So entstand das Schreiben von Papst Franziskus an die DeutschenDas Briefgeheimnis

Lange war unbekannt, wie Franziskus’ Brief an die Deutschen entstand. Nun ist klar, wie die Vorbereitung hinter den Kulissen des Vatikans lief. Eine Rekonstruktion.

Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin und Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), am 29. Mai 2019 in Rom.
© KNA Bild / Christian Gennari

Wenn Papst Franziskus einen Vertrauten sprechen will, braucht er keine Kuriere und keine Vorzimmer, sondern nimmt einfach seinen Telefonhörer in die Hand und ruft persönlich an. So kam es, dass in diesem Juni in der Privatwohnung des deutschen Kardinals Walter Kasper in Rom das Telefon klingelte und sich Franziskus meldete. Es ging um Deutschland. Der Papst hatte etwas Ungewöhnliches vor – und der Kardinal sollte ihm dabei helfen. Ob Kasper vielleicht in den nächsten Tagen einmal zu ihm in den Vatikan kommen könne, in die Casa Santa Marta?

Nur wenige Wochen nach dem Anruf des Papstes, genauer gesagt am 29. Juni, dem Hochfest Peter und Paul, erschien in Deutschland ein Dokument, das es in dieser Form seit Jahrzehnten nicht gegeben hat, wenn überhaupt je: In einem Brief an alle Gläubigen des Landes, an „das pilgernde Volk Gottes“, äußerte sich der Papst zur Situation der Kirche in Deutschland. Das pflegt ein Papst normalerweise nicht einmal dann zu tun, wenn es sich bei ihm, was ja alle Jubeljahrtausende vorkommt, gerade um einen Deutschen handelt.

Franziskus’ Schreiben platzte mitten in die Vorbereitungen des von den deutschen Bischöfen angekündigten Synodalen Weges, bei dem es um die Lehren aus der Missbrauchskrise geht und an dessen Ende konkrete Reformen beschlossen werden sollen: mit Blick auf die Lebensweise der Priester, auf die Rolle der Frauen in der Kirche, auf die katholische Sexualmoral, auf klerikale Macht. Neben den Einzelfragen ist der Synodale Weg zugleich eine Probe aufs Exempel, was unter der „heilsamen ,Dezentralisierung‘“ der Weltkirche denn nun zu verstehen ist, die der Papst in seinem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ empfohlen hat: Wie viel Eigenständigkeit wird Rom den Deutschen bei ihren Debatten zugestehen, ohne einzugreifen?

Entsprechend groß ist seit der Veröffentlichung des Papstbriefes die allgemeine Verwirrung in der Kirche: Ist der Text als Ermutigung gemeint oder als Einhegung? Was hält Franziskus wirklich vom Synodalen Weg? Die Sache ist noch drängender geworden, seit sich vor Kurzem auch noch der Präfekt der Bischofskongregation, Kardinal Marc Ouellet, in einem weiteren Schreiben an die deutsche Kirche gewandt hat. Ouellet mahnt die Deutschen unverhohlen zur Mäßigung. Steht der Präfekt damit alleine da, während Franziskus die Sache eigentlich ganz anders sieht, oder ist Ouellets Brief sozusagen nur eine humorlose Interpretationshilfe für das, was Franziskus auch schon hatte sagen wollen?

„Gelinde gesagt erstaunt“

Die Verunsicherung rührt nicht zuletzt daher, dass die Entstehung des Papstbriefes bislang im Dunkeln liegt: Wie ist Franziskus überhaupt auf die Idee mit dem Brief gekommen? Hatte er Ghostwriter? Woher bezieht er seine Informationen über Deutschland? Jetzt äußert sich mit Kardinal Kasper zum ersten Mal eine der Personen öffentlich, die unmittelbar an der Genese beteiligt waren. Kurze Zeit nach dem besagten Anruf des Papstes sei es zu einem ausführlichen persönlichen Gespräch zwischen ihm und Franziskus über die Situation in Deutschland gekommen, so Kasper gegenüber der „Herder Korrespondenz“. Der Kardinal zeigt sich „gelinde gesagt erstaunt“, wie das Papstschreiben danach in Deutschland aufgenommen wurde.

„In Deutschland hat man den Brief des Papstes zwar viel gelobt, ihn dann aber zur Seite gelegt und weitergemacht, wie schon zuvor geplant“, sagt Kasper. „Doch ohne Erneuerung aus dem Glauben gehen alle noch so gut gemeinten strukturellen Reformen ins Leere.“ Selbstverständlich sei Evangelisierung nicht ohne persönliche Umkehr und Erneuerung und auch nicht ohne Reformen möglich. „Aber es ist eine verhängnisvolle Selbsttäuschung, zu meinen, mit strukturellen Reformen allein wieder neue Glaubensfreude wecken zu können. Das kann am Ende nur zu neuer, noch tieferer Enttäuschung führen.“ Franziskus dagegen habe die Evangelisierung in den Mittelpunkt seiner pastoralen Überlegungen gestellt. „Damit hat er die Linie seiner Vorgänger von Paul VI. bis Benedikt XVI. entschlossen weitergeführt“, so der Kardinal.

Entstand der Papstbrief an die Deutschen demnach unter Beratung durch einen deutschen Theologen, so wurde die ursprüngliche Idee des Briefes allerdings ganz ohne deutsche Beteiligung geboren. Wie drei Vatikanquellen der „Herder Korrespondenz“ unabhängig voneinander berichteten, kam die eigentliche Initiative weder aus Deutschland noch vom Papst selbst, sondern aus der Römischen Kurie.

Den Angaben zufolge herrscht auf den Fluren des Vatikans seit Längerem ein noch größeres Unverständnis über den Kurs des deutschen Episkopates, als es ohnehin Tradition ist. Insbesondere seit den Entscheidungen der vergangenen Jahre, wiederverheirateten Geschiedenen sowie nicht-katholischen Ehepartnern in Ausnahmefällen die Kommunion zu gewähren, gelten die Deutschen als unberechenbar. Angeblich fühlen sich manche Kleriker in Rom von der aktuellen Lage gar an die deutschen Abwanderungstendenzen der Reformationszeit erinnert – und wollen dieses Mal kein Risiko mehr eingehen.

Die turnusgemäßen Lageberichte aus Deutschland des Apostolischen Nuntius in Berlin, des Erzbischofs Nikola Eterović, müssen diese Atmosphäre des Misstrauens noch verstärkt haben. Das legt auch das erwähnte Schreiben von Kardinal Ouellet an die deutsche Kirche von Anfang September nahe, in dem Ouellet die Berichte des Nuntius ausdrücklich als Ausgangspunkt für seine eigenen Bedenken erwähnt. Jedenfalls kamen im Frühjahr, unter dem Eindruck der auf der Frühjahrsversammlung der deutschen Bischöfe erfolgten Ankündigung des Synodalen Weges, mehrere Prälaten der Kurie zu der Überzeugung, dass es Zeit sei, zu handeln. So beraumte man den Angaben der Insider zufolge im Mai mindestens ein sogenanntes interdikasterielles Arbeitstreffen hochrangiger Kurienkardinäle im Vatikan an, das unter höchster Diskretion ablief und auf dem es nur einen einzigen Tagesordnungspunkt gab: die Sorge über die Situation der Kirche in Deutschland.

Teilnehmer der Gespräche, die auf Initiative der Bischofskongregation zustande gekommen sein sollen, waren laut der drei Quellen die Spitzen von Glaubens-, Klerus- und Bischofskongregation, in Gestalt des jeweiligen Präfekten sowie jeweils eines Sekretärs. Zugegen war schließlich auch die Nummer zwei der Weltkirche, Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin. Bei diesen Konsultationen sollen verschiedene Ideen erwogen worden sein, etwa ein mahnendes Schreiben dieses oder jenes Dikasteriums. Erst allmählich reifte die Überzeugung, dass die besondere Situation eine besondere Maßnahme erfordere: Der Papst persönlich solle die Deutschen in einem Schreiben an ihre Einheit mit Rom erinnern. Allerdings, so heißt es, war zu diesem Zeitpunkt nicht an einen mehrseitigen Brief an die Gläubigen, sondern an ein knappes Schreiben an die Deutsche Bischofskonferenz gedacht.

Der Präfekt der Glaubenskongregation, der spanische Kardinal Luis Ladaria, wurde schließlich auserkoren, eine entsprechende Bitte an den Papst heranzutragen. Franziskus machte sich das Anliegen zu eigen und erweiterte es: zur Idee eines meditativen Grundsatzschreibens an das ganze „pilgernde Volk Gottes“. Zu diesem Ablauf befragt, teilte das Presseamt des Heiligen Stuhls der „Herder Korrespondenz“ mit: „Wir können bestätigen, dass der Brief des Papstes an die Deutschen, wie es auch bei anderen Texten üblich ist, auch zurückzuführen ist auf einen internen Austausch zuständiger Dikasterien des Heiligen Stuhls, der in besagtem Zeitraum stattgefunden hat.“ Der Papst habe die Impulse dieses Austausches „sicher zur Kenntnis genommen“.

Maßnahme besonderer Diskretion

Franziskus verlor keine Zeit. Die Phase der Ausarbeitung, in der er unter anderem Kardinal Kasper als Berater hinzuzog, schloss sich direkt im Juni an. Der Papst übernahm persönlich die Federführung und schrieb seine Originalfassung extra in seiner Muttersprache Spanisch, um sich besonders präzise ausdrücken zu können. Als der Text fertig war, ließ Franziskus ihn den Informationen zufolge nicht, wie es naheliegend gewesen wäre, im Staatssekretariat, sondern in der Glaubenskongregation vom Spanischen ins Deutsche übersetzen. Dies wird von Beobachtern als Maßnahme besonderer Diskretion interpretiert.

Die Vertraulichkeit scheint bis zum Schluss gewahrt worden zu sein, jedenfalls zeigten sich später die Bischöfe in Deutschland einhellig überrascht von der Post aus Rom, der DBK-Vorsitzende Kardinal Reinhard Marx inbegriffen. Nuntius Eterović, dessen Berichte aus Deutschland eine wichtige Rolle für die wachsenden römischen Allergien spielten, wurde am Ende der Textarbeiten vom Papst persönlich ins Bild gesetzt: Am 15. Juni, nach der Begräbnisfeier im Petersdom für den verstorbenen Apostolischen Nuntius in Argentinien, sah man den Papst Eterović zu einem kurzen Gespräch in die Sakristei bitten. Keine zwei Wochen später überbrachte der Nuntius das Papstschreiben dem Ständigen Rat der Bischofskonferenz in Berlin, wiederum wenige Tage später erfolgte die Veröffentlichung.

Somit ist der Papstbrief das Ergebnis eines langen Nachdenkens innerhalb der Kurie, wie man die Deutschen am besten wieder auf die Einheit mit Rom verpflichten könnte. Doch falls Franziskus die Hoffnung hatte, mit seinen Worten dem Synodalen Weg in Deutschland eine neue Richtung zu geben, wurde er enttäuscht. Mehrere deutsche Bischöfe erkannten in dem ersten Brief eines Papstes an die Deutschen seit Menschengedenken vor allem den Vorschlag, mit allem genau so weiterzumachen wie bisher.

Heute, nach Bekanntwerden des Schreibens von Präfekt Ouellet, ist allerdings klar, dass diese Strategie die Verstimmungen im Vatikan nicht unbedingt gelindert hat. Dass ein solcher zweiter Brief aus Rom ohne Zustimmung von Franziskus und ohne Absprache mit den anderen Kurienbehörden verschickt wird, ist mit Blick auf die Genese des Papstbriefes an die Deutschen, an der Ouellet beteiligt war, schwer vorstellbar.

Seit seinem Amtsantritt wird von Franziskus oft das Bild vom Revolutionär im eigenen Palast gemalt, der gegen die Verkrustungen der in die Jahre gekommenen römischen Kurie kämpft, statt mit ihr gemeinsame Sache zu machen. Wenn das so ist, dann haben Papst und Kurie mit der Situation in Deutschland immerhin einmal ein Thema gefunden, bei dem sie sich einig sind.

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