Kamel DaoudKöpfe aus der einen Welt

Kamel Daoud, Algerien
Kamel Daoud, Algerien© Foto: Joel Saget/Getty-images/AFP

Schreiben rettet Leben. So lässt sich der aktuelle Roman „Zabor“ des algerischen Schriftstellers Kamel Daoud zusammenfassen (Verlag Kiepenheuer & Witsch). Es geht um nicht weniger als die Verlängerung des irdischen Lebens, um das Wunder der – vorläufigen – Errettung vom Tode. Es ist die Hauptfigur Ismael in einem Dorf Algeriens, die diese besondere Gabe besitzt. Er hat eine „Ziegenstimme“ und leidet von Geburt an unter einer schwachen Lunge, neigt zu Ohnmachtsanfällen. Weshalb ihn sein Vater bereits als Kind verstoßen hat und die Mutter gleich mit ihm. Ismaels Halbbrüder blieben als „wahre“ Nachkommen in den Fußstapfen des Vaters und erlernten ein Handwerk. Ismael hingegen beginnt, mit großer Leidenschaft zu lesen – und zu schreiben. Dazu angeleitet hat ihn seine Stiefmutter Hadjer, eine ledige Tante. Dabei begreift der Junge nach und nach, dass eine schriftlich niedergelegte Erzählung, eine Geschichte der Existenz, nicht nur Erinnerung an die Vergangenheit, sondern das Lebenselixier für die Gegenwart schlechthin ist. „Schreiben ist die einzig wirksame List gegen den Tod“, heißt es zu Beginn des Romans.

Wie Ismael entdeckt, dass er die geheime Macht besitzt, ein Leben erzählend zu verlängern, ist spannend zu lesen. Wenn der Arzt des Dorfes das Zimmer eines Sterbenden verlässt, weil er mit seiner Kunst am Ende ist, wird Ismael gerufen, um das Unmögliche wahr werden zu lassen. Dann setzt er sich ans Sterbebett, greift zu Stift und Papier und schreibt seine Gedanken über den Sterbenden und dessen Beziehungen zu anderen Menschen nieder. Je mehr er in seine Hefte notiert, umso weiter entfernt sich der Tod vom Sterbenden. Eine fast biblische Wundergeschichte. Ismael erinnert sich, dass gerade in seinem Dorf am Rande der Sahara die Hundertjährigen stark zugenommen haben. Über wen er schreibt und wen er beschreibt, der bleibt – und sei es auch nur für eine kleine Weile.

Was an Tausendundeine Nacht angelehnt ist, jene Volkserzählungen der Scheherazade gegen den Tod, wird bei Kamel Daoud zu einer komplex angelegten Handlung, die Sprache und Leben, Lieben und Leiden, Leib und Seele betrifft. Im Schreiben rebelliert Ismael gegen Hoffnungslosigkeit, politische Unfreiheit, gegen das Unwesen in der Religion. Die Literatur ist demgemäß die Retterin aus dem Gefängnis der Traditionen und Verhaltensweisen, in denen die arabisch-islamischen Kulturen verharren. Überhaupt spielt die Religion im Roman eine wichtige Rolle. „Zabor“ ist nicht nur das arabische Wort für das biblische Buch der Psalmen, Ismael schreibt in der Erzählhandlung auch an einem gleichnamigen Roman, fügt sozusagen den Psalmen Davids, diesem biblischen Liederbuch der religiösen Weltliteratur, seine eigenen „Lieder“ hinzu. Dass der Schriftsteller-Nachname Daoud die arabische Form des hebräischen „David“ ist, zeigt, wie sehr sich der Algerier mit der Person des schreibenden Zabor identifiziert.

Im wirklichen Leben geriet der 1970 im algerischen Mostaganem geborene Kamel Daoud, der zunächst als freier Journalist arbeitete, in Konflikt mit den konservativen religiösen Führern seines Landes, die ihn als Häretiker brandmarkten. Er hatte die aus ihrer Sicht strafbare Forderung aufgestellt, man müsse den Koran in zeitgenössisches Arabisch übersetzen und die arabische Kultur von ihrer frauenfeindlichen Sicht befreien. In der „Zeit“ formulierte es Kamel Daoud zugespitzt einmal so: „In der arabischen Welt haben wir eine kranke Beziehung zur Frau. Trotz aller Unzulänglichkeiten beneide ich den Westen um die Rolle der Frau in seiner Gesellschaft. Wer aber eine kranke Beziehung zur Frau hat, hat auch eine kranke Beziehung zur Welt, was seine Kreativität, seine Freiheit, seinen Körper und seine Begierden betrifft. Wie können wir das Leben lieben, ohne die Frau zu lieben? Wie können wir Familien aufbauen, wenn wir die Frau nicht respektieren?“

Folgerichtig sind es in „Zabor“ auch Frauen, die den Außenseiter Ismael auf die Spur des Lesens und Schreibens bringen: seine Stiefmutter Hadjer sowie seine erste große Liebe. Die anhaltende Abneigung der algerischen Eliten gegen Kamel Daoud rührt auch daher, dass er seine vielfach ausgezeichneten Werke auf Französisch und nicht auf Arabisch verfasst hat. Es ist die Sprache einer Kultur, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufs Schild gehoben hat und damit einen geistigen Wandel Europas mit begründete. Und es ist die Sprache von Proust, Diderot, Sartre, Camus und anderen, die mit ihren Büchern weltweit ganze Generationen begeistert haben und noch begeistern. In „Zabor“ heißt es: „Der wirkliche Sinn der Welt lag in den Büchern, und die Sprache … entbot mir davon das Wesentliche. Alles sollte dort vorkommen. Alles sollte erfasst werden, inventarisiert, klassifiziert, bezeichnet und benannt werden, um nicht unterzugehen.“ Kamel Daoud ist eine Hymne auf die Kraft der Sprache gelungen, auf das Wort, das bewegt, Kritik übt und den Geist herausfordert. Mit „Zabor“ hat Daoud eine großartige Parabel über das Verhältnis von Glaube und Wissen geschrieben.

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