Herders Koran-KommentarWie man den Koran zeitgemäß liest

Der Koran ist keine Selbstrede Gottes, sondern ein Gesprächsangebot, in dem Gott erfahrbar wird. Das ist der Kern eines auf siebzehn Bänden angelegten Kommentars.

Mouhanad Khorchide wird im deutschsprachigen Raum als der Vorreiter einer zeitgemäßen Auslegung des Islam wahrgenommen. Der Leiter des in Münster angesiedelten Zentrums für Islamische Theologie wurde 1971 geboren und wuchs in Saudi-Arabien auf. Er studierte Islamische Theologie und Soziologie in Beirut und Wien. Seit 2010 lehrt und forscht er an der Universität Münster. Das vorliegende Werk versteht sich „als erste Skizzierung eines theologisch-hermeneutischen Zugangs zum Koran als Selbstoffenbarung Gottes“. Zugleich stellt es den ersten Band eines theologischen Korankommentars dar, der in siebzehn Teilen „im Laufe der nächsten Jahre erscheinen soll“. Hier sollen in aller Kürze einige Aussagen des Werkes dargelegt werden, die im Gegensatz zur bisher vorherrschenden Tradition der Koranauslegung als neu zu bezeichnen sind.

Der islamische Glaube gründet auf dem Gedanken der Offenbarung Gottes im Koran. Für Mouhanad Khorchide handelt es sich dabei in erster Linie nicht um einen in einem Buch festgelegten Text, „in dem ich lese und aus dem ich Instruktionen sowie Handlungsanweisungen für mein Leben ableite“. Vielmehr ist der Koran „ein Medium der Begegnung mit Gottes liebender Barmherzigkeit, die mich berühren, ergreifen und zur Liebe entzünden will“. Dem Aufweis der absoluten Zentralität der Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes – in Kontrast zu der traditionellen Betonung seiner Gerechtigkeit – widmet der Autor einen zentralen Teil des Werks. Gott hat mit dem Koran seine eigene Gegenwart und damit sein Zusagewort den Menschen offenbart. Der Autor spricht gar von „der Selbstvergegenwärtigung Gottes, von seiner geschichtlichen Selbstpräsenz im Koran“. Anders formuliert: Im Gegensatz zu einer Auffassung von der „Offenbarung des Koran als Monolog Gottes“, als ewige göttliche Selbstrede, „die kontextunabhängig ist“, betont Khorchide: Die Offenbarung als Dialog Gottes bedeutet ein Verständnis vom Koran als einem Medium der Kommunikation zwischen Gott und dem Menschen – und zwar nicht nur für die Erstadressaten im 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel, sondern für alle Menschen aller Zeiten. „Und genau dieses Kommunikationsangebot und diese Beziehungszusage des Koran, die Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes ist – verstanden als die bedingungslose Zuwendung und Zusage Gottes an die Menschen –, stellt den eigentlichen Inhalt des Koran dar.“ Der Koran bleibt „eine offene, lebendige Kommunikation, die auch hier und jetzt stattfindet, wenn ich den Koran lese, rezitiere oder ihn höre“.

In Sure 5:54 spricht Gott von Menschen, „die er liebt und die ihn lieben“ und die er als Zeugen beruft. Der Verkünder des Koran – Mohammed – sieht in dieser wechselseitigen Liebesbeziehung einen wichtigen Aspekt der Vollendung menschlichen Daseins. Der Mensch ist freier Ansprechpartner der Liebeszusage Gottes. Vor allem durch den ergreifenden Klang bei seiner Rezitation ermutigt der Koran die Erstadressaten wie auch die heutigen muslimischen Gläubigen dazu, durch ihr Handeln und ihren Einsatz in der Welt ein Medium der Verwirklichung göttlicher liebender Barmherzigkeit zu sein. Dadurch entsprechen sie ihrer eigenen Freiheit.

Allerdings ist die Verwirklichung des Menschen als freiheitliches Wesen immer wieder vom Scheitern bedroht. Gerade hier soll die Begegnung mit der im Koran offenbarten liebenden Barmherzigkeit Gottes Hoffnung machen. Sie will befreien und zur Liebe entzünden.

Der christliche Leser wird auf Khorchides Weise, den Koran – und damit den Islam – zu verstehen, mit Respekt und Dankbarkeit reagieren. Da es im Islam kein Lehramt gibt, ist jeder Muslim berechtigt, ja aufgerufen, in der Gegenwart nach bestem Wissen und Gewissen das je eigene Islamverständnis zu entwickeln. Es wird sich herausstellen, bis zu welchem Grad die vorliegende Interpretation des Islam von den Muslimen aufgenommen werden wird.

Einige Fragen aus christlicher Perspektive seien erlaubt. Ist das, was der Verfasser als liebende Barmherzigkeit Gottes bezeichnet, identisch mit dem, was der christliche Glaube mit der Liebe Gottes meint, die uns in und durch Jesu lebendiges Zeugnis geoffenbart worden ist? Wird die harte Realität der sündhaften, rebellischen Verneinung des Angebots göttlicher Barmherzigkeit im vorliegenden Werk genügend ernstgenommen und bedacht? Wie reagiert Gott in seiner liebenden Barmherzigkeit auf die permanente Aufsässigkeit der Sünder? Jesus gibt darauf eine Antwort im Gleichnis von den Winzern (Lk 20,9–19). Gott spricht in den Worten des Herrn des Weinbergs zu sich selbst: „Was soll ich tun? Ich will meinen geliebten Sohn schicken.“ Er antwortet also auf Sünde und Ungehorsam der Menschen mit der Hingabe seiner selbst in Jesus, um die unheile Welt mit sich und untereinander zu versöhnen und zu erlösen (vgl. 2 Kor 5,18ff). Solche Selbsthingabe aber ist unüberbietbar, denn mehr zu geben als sich selbst, ist nicht möglich, auch für den dreieinen Gott nicht. Jesus entspricht in seiner Liebe bis zur Vollendung (Joh 13,1) ganz dem, was der geheimnisvolle Gott ist: sich selbst hingebende Liebe (vgl. dazu die Arbeitshilfe der deutschen Bischofskonferenz „Christen und Muslime in Deutschland“, Nr. 172, Bonn 2013).

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