Weltkirche und WeltphilosophieWie geht katholisch, wie interkulturell?

Wir leben in einer widersprüchlichen Welt, ob im Privaten oder in der Politik. Vermittelt durch die Medien prallen Ansichten immer schneller, immer heftiger aufeinander. Auch in der Kirche sind die Fronten teils verhärtet: zwischen Reformern und Bewahrern, zwischen Lehramt und Gläubigen, zwischen Priestern und Laien. Jetzt kommt es auf die innere Haltung an, sagten Philosophen auf einer Tagung in München.

Die katholische Kirche ist dem Wortsinn nach eine allumfassende Kirche. Rund um den „synodalen Weg“, den Reformdialog von Bischöfen und sogenannten Laien in Deutschland, hört man diese Übersetzung des griechischen „katholikós“ wieder häufiger. Die Fragen zum Zölibat der Priester, zur Machtverteilung in der Kirche, zur Weihe von Priesterinnen oder zur Sexualmoral könnten, so betont unter anderem der Vatikan bei jeder Gelegenheit, nicht von einem deutschen „synodalen Weg“ verbindlich beantwortet werden. Unvergessen ist der Brief, den Rom noch vor Beginn der ersten Synodalversammlung vergangenes Jahr an den damaligen Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, schickte. „Wie kann eine Versammlung einer Teilkirche über Themen der Weltkirche beschließen?“ So brüsk, so rhetorisch gefragt hat Rom im Brief sein Grundproblem mit dem „synodalen Weg“ zusammengefasst.

Wer hat die Deutungshoheit?

Allumfassend ist nach katholischem Verständnis eben vor allem die Entscheidungsgewalt das Papstes oder eines weltweiten Konzils unter seinem Vorsitz. So bündelt sich das Katholische, das große Ganze letztlich in einer Person. Wer eine echte Kirchenreform mutig vor Ort angehen will, ob beim „synodalen Weg“ oder anderswo, bekommt von Gegnern die aus ihrer Sicht düstere Vision einer „Nationalkirche“ zu hören. Was heißen soll: Wer einen Sonderweg geht, fällt aus der weltweiten Gemeinschaft heraus.

Nicht nur die katholische Kirche mit ihren gut 1,3 Milliarden Mitgliedern steht in der global vernetzten Welt vor der Herausforderung, eine unüberschaubare Vielfalt an religiösen und kulturellen Überzeugungen einzubinden, ja irgendwie zu „verwalten“. Auch politisch und wirtschaftlich sind wir ständig mit fremden Wertvorstellungen, fremden Denkmustern konfrontiert. Dabei sind es nicht nur unterschiedliche Systeme, die täglich aufeinanderprallen, wie die liberalen Demokratien des Westens und der chinesische Kommunismus. Auch im Kleinen reiben sich die Meinungen, aktuell bei der Corona-Pandemie und wie damit umzugehen sei. Die Frage, wie man dem oder den „Anderen“ begegnen kann, wie man sich dazu verhalten kann, drängt in einer komplexen Realität also überall auf die Tagesordnung.

Doch wie kann das gehen, das große Ganze im Auge zu behalten und zugleich offen zu sein für Neues, Unbekanntes? Unter der Überschrift „Global denken“ hatte die Katholische Akademie in Bayern neulich, noch vor Beginn des erneuten Lockdowns, zu ihren „Philosophischen Tagen 2020“ nach München eingeladen. Angelpunkt der Vorträge war die Disziplin der interkulturellen Philosophie. Diese ist ein Werkzeug, um die Welt in ihrer Vielfalt als Ganzes zu bedenken, führte Tagungsleiter Michael Reder von der Münchener Hochschule für Philosophie ein. Wer mochte, konnte in den Vorträgen die aktuelle Lage der katholischen Kirche wiedererkennen.

Den Auftakt machte Ram Adhar Mall, einer der Vordenker der interkulturellen Philosophie. Der 83-jährige deutsch-indische Professor – noch immer lehrt er unter anderem in Jena Religionswissenschaft – machte auf die vielen in sich geschlossenen Bilder aufmerksam, mit denen Europäer lange die Welt einteilten, ordneten, beurteilten. „Viel zu oft, auch heute, kommt es nicht so sehr darauf an, was und wie etwas gesagt wird. Sondern es interessiert eher, wer es sagt.“ So kommt einigen die Deutungshoheit über Kultur und Werte zu, andere werden an diesem Maßstab lediglich gemessen. Eine „Einbahnstraße des Denkens“ hat Mall das einmal in einem Interview genannt.

Anders, ohne abzuwerten

Ein Beispiel: „Während ihrer Kolonialherrschaft in Indien haben die Briten die indische Kunst nicht als Kunst betrachtet, weil sie ihnen zu erotisch schien.“ Und ein hierzulande geachteter Denker wie der englische Wirtschafts-Experte John Stuart Mill (1806–1873) habe sich nicht vorstellen können, dass die britische Krone Indien die Freiheit schenkt. Seine Begründung: „Indien ist noch nicht in der Lage, sich selbst zu verwalten.“ Mall sieht hierin beispielhaft die aus seiner Sicht lange wirkmächtige Anmaßung und Ignoranz des europäischen Geistes. Auch erwähnt er die indische „Weisheitspraxis“, die auch heute noch nicht überall als Philosophie gelte. „In Indien üben sich viele Philosophen in Yoga und verbinden so Denken und Handeln zu einer Einheit. In Europa führt das manchmal dazu, dass man in ihnen keine Meister des Verstandes, sondern eher religiös-okkultistische Gläubige sieht.“ Ähnlich sei es in Bezug auf chinesisches und afrikanisches Denken. Denn als Philosophie habe viel zu lange nur das europäische Denken gegolten, vor allem in Bezug auf Sokrates, Platon und Aristoteles.

Ram Adhar Mall kommt es darauf an, westliche Denkweisen von ihrem alleinigen Geltungsanspruch zu befreien. Die interkulturelle Philosophie sieht er weniger als ein in sich abgeschlossenes Fach, sondern als dauernde Kritik an verkrusteten Vorurteilen, von denen man sich befreien solle. Das Wahre, Gute, Schöne ist laut Mall in keiner Kultur, in keiner Denkschule ganz zu finden. Es ist das große Ganze, das überall aufscheint und doch nirgendwo komplett greifbar wird. Einigen Teilnehmern blieb ein solcher Wahrheitsbegriff allerdings zu vage und relativistisch. Natürlich müssten etwa Menschenrechtsverletzungen in China aufs Schärfste verurteilt werden, setzte Mall nach. Doch keine Kultur dürfe sich selbst absolut setzen, sich vorschnell als gerecht ansehen.

Viele Gedanken Malls lassen sich auf die katholische Kirche übertragen. Ist es nicht immer noch so, dass römische Behörden darüber entscheiden wollen, was Theologie ist, wie zu argumentieren ist – und wie nicht? Jüngst wurde das wieder deutlich, als der Vatikan eine Stellungnahme katholisch-evangelischer Theologen zur wechselseitigen Gastfreundschaft bei Kommunion und Abendmahl ablehnte, ohne wirklich auf ihre Argumente einzugehen. Wer hier sprach, war Rom wichtiger, als was gesagt wurde.

Die Münsteraner Philosophie-Professorin Franziska Dübgen brachte den Begriff „Othering“ ein. Ein festes deutsches Wort hierfür gibt es noch nicht, das englische „other“ heißt in etwa „andersartig“. Im Kern beschreibt „Othering“, wie wir mit uns fremden Erfahrungen, fremden Menschen umgehen. „Wir suchen bei anderen Menschen instinktiv etwas, was sie von uns abgrenzt“, erklärte Franziska Dübgen. Das könne die Hautfarbe sein, die Religion, das Geschlecht und vieles mehr. Das kann man sich so vorstellen: Ein Muslim begegnet einem Christen und nimmt diesen vor allem als Anhänger einer anderen Religion wahr. Weil er beim andern nur das sieht, was nicht zu ihm selbst gehört, erscheint ihm der andere möglicherweise als Bedrohung. Dann aber bleibt ihm nicht mehr viel anderes übrig, als den Christen abzuwerten oder ihn schlimmstenfalls irgendwie aus dem eigenen Leben zu verbannen. In vielen islamischen Ländern ist das bittere Realität. Ähnlich ist es beim Rassismus, wenn schwarze oder weiße Menschen die jeweils anderen nur über ihre Hautfarbe wahrnehmen. Ähnlich ist es auch bei der Homophobie, bei der homosexuelle Personen nur noch über ihre von der Norm abweichende Sexualität betrachtet werden. Ihnen wird beim „Othering“ etwa unterstellt, das Liebesverhalten zwischen Männern und Frauen infrage stellen zu wollen, zu bedrohen.

Risse in unserer Vernunft

„Othering“ meint also nicht das normale psychologische Phänomen der Gruppenbildung Gleichgesinnter, sondern die damit einhergehende Abwertung des Anderen und Fremden. Aus Franziska Dübgens Sicht ist „Othering“ eine Form des Provinzialismus, des Verharrens in der eigenen kleinen Welt. Diese Welt könne nur bestehen, wenn sie von allem Fremden scheinbar rein gehalten werde.

Doch wie dann dem Fremden begegnen? Möglichst ohne Vorurteile und ohne den Versuch, es gleich zu durchschauen, zu verstehen, schlug Franziska Dübgen vor. Hier fiel der philosophische Fachbegriff der „Alterität“. Das beschreibe den Gedanken, andere Menschen und andere Vorstellungen nicht zuerst am Eigenen zu messen, also nicht nach Unterschieden und Abgrenzung zu suchen. Das Andere als Anderes. Geistige Weite statt geistiger Provinzialismus.

Barbara Schellhammer zeichnete Leitlinien, wie Philosophieren, ja das Denken überhaupt angesichts der weltweiten Vielfalt von Menschen und Kulturen ablaufen kann. Die Professorin leitet das Zentrum für Globale Fragen an der Hochschule für Philosophie in München. Es brauche den Mut, sein bisheriges Denken zu hinterfragen. Was sind eigentlich meine Überzeugungen? Bin ich sicher, dass sie immer und überall gelten? Könnte man nicht auch zu anderen Schlüssen kommen? „Unsere je eigene Vernunft muss Risse bekommen“, forderte Barbara Schellhammer. Sie meinte damit nicht, dass Logik oder Wahrhaftigkeit egal seien. Vielmehr brauche es diese „Risse“, um sich dem Unbekannten möglichst ohne geistige Enge zu öffnen.

Denken auf der Grenze

Zugleich warnte Barbara Schellhammer davor, die eigene Identität in scheinbar grenzenloser Offenheit aufzulösen. „Um anderen Menschen und Ideen zu begegnen, braucht man natürlich auch einen eigenen Standpunkt, eigene Positionen“, sagte die Philosophin. Entscheidend sei, die Schwelle zwischen Selbstgewissheit und Offenheit, zwischen Eigenem und Anderem zu finden. „Denken auf der Grenze“ nannte Barbara Schellhammer das. Es klang beinahe so, als werde hier eine religiöse Einsicht beschrieben.

Um diese Erfahrung näher zu beschreiben, bediente die Philosophin sich eines Wortpaars des Jesuiten und Fundamentaltheologen Hans Waldenfels: Bodenständigkeit und Weltläufigkeit. Das erste erinnere als „Boden-Stand“ an Sicherheit, Stabilität, emotionale Verankerung, eben Selbstvergewisserung. Die Weitläufigkeit stehe für Bewegung, Öffnung, Aufbruch in Neues, Flexibilität und Perspektivwechsel. Beide Pole brauche es. Waldenfels selbst hat in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ einmal gesagt: „Wer nirgends ein Zuhause hat, hat auch keinen Ort, an dem er Fremde empfangen kann.“

Es gelte, den Gegensatz zwischen Vertrautem und Unbekanntem auszuhalten. Waldenfels hat diesen Raum einmal als „Niemandsland“ bezeichnet. Wie sollte man ihn füllen? Barbara Schellhammer brachte die Selbstsorge ins Spiel, verstanden als sorgsamer Umgang mit sich selbst. Sein Inneres zu kennen und mit ihm umgehen zu wissen als Voraussetzung, seiner Mitwelt zu begegnen. Sich selbst finden und doch nie festhalten. „Selbstsorge ist Arbeit. Sie hat etwas mit einer wachsamen Disziplin sich selbst gegenüber zu tun, die in größere Freiheit führt“, schreibt Barbara Schellhammer in einem Aufsatz.

Vielleicht bräuchte es in einer komplexen Welt und einer weltumfassenden Kirche wieder mehr Gewissenserforschung. Denn genau darauf käme es doch gerade an: Im Wirrwarr der Meinungen die eigenen Halbwahrheiten, die Fassaden zu erkennen. Sich einmal ehrlich selbst anzuklagen. Und dann demütiger den anderen zu begegnen – wissend, dass keiner die Wahrheit ganz für sich gepachtet hat. Sich trauen, in der Schwebe zu bleiben: Ganz bei sich und doch immer verwiesen auf die Anderen, ja auf den Anderen: Gott. Würde nicht so das große Ganze wenigstens annähernd in den Blick geraten? Vielleicht wäre das „katholischer“, als manche meinen. Weltkirche muss nicht heißen, dass alle das Gleiche machen und auf ein paar vatikanische Behörden-Chefs hören.

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