KirchenmusikBach – alle Jahre wieder?

Alles schon gesagt und gehört zum Weihnachtsoratorium? Ein neues Buch ringt dem bekanntesten Bach-Werk neue Seiten ab.

Vor dem Weihnachtsoratorium habe ich mich jahrelang gefürchtet“, schrieb die Schriftstellerin Carola Moosbach 2015 in einem „Plädoyer für gelegentliches Oratoriumsfasten“. Man ahnt durchaus, warum: Viel zu vertraut, viel zu oft gehört, vielleicht auch viel zu sehr seinem ursprünglichen Kontext entrissen. So mag einem Johann Sebastian Bachs wohl bekanntestes Werk erscheinen. Bei aller Geläufigkeit darf man aber nicht übersehen, dass Texte wie etwa jener der Arie im ersten Teil „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben…“ einem heutigen Zuhörer kaum auf Anhieb einleuchten dürften.

Umso schöner ist es, sich wieder einmal gründlich mit Bachs Werk zu beschäftigen, ohne das Weihnachten für viele Menschen nicht denkbar ist. Dazu gibt ein neuer kompakter Band der beiden Bach-Experten Henning Bey und Meinrad Walter willkommenen Anlass. Zu Beginn steht eine Einführung, insbesondere zur Entstehung und ursprünglichen Aufführung des Weihnachtsoratoriums. Diese war ganz anders, als das heute üblich ist: Das ganze Werk konnte nur hören, „wer in Leipzig 1734/35 an jedem der sechs Sonn- und Feiertage zwischen Weihnachten und Epiphanias die Gottesdienste in Sankt Nikolai besuchte“. Ein Augenmerk in diesem Kapitel liegt im Verfahren der „Parodie“. Gemeint ist damit die Übernahme vorhandener Musikstücke mit anderem Text in einen neuen inhaltlichen Zusammenhang. Bach hat, ganz zeittypisch, hiervon beim Weihnachtsoratorium großzügig Gebrauch gemacht, am bemerkenswertesten vielleicht bei der erwähnten Arie „Bereite dich, Zion…“, deren Melodie aus einer seiner weltlichen Glückwunschkantaten stammt.

Den spannendsten Teil des Bandes bildet die „biblisch-poetische Erschließung des Librettos“. Meinrad Walter spürt hier auf sehr geistreiche Weise den vielfältigen Textquellen nach: Passagen aus den Evangelien des Lukas und Matthäus in Luthers Übersetzung wurden mit Chorälen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, aber auch mit Parodien Bach’scher Kantaten verwoben. Liturgische Sachzwänge mussten berücksichtigt werden. Dass daraus nicht einfach eine uneinheitliche Zusammenstellung entstanden ist, sondern dass das Werk einer inneren Dramaturgie folgt, das ist wohl im Wesentlichen dem Textdichter Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, zu verdanken. Leider ist die Überlieferungslage zum Weihnachtsoratorium sehr schlecht, sodass man wohl kaum Endgültiges über die Zusammenarbeit zwischen Bach und Picander erfahren wird. Das vollständige Libretto des Oratoriums ist in diesem Band abgedruckt.

Den Schluss bildet ein Kapitel zur Wirkung des Weihnachtsoratoriums. Hier sind ganz unterschiedliche Texte von Literaten, Musikern und Theologen vom 19. Jahrhundert bis heute aufgeführt (darunter auch der eingangs zitierte Text von Carola Moosbach). Dem schön bebilderten und hochwertig gestalteten Buch ist eine Aufnahme der Gaechinger Cantorey unter Leitung von Hans-Christoph Rademann beigegeben. Es handelt sich dabei, für Klangperfektionisten und Besitzer älterer CD-Player wichtig, um eine CD im MP3-Format. Eine „klassische“ CD dieser gelungenen, angenehm temperamentvollen Einspielung mit sehr guten Solisten ist bei Carus ebenfalls erhältlich.

Auch wenn sich die Buchreihe auf den Text geistlicher Chorwerke konzentriert: Man hätte gern etwas mehr zum Wandel der musikalischen Aufführungspraxis beim Weihnachtsoratorium erfahren, etwa, was die Besetzung der Chöre betrifft. Aber gerade das stellt dem Buch ein gutes Zeugnis aus: dass man nach der Lektüre viel mehr zum Thema wissen möchte.

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Bey, Henning / Walter, Meinrad

Johann Sebastian Bach: WeihnachtsoratoriumWort / Werk / Wirkung

Carus-Verlag / Dt. Bibelgesellschaft, Stuttgart 2020, 182 S., 28 €

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