Mehr als 10 000 Patienten in Deutschland warten auf ein Spenderorgan, im Schnitt etwa zehn Jahre. Jeder Vierte stirbt beim Warten, auch Kinder sind darunter. Während die Zahl der Organspender zuletzt wieder stieg – die Deutsche Stiftung Organtransplantation gab Anfang Januar für 2018 eine Steigerung um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr bekannt –, war im Zeitraum 2010 bis 2017 ein Rückgang um mehr als ein Drittel zu verzeichnen, von 1296 Spendern auf 797. Das Ärzteblatt rechnete angesichts dieser Entwicklungen bei einem durchschnittlichen Lebenszeitgewinn von 4,3 Jahren nach einer Organtransplantation allein für 2017 einen „Lebenszeitverlust“ von 6000 Jahren aus. Solche Rechenspiele vernebeln, dass immer erst jemand sterben muss, damit überhaupt Organe zur Verfügung stehen.
Im Zusammenhang mit den geplanten strukturellen Verbesserungen bei der postmortalen Organspende brachte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Widerspruchsregelung ins Spiel: Künftig soll demnach Spender sein, wer nicht zu Lebzeiten „Nein“ gesagt hat. Spahns Vorstoß hat eine große gesellschaftliche Debatte angeregt. Das ist gut so, denn eine Debatte ist nötig, damit sich jeder ein Urteil über die Organspende bilden kann und über die Frage, ob er bereit ist, nach dem Tod selbst Spender zu werden. Zu dieser notwendigen Debatte gehört es aber auch, kritische und fragwürdige Punkte offen anzusprechen.
Bevor weitreichende Neuregelungen getroffen werden, gilt es grundsätzlich abzuwarten, was das Gesetz zu strukturellen Verbesserungen bei der Organspende bewirken wird. Denn: „Das Hauptproblem bei der Organspende ist nicht die Spendebereitschaft“, wie erstaunlicherweise Spahn selbst im Herbst verlauten ließ. Ein entscheidender Schlüssel liege vielmehr bei den Kliniken, ihnen fehle häufig Zeit und Geld, um mögliche Organspender zu identifizieren.
Die von Spahn ins Spiel gebrachte Widerspruchsregelung zielt in eine falsche Richtung und erweist einer offenen, transparenten Debatte einen Bärendienst. Denn es ist unehrlich, wenn man die Anzahl der Organspender nicht durch bessere Information und mehr Freiwilligkeit zu erhöhen versucht, sondern letztendlich darauf setzt, dass Menschen aus Bequemlichkeit, Vergesslichkeit oder Unsicherheit einer Organspende zu Lebzeiten nicht widersprechen. Wahrscheinlich würden es vor allem die bildungsferneren Schichten sein, die das Recht auf Widerspruch aus diversen Gründen nicht wahrnehmen. Es drängt sich die Vorstellung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft auf, in der auf der einen Seite die Organspender und auf der anderen die Organempfänger stehen. Gegen eine Widerspruchsregelung sprechen zudem zahlreiche rechtliche und ethische Argumente. So kann man keineswegs davon ausgehen, dass Schweigen Zustimmung bedeutet. Es ist eine Anmaßung des Staates, von vornherein einen Anspruch auf die Organe seiner Bürger zu erheben und alle und jeden zu Spendern zu erklären. Das widerspricht der Würde des Menschen und dem Auftrag des Staates, eben diese Würde zu schützen. Auch mit dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen ist eine Widerspruchsregelung in keiner Weise zu vereinbaren.
Es besteht die Gefahr, den Tod anders zu definieren
Statt Regelungen zu diskutieren, die grundsätzliche Bedenken gegenüber der Organspende schlichtweg übergehen, sollte diese selbst wieder zum Thema gemacht werden. Dazu ist es notwendig, darauf zu schauen, was bei der Organspende genau passiert. Um als Spender in Frage zu kommen, muss man hirntot sein. „Hirntod“ bedeutet, dass zwar ein point of no return erreicht ist, doch der Organismus künstlich am Leben gehalten wird. Genau genommen befindet sich der Hirntote also im Prozess des Sterbens. Was bedeutet das für den sterbenden Menschen? Was bedeutet das für die Angehörigen und was für den Arzt? Da es sich bei dem Tod als erstes der vier Eschata um ureigenstes Gebiet der Kirchen handelt, ist hier auch ihr Beitrag gefragt.
In der ersten Orientierungsdebatte im Bundestag Ende November fragte Katja Kipping (Die Linke): „Besteht die Gefahr, dass irgendwann der berechtigte Wunsch, die Zahl der zur Verfügung stehenden Spenderorgane zu erhöhen, dazu führt, dass der Todeszeitpunkt so definiert wird, dass er die größtmögliche Ausbeutung ermöglicht?“ Dies klingt dystopisch, doch wie berechtigt die Frage ist, zeigt ein Blick auf Länder wie etwa die Niederlande, Belgien und Spanien, wo es deutlich höhere Organspendezahlen auch deshalb gibt, weil hier Organentnahmen nach dem Herztod gestattet sind. Der Herztod als Bedingung für Organspenden wurde in diesen Ländern einst mit eben dem Ziel eingeführt, mehr Organe zu generieren. Auch die Todesdefinition des Hirntodes ist noch nicht alt, sie wurde erst 1968 im Zusammenhang mit der sich entwickelnden Intensiv- und Transplantationsmedizin entwickelt. Die Gefahr der Grenzverschiebung steht also im Raum. Dies muss ebenfalls Bestandteil der Diskussion sein.
Ganz allgemein sollte die als selbstverständlich angenommene Maxime „Wir brauchen mehr Spenderorgane“ vorsichtig infrage gestellt werden. Denn das Ziel muss es umgekehrt sein – etwa durch verbesserte Gesundheitsprävention –, die Zahl der Menschen, die ein neues Organ brauchen, zu senken. Wissenschaftliche und wirtschaftliche Interessen dürfen in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen, sondern das Wohl jedes einzelnen Menschen, auch des sterbenden und toten, muss immer im Mittelpunkt stehen. julia-maria.lauer@herder.de