für außerhalb ihrer selbst liegende Zwecke („Interessen“, „gesundheitliches Wohlergehen“ usw.). Fremdnützige Forschung ist nur dann mit der Selbstzwecklichkeit der beforschten Person vereinbar, wenn die Person dem ausdrücklich zustimmt und sich die Fremdnützigkeit des Zieles als persönliches Ziel zu eigen macht. Sodann führt der Menschenwürdegrundsatz zu den forschungsethischen Prinzipien der minimalen Belastung („minimal burden“) und des minimalen Risikos („minimal risk“). Das deutsche Arzneimittelgesetz definiert das minimale Risiko so: „wenn nach Art und Umfang der Intervention zu erwarten ist, dass sie allenfalls zu einer sehr geringfügigen und vorübergehenden Beeinträchtigung der Gesundheit der betroffenen Person führen wird“. Eine minimale Belastung ist gegeben, „wenn die Unannehmlichkeiten für die betroffene Person allenfalls vorübergehend auftreten und sehr geringfügig sein werden“ (§ 41(2) 2 d) AMG).

Es ist offensichtlich, dass diese beiden Kriterien an die Erforschung von Keimbahninterventionen höchste Anforderungen stellen. Keinesfalls dürfen sie nämlich auf Momente der Gegenwart beschränkt bleiben. Insbesondere Keimbahninterventionen bergen Risiken wie Belastungen, die die involvierten Personen weniger in der Gegenwart, sondern oftmals erst in der deutlich späteren Zukunft betreffen (können) und schon deshalb weder vorübergehend noch präzise abschätzbar sind. Das beginnt bei den möglichen Risiken. Bislang wurden Keimbahninterventionen grundsätzlich abgelehnt, weil unerwünschte Effekte („off-targets“) technisch nicht nur nicht ausreichend ausgeschlossen, sondern noch nicht einmal als Risiken absehbar erschienen.

Längst ist bekannt, dass zwischen einem Gen und einer erkennbaren Eigenschaft, also zwischen dem Genotyp und dem Phänotyp kein einlinig direkter Zusammenhang besteht. Die gezielte Veränderung eines Genoms kann an anderen Genen unbeabsichtigte Veränderungen auslösen, die bestimmte Erkrankungsrisiken (z.B. Tumorbildungen) erhöhen. Zwar konstatieren auch kritische Stimmen, dass gentechnische Instrumente wie CRISPR-Cas 9 in Verbindung mit neuen Forschungsdesigns solche off-targets deutlich reduzieren. Ausreichend abgesichert sind sie aber noch längst nicht.

Ähnlich in die Zukunft weist auch das Prinzip der minimalen Belastung. Auf den ersten Blick mögen die Unannehmlichkeiten der unmittelbar in ein Experiment einbezogenen Personen überschaubar sein: Dass etwa dem frühen Embryo durch die Operation der Genschere unbotmäßige Unannehmlichkeiten widerfahren, wird man wohl ausschließen können. Dennoch drohen Belastungen ganz anderer Art: Die wesentlichste Belastung ist sozialer und – wenn man so will – politischer Natur. Sie betrifft die Achsen des Verhältnisses zwischen den Generationen und damit auch das fundamentale Gleichgewicht zwischen allen Mitgliedern einer Gesellschaft. Jürgen Habermas hat schon vor vielen Jahren auf die entstehenden fundamentalen Schieflagen hingewiesen zwischen denen, die durch gentechnische Eingriffe aktiv die genetische Präfiguration eines werdenden Lebens gestalten, und jenen, die durch solche Entscheidungen ihrer Eltern gemacht werden. Damit droht das „gattungsethische Selbstverständnis“ der Gesellschaften als Gemeinschaft wechselseitig freier und gleicher Menschen schweren Schaden zu nehmen.

Wer entscheidet?

Die vorgenannten Vorbehalte sind freilich keine kategorische Absage an jegliche Form der Anwendung von Eingriffen in die menschliche Keimbahn. Sie unterstreichen aber das Erfordernis skrupulöser Erforschung der biotechnischen Voraussetzungen sowie der mittel- und langfristig zu erwartenden soziokulturellen und gesellschaftspolitischen Folgen – einschließlich der Fragen ihrer rechtlichen und ethischen Legitimation. Maßgeblich für die ethische Legitimation ist, wer über den Einsatz gentechnischer Keimbahneingriffe entscheidet – über die Stationen präklinischer Forschung ebenso wie über die klinische Anwendung. Auch hier geben die etablierten rechtlichen wie forschungsethischen Standards klare Regeln vor: In jedem Einzelfall – ob Forschung oder Anwendung – ist die freie Einwilligung der betroffenen Personen auf der Basis umfassender Information erforderlich. Insofern müssen zunächst die werdenden Eltern einwilligen.

Doch bei Keimbahninterventionen entscheiden diese nicht nur über die Verwendung ihrer zur Verfügung gestellten Keimzellen, sondern vor allem über die Lebenslage ihrer zukünftigen Kinder. Solche stellvertretenden Entscheidungen sind keinesfalls ungewöhnlich. Schon die Entscheidung, durch das eigene Fertilitätsverhalten überhaupt einem Menschen das Leben zu schenken, ist eine Entscheidung für diesen neuen Menschen – einschließlich all jener biologischen wie sozialen Vorgaben, auf deren Grundlage und in deren Rahmen dieser Mensch nach seiner Geburt sein Leben gestalten muss. Allerdings müssen die Eltern sich vom besten Interesse ihrer Kinder und nicht von ihren eigenen Vorlieben leiten lassen. Mehr noch: Solche advokatorischen Entscheidungen über die genetische Ausstattung zukünftig Lebender sind – wenn überhaupt – nur dann ethisch gerechtfertigt, wenn sie heute mit überzeugenden Gründen die Zustimmung der Betroffenen unterstellen können. Diese Unterstellung dürfte vermutlich nur bei solchen Keimbahnveränderungen plausibel sein, die schwersten Krankheiten vorzubeugen vermögen.

Je stärker gentechnische Entwicklungen persönliche oder auch gesellschaftliche Handlungsoptionen erweitern, desto mehr wächst der Entscheidungsdruck auf alle Beteiligten. Werdende Eltern dürften sich schon bald noch größeren Rechtfertigungszwängen ausgesetzt sehen als bisher: von Seiten einer Gesellschaft, die – subtil oder auch unverhohlen – bestimmte Erwartungshaltungen formuliert; aber auch von Seiten ihrer zukünftigen Kinder, denen gegenüber sie sich nicht nur für etwaige Keimbahneingriffe zu verantworten haben, sondern auch für ein etwaiges Unterlassen. Mit welchem moralischen Recht, so könnte aus der Zukunft in die Gegenwart die unangenehme Frage späterer Generationen gestellt werden, haben heutige Eltern der naturwüchsigen Entwicklung ihrer durch schwere Krankheiten gezeichneten Leiblichkeit freien Lauf gewährt, obwohl sie es in der Hand gehabt hätten, den daraus resultierenden schweren Belastungen durch rechtzeitige Intervention Einhalt zu gebieten?

Eine Aufgabe für die gesamte Weltgesellschaft

Gerade die letztgenannte Unannehmlichkeit unterstreicht: Ein kategorischer Stopp jeglicher Forschung und späterer Anwendung von Keimbahninterventionen wäre ähnlich voreilig, ja unverantwortlich wie das jüngste Vorpreschen des chinesischen Forschers. Die geltend gemachten Bedenken sind keine Totalblockaden. Sie erfordern allerdings ein Moratorium – also eine Zeit des Innehaltens, in der über die umsichtige Abklärung von biotechnischen Chancen und Risiken von Keimbahninterventionen hinaus auch umfangreiche gesellschaftliche Debatten geführt und politische Entscheidungen einschließlich rechtlicher Regelungen getroffenen werden können. Denn es muss auch eine gesellschaftliche Verständigung darüber gefunden werden, ob für die Erfüllung von Elternwünschen nach einem genetisch eigenen Kind – denn nur darum geht es letztlich bei der Keimbahnintervention – hohe Risiken eingegangen und zudem erhebliche Ressourcen eingesetzt werden, die an anderer Stelle fehlen werden. Hier sind erhebliche Zweifel angebracht. Der Deutsche Ethikrat hat deshalb schon 2016 nach Bekanntwerden der ersten erfolgreichen Keimbahnveränderungen umfangreiche Debatten angemahnt, die – weil es das universale „Erbe der Menschheit“ selbst betrifft – letztlich in der Weltgesellschaft zu führen sind. Nur so sind Forschung und Entwicklung in der Spur verantwortlicher Wissenschaft zu halten, ohne auf Abwege zu geraten.

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