Lara (5;2 J.) und ihre Erzieherin spielen mit zwei identisch aussehenden Bällen. Nach einer Weile fällt dem Mädchen etwas auf: „Guck mal, der eine Ball ist weich und der andere hart!“ In einer solchen alltäglichen Szene steckt viel mehr, als sich auf den ersten Blick vermuten lässt: Lara vollzieht – zunächst für sich und ausgehend von einer Wahrnehmung – einen Erkenntnisprozess, den sie zudem verbalisiert. Einen alltäglichen Gegenstand aus ihrer Umwelt, den sie schon mehrfach gesehen und benutzt hat, nimmt sie plötzlich anders und detaillierter wahr als bisher. Indem sie sich aktiv mit den beiden Bällen auseinandersetzt und diese miteinander vergleicht, stellt sie fest: Die Bälle sind verschieden, obwohl es sich in beiden Fällen um den Gegenstand „Ball“ handelt. Da sich die beiden Bälle optisch nicht voneinander unterscheiden, war Lara davon ausgegangen, dass sie „gleich“ sind. Doch aufgrund ihrer haptischen Erfahrung verwirft sie diese Theorie und stellt fest, dass sich die Bälle hinsichtlich ihrer Materialbeschaffenheit unterscheiden.
In diesem Praxisbeispiel hat sich bei Lara ein Bildungsprozess vollzogen und sie hat sich ein Stück der Welt neu erschlossen. Außerdem verdeutlicht die Szene: Die „Identität“ eines Gegenstandes hängt vom jeweiligen Kontext, dem Betrachter, dessen Betrachtungsweise und dessen bisherigem Erfahrungshorizont ab. Gegensätze wahrzunehmen und zu erfahren, sich damit auseinanderzusetzen und sie zu thematisieren, birgt demzufolge ein hohes Bildungs- und Lernpotenzial im pädagogischen Alltag.
Wie sich Kinder Gegensätzen annähern
Unser Alltag ist voll von Gegensätzen. Wir ordnen die Gegenstände, die uns begegnen, in Kategorien ein, z. B. groß und klein, laut und leise, leicht und schwer, süß und sauer. Dadurch strukturieren bzw. vereinfachen wir die Komplexität der uns umgebenden Umwelt. Voraussetzung dafür ist es zunächst, den jeweiligen Gegenstand auf unterschiedliche Art und Weise – d. h. visuell, haptisch, gustatorisch, auditiv usw. – wahrnehmen zu können. Dies eignen sich Kinder erst an und sie entwickeln dabei in ihrer Weltordnung eine Trennung von Subjekt und Objekt. Zunächst lernt ein Säugling, Gegenstände von seiner Umgebung zu unterscheiden, wobei er zugleich Objektpermanenz erwirbt. In dieser ersten Phase geht es darum, Gegenstände sensomotorisch grundlegend zu erkunden. Als Nächstes ist das Kind in der Lage, einen Gegenstand über ein Wort, Bild oder Symbol repräsentieren zu können. Es konstruiert sich so ein kognitives Schema, um in seiner Umwelt zurechtzukommen. Erst durch diesen Entwicklungsschritt und den Erwerb einer Repräsentation können Kinder Kategorien und Ordnungen von Gegenständen bilden. Auf dem Weg dahin macht sich ein Kind mit den Gegenständen in seiner Umwelt Schritt für Schritt vertraut. Je nach Lebensphase entdeckt und nutzt es einen Gegenstand auf unterschiedliche Weise. So berührt und erspürt es bspw. bei einem Mantel zunächst den Stoff, dann zieht es den Mantel an, verwendet ihn als Decke oder Umhang, bis dieses Kleidungsstück für das Kind später ein Schutzsymbol repräsentiert oder das Kind es im Rollenspiel zur Requisite umfunktioniert. In der Auseinandersetzung mit alltäglichen Gegenständen erlebt ein Kind dies folglich immer wieder aufs Neue: Es bringt sie in bisher unbekannte Zusammenhänge, verwirft alte Erkenntnisse, entwickelt neue Bilder und bezieht dabei Körpererfahrungen mit ein (vgl. Stenger 2013). Erst wenn ein Kind solche Beobachtungen und Erfahrungen mit den Gegenständen in seinem Umfeld gesammelt hat, kann es Gegensätze erkennen. Denn diese nimmt es im Vergleich zwischen den Dingen bzw. im Abgleich zwischen bisherigem Erfahrungswissen und neuen Erlebnissen wahr. Die Bedeutungen der Gegenstände und das Wissen um deren Gegensätzlichkeiten entstehen folglich immer erst dadurch, dass ein Kind mit den Gegenständen in seiner Umwelt agiert. So kann der jeweilige Gegenstand, der zunächst in einen spezifischen Kontext eingebunden ist, eine völlig andere Bedeutung und damit auch Gegensätzlichkeit zu einem anderen Gegenstand bekommen, wenn ein Kind ihn in einen anderen Zusammenhang bringt.
Gegensätze in den Bildungsbereichen erkennen
Auch in Kitas kommen Kinder täglich mit zahlreichen Gegensätzen in Berührung. Ausgehend von den in den Bildungsplänen aufgeführten Bildungsbereichen und den alltäglichen Tätigkeiten von Kindern, hierzu einige Beispiele.
- Sprache und Kommunikation: Um Personen oder Gegenstände zu charakterisieren, gebrauchen Kinder meist Gegensätze wie bspw. groß und klein, dick und dünn, rund und eckig. Diese Formulierungen sind im sprachlichen Bereich nicht nur nötig, um Dinge zu beschreiben – sondern sie dienen auch dazu, die Schilderungen anderer nachzuvollziehen, Dinge miteinander zu vergleichen und sich darüber mit Anderen auszutauschen.
- Mathematik und Naturwissenschaften: Den Unterschied zwischen bspw. Sommer und Winter erkennen Kinder anhand der gegensätzlichen Temperaturen bzw. Witterungen wie z. B. heiß und kalt, nass und trocken, flüssig und gefroren. In der Mathematik beschreiben und vergleichen Kinder Mengen und Mengenverhältnisse mithilfe von Gegensätzen wie bspw. viel und wenig oder sie addieren bzw. subtrahieren Zahlen mithilfe der Rechenoperationen Plus und Minus. Die eigene Körpergröße und die anderer Kinder stufen sie durch Messen und anschließendes Vergleichen als größer oder kleiner ein. Und schließlich finden sich in der Geometrie z. B. die gegensätzlichen Formen rund und eckig.
- Bewegung und Körper: Wenn sie gemeinsam singen und sich bewegen, erkennen Kinder Unterschiede in Melodie, Lautstärke, Geschwindigkeit sowie Rhythmus und nutzen diese, um sich daran zu orientieren. Die relevantesten Gegensätze im Bereich Musik sind laut und leise, schnell und langsam sowie hoch und tief. Den Unterschied von schnell und langsam nehmen Kinder auch wahr, indem sie Bewegungen im Bereich der Motorik spüren und aktiv steuern. Darüber hinaus erfahren sie im Alltag beim Waldspaziergang oder in Bewegungsspielen Gegensätze wie etwa rennen und schlendern oder stampfen und schleichen.
- Spielen und Fantasieren: Indem Kinder z. B. in Rollenspielen Gegenstände in neue und bisher ungewohnte Kontexte setzen und damit deren eigentliche, ursprüngliche Sinndeutung verändern, können sie Gegensätze dinglich und materialbezogen anders begreifen. Der kreative und fantasierende Umgang mit den Dingen (auch Imagination) ermöglicht erst eine vertiefende Auseinandersetzung mit Gegensätzen.
- Gestalten und Konstruieren: Dieser Bereich birgt entsprechend seiner vielfältigen Materialien und deren Eigenschaften auch eine Vielzahl an Gegensätzen. Die Materialien können bspw. weich und hart oder glatt und rau sein, groß und klein, dunkel und hell, dick und dünn oder lang und kurz. Auch die kreativen Bearbeitungs-, Bau- bzw. Gestaltungsmöglichkeiten lassen sich zu Gegensatzpaaren gliedern: So kann etwa ein Blatt Papier weiß bleiben oder schwarz werden, die Kinder können ein Material zerschneiden und an anderer Stelle etwas ankleben oder von einem Material viel bzw. wenig verwenden.
Individuelle Bildungserfahrungen ermöglichen
Auch in weiteren Bildungsbereichen, wie z. B. Technik und ethisch-religiöser Bildung, ließen sich vielfältige Situationen finden, in denen Kinder Erfahrungen mit Gegensätzlichem sammeln können. Allerdings möchten wir uns an dieser Stelle von der Logik der Bildungsbereiche trennen. Denn wie der Pädagoge Norbert Neuß (2014) kritisch anmerkt, sind diese an einer „Fächerlogik“ orientiert, die zunehmend dazu führt, dass sich in Kitas eine Angebotsstruktur durchsetzt, die dieser vorgegebenen „Gesetzmäßigkeit“ Folge leistet. Dabei besteht die Gefahr, dass die individuellen Bedürfnisse und Interessen der Kinder programmatischen Anforderungen untergeordnet werden. Kinder lernen und bilden sich jedoch nicht in der getrennten Logik der Bildungsbereiche. Bildungsund Lernprozesse vollziehen sich immer ganzheitlich und sind am nachhaltigsten, wenn sie an den Erfahrungen, Interessen, Wünschen, Bedarfen und Fähigkeiten der Kinder anknüpfen. Daher erscheint es auch sinnvoll, bei der Thematik „Gegensätze im pädagogischen Alltag“ von den Tätigkeiten der Kinder und nicht von den Bildungsbereichen auszugehen, um den Kindern individuelle Bildungserfahrungen zu ermöglichen.
Das Interesse an Gegensätzen didaktisch aufgreifen
Pädagogischen Fachkräften kommt die Aufgabe zu, gemeinsam mit den Kindern Gegensätze im Alltag zu ergründen, zu erforschen und ganzheitlich erfahrbar zu machen. Dabei geht es v. a. darum, das natürliche Interesse von Kindern an Gegensätzen wahrnehmend zu beobachten und daran anknüpfend ihr Interesse in der pädagogischen Begleitung aufzugreifen. Sich als Entwicklungsbegleiter/- in zu verstehen, bedeutet, die Kinder zu beobachten und nachzuvollziehen, wie sie sich ihren Weg zu den Gegenständen suchen und sich diese sowie deren Zusammenhänge erklären und aneignen. Ein möglicher Zugang für eine solcheEntwicklungsbegleitung kann Lernwerkstattarbeit sein. Diese ermöglicht es als didaktisches Prinzip, gemeinsam Fragen und Antworten zu finden. Durch ihre Ausstattung, Werkzeuge, Materialien und Didaktik ermöglicht es die Lernwerkstatt, Lernen als Werken und Wirken, Produzieren und Gestalten, Experimentieren und Testen zu verstehen. Um Kindern Zugänge zum Themenbereich „Gegensätze“ zu eröffnen, bietet sich ein Büfettbzw. Lernthekenmodell an. Dies bedeutet eine Arbeit an sog. Materialtischen, Themenkisten oder Werkstoffboxen, die sich aus dem Fundus einer Lernwerkstatt zusammensetzen. Die pädagogische Fachkraft wählt die entsprechenden Materialien aus und inszeniert sie ästhetisch. Das bedeutet, dass die Materialien und Werkzeuge – in Anlehnung an ein Speisebüfett – ansprechend arrangiert und strukturiert sind. Somit fordern sie Kinder auf, eigenständig damit tätig zu werden, sie zu untersuchen und zu differenzieren. Dabei zeigt sich, dass Kinder verschiedene Bezüge zu den Dingen entwickeln, die unterschiedlich gedeutet werden können und so für das pädagogische Handeln von Bedeutung werden. Dingarrangements, Lernumgebungen und inszenierte Gegenstände, die zu kognitiven Konflikten, also Irritationen führen, können neue Repräsentationen und Schemata bilden. Mit Blick auf Gegensätze bieten sich bspw. folgende Lernwerkstattarrangements an:
- Leicht und schwer (Grunderfahrung: Gewicht und Schwerkraft): Das Gewicht unterschiedlich schwerer Gegenstände wie bspw. Steine und Federn in den Händen fühlen, mithilfe einer digitalen und/oder analogen Waage abwiegen und einen sehr leichten sowie einen schweren Gegenstand gleichzeitig aus einiger Höhe herunterfallen lassen.
- Sichtbar und unsichtbar (Grunderfahrung: Objektpermanenz): Kleine Spielzeuge und/ oder sich selbst unter einem Tuch oder in einer Kiste verstecken und wieder zum Vorschein kommen lassen.
- Einzeln und zusammen (Grunderfahrung: Verbindungen): Stoffe, Papier und weitere Gegenstände mithilfe verschiedener Materialien wie z. B. Schnüre, Tacker, Klebstoff und Wäscheklammern verbinden und wieder trennen.
- Leer und voll (Grunderfahrung: Masse/Volumen): Gefäße mithilfe von Schläuchen, Trichtern und Messbechern mit Wasser befüllen und wieder entleeren.
Für pädagogische Fachkräfte ist es wichtig, an die Bedeutungen, die Kinder Gegenständen geben, anzuknüpfen und ihnen mit Impulsen, weiterführenden Fragen und gemeinsamen Themen eine Bearbeitung ihrer Fragen an die Welt zu ermöglichen.