Zur Situation des Christentums in Europa heuteZwischen Skylla und Charybdis

Das Christentum Europas ist bedroht: vom säkularen Liberalismus auf der einen, vom neuen christlichen Fundamentalismus auf der anderen Seite. Eine Zukunft hat die Kirche nur, wenn sie den Mittelweg wählt. Und zu einer Kirche für die Suchenden wird.

Zwischen Skylla und Charybdis: Zur Situation des Christentums in Europa heute
© Cristian Gennari, Romano Siciliani, KNA

Vor welchen Herausforderungen stehen heute die Christen in Mitteleuropa? Haben die christlichen Kirchen genug Vitalität, Überzeugungskraft und Heilkräfte, um in der Lage zu sein, mitzuhelfen, dass Europa standhält gegenüber dem, von dem es bedroht wird, insbesondere der gefährlichen Welle des Populismus? Gilt für die Kirchen nicht eher das Sprichwort: Medice, cura teipsum – Arzt, kuriere zuerst dich selbst?

Wie ist die Lage des Christentums im heutigen Europa? Jeder, der eine Antwort auf diese Frage zu geben versucht, muss sich bewusst sein, dass er aus einer bestimmten Perspektive schaut und dass diese seine Perspektive notwendigerweise begrenzt ist. Wir leben in einer Zeit einer radikalen Pluralität, und wenn unsere Aussagen einen bestimmten Wert haben sollen, müssen wir sie ständig korrigieren und durch einen Dialog bereichern, der es uns ermöglicht, in gewissem Maße an den Erfahrungen der anderen teilzuhaben.

Wenn ich auf die Frage nach der heutigen Lage des Christentums nur aufgrund meiner unmittelbaren persönlichen Erfahrung antworten sollte, könnte ich ein Zeugnis voller Hoffnung geben. Wer die Prager Akademische Pfarrgemeinde besucht, sieht in der Mitte des Landes, das für das atheistischste Land Europas, wenn nicht der ganzen Welt gehalten wird, jeden Sonntagabend eine große Kirche voll von jungen Menschen. Während dieser Jahre haben in der Akademischen Pfarrgemeinde mehr als zweitausend junge Menschen die Initiationssakramente der Kirche erhalten, vorwiegend Universitätsstudenten, und es wurden hier eine Reihe von Priester- und Ordensberufungen geboren. Ja, ich kann bezeugen, dass so etwas auch in dieser Zeit und auch in einem Land wie der Tschechischen Republik möglich ist. Ich darf also sagen: „Yes, we can“ ‒ mit Gottes Hilfe! Mit der Hilfe Gottes ist so etwas möglich!

Suchende für Suchende sein, Fragende für Fragende

Es ist dort möglich, wo wir die Evangelisierung nicht als eine Indoktrination, sondern als eine Inkulturation verstehen. Es ist dort möglich, wo wir keine Kulturkriege mit der uns umgebenden Welt führen, sondern uns bemühen, die Kultur unserer Zeit und die Fragen zu verstehen, die sich die Menschen um uns herum stellen. Es ist dort möglich, wo wir für uns nicht beanspruchen, dass wir diejenigen seien, welche die ganze Wahrheit besäßen; wo wir eingestehen, dass wir kein Monopol auf die richtigen Antworten haben. Es ist dort möglich, wo wir den Glauben als einen Weg des Suchens, nicht als Ideologie präsentieren. Es ist dort möglich, wo wir bereit sind, die Menschen auf ihrem Weg zu begleiten, besonders die jungen Menschen, und Suchende für Suchende, Fragende für Fragende zu sein. „Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“, schrieb Martin Heidegger.

Es ist dort möglich, wo wir den Mut haben, die Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplizierte Fragen abzulehnen und zu enttäuschen, die Sehnsucht nach einem schwarz-weißen Bild der Welt und nach unerschütterlichen Sicherheiten. Als ich einen Titel für mein erstes Buch suchte, stieß ich auf einen Vers eines tschechischen Dichters: „Was ohne Beben ist, hat keine Festigkeit.“ Es ist dort möglich, wo wir keine Sicherheiten anbieten, sondern den Mut, in die Wolke des Geheimnisses zu steigen und mit den offenen Fragen und den Paradoxien des Lebens leben zu lernen.

In der Zeit des Relativismus, des „Postfaktischen“ und der Fake-News sehnen sich die Menschen begreiflicherweise nach Wahrheit und Sicherheit. Vergessen wir aber nicht, dass Jesus auf die Frage von Pilatus „Was ist Wahrheit?“ schwieg, keine Definition gab, auch keine einfache Antwort.

Er selbst war die Antwort – seine Person, seine Lebensgeschichte und die befremdlichen, oftmals schockierenden Geschichten, die er erzählte. Jesus zeigte, dass die Wahrheit nur dann die Wahrheit sein kann, wenn sie gleichzeitig der Weg und das Leben ist. Es ist notwendig, für die Wahrheit Zeugnis abzulegen – eine wirkliche, lebendige Wahrheit ist immer gleichzeitig ein Weg und das Leben.

Die Wahrheit können wir nicht von der Dynamik der menschlichen Existenz isolieren und sie in ein System von Sätzen und Überzeugungen (beliefs) einschließen. Eine Wahrheit, die aufhört, ein Weg zu sein, und sich vom Leben entfernt, ist keine wirkliche Wahrheit. In einem solchen Fall geben wir Steine an Stelle von Brot, Zucker an Stelle von Salz, Opium für das Volk an Stelle eines wirksamen Medikaments.

Wir sollten uns nicht vom Erfolg fundamentalistischer Sekten beeindrucken lassen, die einen schnellen, einfachen und billigen Weg einer Religion ohne das Kreuz des kritischen Denkens anbieten, die zu „Kulturkriegen“ statt zu einem geduldigen Dialog der Kulturen aufrufen.

Manche „neuen religiösen Bewegungen“ haben die Aufforderung von Johannes Paul II. zu einer Neuevangelisierung Europas als Anregung zu einer „religiösen Mobilmachung“ verstanden, die den evangelikalen und pfingstkirchlichen Stil von Religion nachahmt. Es ist jedoch notwendig, zwischen Emotionalität und Spiritualität zu unterscheiden. Nicht alle emotionalen Stürme bringen Flammen des Heiligen Geistes mit sich.

Zum Thema „Neuevangelisierung“ wurde weltweit eine Unzahl von Tagungen abgehalten. Zu diesem Thema wurden viele Worte gesagt. Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich jedoch gestehen, dass ich in Europa keine ausdrucksstarken Früchte einer „Neuevangelisierung“ erkennen kann. Die Aufforderung zu einer „Neuevangelisierung Europas“ klingt sogar lächerlich und heuchlerisch, falls ihr keine ehrliche Bemühung um eine Heilung der Kirche vorausgeht und sie begleitet.

Die gegenwärtige Situation der Kirche in Europa ist sehr ernst. Die Polarisierung innerhalb der Kirche erinnert an den Zustand vor der Reformation, vor dem großen Schisma des abendländischen Christentums. Der Verfall von kirchlichen Institutionen erinnert wiederum an den Zustand nach der großen Französischen Revolution. Kirchen, Klöster und Priesterseminare leeren sich, Kirchengebäude werden geschlossen und zu anderen Zwecken verkauft.

Dieses Mal ist jedoch dieser Zustand nicht die Folge eines Drucks von Feinden von außen, wie des Terrors unter der Herrschaft der Jakobiner oder der Kommunisten. Ganz Europa durchlief verschiedene Formen der Säkularisierung. Es scheint, dass die Folgen der hard secularization während der kommunistischen Herrschaft, die in vielen Ländern (besonders in der Tschechoslowakei und in Ostdeutschland) die Religion aus der öffentlichen Sphäre verdrängte, sowie das Ergebnis jener soft secularization in den Wohlstandsgesellschaften im Westen (aber auch in den postkommunistischen Ländern nach dem Fall des Kommunismus) ähnlich sind.

Alle Probleme der heutigen Kirche aber auf den Prozess der Säkularisierung zu schieben und vor allem die Säkularisierung als einen „äußeren Feind“ zu verstehen, ist falsch. Wenn manche Repräsentanten der Kirche einen Schuldigen von außen suchen – vom „zerstörerischen Tsunami des Säkularismus“ und Ähnlichem sprechen –, legen sie eine falsche Diagnose vor. Sie verstehen nicht, dass das Christentum und die Säkularisierung tief miteinander verwoben sind, dass die Säkularisierung ein „ungewolltes Kind“ des Christentums ist und dass sie nicht nur eine gefährliche Krise, sondern auch eine Katharsis darstellen kann, eine Krise, die eine Gelegenheit zu einer Reinigung und Glaubensvertiefung bieten kann.

Priester, die sich für auserwählt halten, vergessen ihre Schwäche

Die Ursachen der heutigen Krise liegen in der Kirche selbst. In den letzten Jahren kommen lange verheimlichte dunkle Tatsachen ans Licht, wie der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, nicht anerkannte Kinder von Priestern oder eine homosexuelle Lobby auch in den höchsten Etagen der Hierarchie der Kirche. Es ist sehr verständlich, dass es in der Folge nicht nur in den säkularen Gesellschaften zu einem weiteren Vertrauensverlust in die Kirche kommt, sondern auch zu einer Vertrauenskrise innerhalb der Kirche selbst. Diese alarmierenden Erscheinungen sind jedoch nur Symptome der gegenwärtigen Krise. Papst Franziskus spricht von der Notwendigkeit, die wahren Wurzeln aufzudecken und jene Strukturen zu entfernen, die die eben genannten Phänomene ermöglichten.

Als Hauptursache für den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sowie für die Ausbeutung von Frauen durch Priester nennt Papst Franziskus einen Missbrauch von Macht und Autorität, den Missbrauch von Vertrauen. Diesen Machtmissbrauch bezeichnet er als Klerikalismus. Er gibt dieselbe Diagnose, die wir in der Kritik Jesu an den Pharisäern finden. Jesus zeigt, dass diejenigen, die Religion als ein System von Geboten und Verboten, von Ritualen und ererbten Traditionen begreifen, aus der Religion eine Bürde machen, die sie ohne Erbarmen anderen auferlegen, sich selbst aber in die Rolle von Richtern und Kontrolleuren begeben. Eine solche Religion führt zu Äußerlichkeit und Heuchelei, zu einem Doppelleben: Die Pharisäer präsentieren sich nach außen für die anderen und sich selbst als rein, aber sie sind wie weiß gestrichene Grabmale – im Inneren voll von Moder und Unreinheit. Jesus fordert seine Jünger auf, aufzupassen, dass sich unter ihnen nicht eine Kaste von Übergeordneten bilde: Wer der Erste unter euch sein will, der soll der Letzte und der Diener von allen sein.

Die Versuchung, ein „Super-Ego“ auf Vorgesetzte in der Kirche zu projizieren, sie Väter (sogar „heilige Väter“), Lehrer, Wohltäter und Führer zu nennen, bedeutet, beiden Seiten Schaden zuzufügen. „Einfache Christen“, „Laien“ befreien sich so von ihrer Mitverantwortung für die Kirche. Diejenigen, die die Rolle des Auserwähltseins akzeptieren, vergessen dann häufig nicht nur ihre menschliche Schwäche, sondern verdrängen ihre „Schatten“ in das Unbewusstsein. Je stärker sie sich in die Rolle heiliger Männer stilisieren, desto mehr verlieren sie die Kontrolle über den Sünder im eigenen Herzen. Manche leben dann ein Doppelleben wie Jeckyll und Hyde. Die letzten Jahre zeigten, dass dies nicht nur Ausnahmen sind.

Das Zweite Vatikanische Konzil forderte zur Beseitigung des Klerikalismus in der Kirche auf – erinnern wir uns an den „Katakombenpakt“. Die Tatsache, dass diese Revolution in der Kirche unvollendet blieb, deutet an, dass sich der Klerikalismus nicht nur durch eine Reform der Strukturen in den kirchlichen Institutionen überwinden lässt. Es braucht eine „Veränderung des Denkens“, eine metanoia. Eine wirkliche Reform setzt eine spirituelle Revolution voraus: die Beseitigung der Strukturen des Klerikalismus, jenes „pharisäischen Sauerteigs“, im Bewusstsein der Gläubigen, sowohl der Kleriker als auch der Laien. Unser Begreifen und Erleben der Kirche muss zum Kern des Evangeliums zurückkehren.

Die Tatsache, dass gerade jetzt die giftigen Früchte des Klerikalismus besonders im Bereich des sexuellen Missbrauchs an den Tag gekommen sind, ist die Folge der Einseitigkeit in Lehre und Praxis der Kirche nach dem Jahr 1968. Die Kirche reagierte auf die Kulturrevolution des Jahres 1968 (und auf die sexuelle Revolution, die Bestandteil dieser Revolution war) ganz ähnlich, wie sie seinerzeit auf die politisch-kulturelle Revolution des 19. Jahrhunderts reagierte ‒ mit Angst statt mit Weisheit. Nach der Französischen Revolution hätte die Kirche fragen sollen, was der „Geist den Kirchen in Europa sagen will“, durch jene große Veränderungen in Gesellschaft und Kultur. Sie hätte sich mit Weisheit der Aufklärung annähern, hätte ohne Naivität, aber auch ohne Angst eine „Unterscheidung der Geister“ vornehmen sollen.

Der Papst hebt Themen hervor, die in den Schatten geraten waren

Stattdessen riss der „Kampf gegen den Modernismus“ mit dem Unkraut auch den Weizen heraus und führte zu einer intellektuellen Selbstkastration des Katholizismus in einer Zeit großer Herausforderungen. Auch auf die Entstehung der „autonomen Moral“ in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts reagierte die Kirche mit Repression und Angst statt mit Mut und Weisheit. Hinter der übertriebenen Betonung der Sexualethik, der Bemühung um die Kriminalisierung von Abtreibungen, hinter dem Kampf gegen die künstliche Verhütung oder gleichgeschlechtliche Beziehungen verbargen sich oft ungelöste sexuelle Probleme der Kämpfer selbst. Diese Fragen – insbesondere den Schutz des ungeborenen Lebens ‒ darf man gewiss nicht unterschätzen. Papst Franziskus hebt jedoch andere Themen hervor, die in den Schatten geraten waren: wie die Barmherzigkeit Gottes, Solidarität mit den Armen, Verantwortung für die Umwelt, Entgegenkommen beim Dialog mit anderen Kulturen und Religionen, Verständnis für Menschen, die sich in moralisch komplizierten Situationen befinden, Rolle des eigenen, persönlichen Gewissens in sittlichen Entscheidungen.

Besonders in den postkommunistischen Ländern sind wir heute Zeugen einer hysterischen Kampagne gegen die Istanbul-Konvention. Das Gespenst der „Gender-Ideologie“ geht in der Kirche um. Leider führt die berechtigte Ablehnung extremer Formen der sogenannten gender theory manche Christen in das entgegengesetzte Extrem. Sie ignorieren geschichtliche, kulturelle oder gesellschaftliche Einflüsse auf die Entwicklung der Familie und auf das Verständnis der sozialen Rollen von Männern und Frauen. Papst Franziskus hatte den Mut, jene übertriebene Betonung der Sexualethik bei ihrem richtigen Namen zu nennen: Es handelt sich um eine neurotische Obsession.

Kein Wunder, dass die säkulare Gesellschaft auf diese Tendenzen antwortete: Schaut zuerst auf euch selbst. Zieht zuerst den Balken aus euren Augen!

Die Kirche hat allmählich ganze Schichten der europäischen Bevölkerung verloren. Während des 19. Jahrhunderts verlor sie zunächst den Großteil der Arbeiter und der gebildeten Menschen, seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts den Großteil der Jugend, und jetzt beginnt sie, in diesem „Jahrhundert der Frauen“ die Frauen zu verlieren.

Auf verlorene Söhne und Töchter schaute die Kirche vor allem mit Vorurteilen, Verachtung und mit einem verborgenen Neid wie der ältere Bruder in dem bekannten Gleichnis Jesu. Sie war nicht fähig, der großzügigen Liebe des gemeinsamen Vaters Ausdruck zu verleihen.

„Der gute Hirte lässt die neunundneunzig Schafe auf der Weide weitergrasen und sucht das verlorene.“ Papst Franziskus fügt diesem Satz Jesu hinzu: Heute muss der Hirte der Kirche das eine übrig gebliebene Schaf verlassen und sich aufmachen, die neunundneunzig verlorenen zu suchen.

So sieht heute die Situation des Christentums in Europa aus. Die Hauptaufgabe der Kirche besteht darin, diese neunundneunzig Verlorenen zu suchen. Viele von denen, die das Vertrauen in die Kirche verloren haben, sind nicht zu Atheisten geworden, sondern zu „Suchern“, sie sind ein Bestandteil der großen Familie der „Suchenden“ geworden, die wahrscheinlich den größten Teil der heutigen Europäer darstellt, neben den „Apatheisten“, jenen Menschen, die als „religiös gleichgültig“ zu bezeichnen sind. Die Zukunft des Christentums besteht in der Fähigkeit der Kirche, mit den „Suchenden“ zu kommunizieren. Es geht nicht darum, diese Suchenden zurück in die vorhandenen institutionellen und intellektuellen Strukturen der Kirche zu zwängen. Auch Jesus führte die „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ nicht in den Raum der damaligen jüdischen Religion zurück, sondern bot ihnen einen neuen Schafstall an, einen neuen Weg, einen neuen Wein. Wir müssen den Raum der Kirche öffnen und erweitern, ihn erweitern um die Erfahrungen der Suchenden.

Eine der religiösen Veränderungen in unserer Welt ist der Versuch, Religionen in eine politische Ideologie zu verwandeln. Das betrifft nicht nur den Islam, sondern auch das Christentum.

Angesichts der wachsenden Zahl der Muslime in Europa rufen manche Politiker nach der Rückkehr zu einem „christlichen Europa“ und zu „christlichen Werten“. Die nostalgischen Vorstellungen und die Utopien der Romantiker des 19. Jahrhunderts werden in der Ideologie und Phraseologie der gegenwärtigen Rechten wieder lebendig. Besonders unglaubwürdig klingen diese Aufforderungen aus dem Mund der nationalistischen und populistischen Politiker der postkommunistischen Welt, die kaum je das Neue Testament gelesen haben. In ihrer Anbetung der „christlichen Werte“ werden romantische Vorstellungen von der christlichen Vergangenheit des prämodernen Europas mit der Ideologie eines „Katholizismus ohne Christentum“ verbunden, die an die Action Française und an Ideologen autoritärer Staaten der Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts erinnern.

Viele flammende Ansprachen über das Bedürfnis, die „christlichen Werte in Europa zu schützen“ – besonders im Zusammenhang mit der Verbreitung der Angst vor Migranten und Muslimen –, sind nur leere Worte, Blasen, welche die Machtansprüche der Populisten verhüllen sollen, ihre Bemühungen, die parlamentarische Demokratie durch autokratische Systeme zu ersetzen.

Dies ist besonders in Polen und Ungarn zu beobachten. Als ich in den Straßen von Warschau Scharen von Anhängern der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ gesehen habe, die unter Spruchbändern mit der Aufschrift „Wir wollen Gott“ marschierten und antisemitische Parolen ausriefen, stellte sich mir unweigerlich die Frage, was für einen Gott diese Menschen wollen. Der Gott, den Jesus von Nazareth seinen Vater nannte, ist das ganz sicher nicht. An vielen Orten Europas werden wir wieder zu Zeugen der Verwechslung Gottes mit der Nation, der Verwechslung des christlichen Glaubens mit einer gefährlichen Idolatrie ‒ mit der Xenophobie und dem Populismus.

Das Regime von Wladimir Putin in Russland führt einen systematischen hybriden Krieg gegen den Westen und die demokratische Welt. Eines der Hauptziele dieses Krieges besteht darin, in den Ländern des ehemaligen sowjetischen Blocks das Vertrauen in die Europäische Union zu schwächen. Es ist paradox, dass die Hauptverbündeten dieser russischen Propaganda Menschen sind, die früher Feinde waren: auf der einen Seite Kommunisten oder ehemalige Kommunisten, die ihre Affinität zu Russland beibehielten, sowie auf der anderen Seite konservative Christen. Besonders die Anhänger der schismatischen Bewegung von Marcel Lefebvre stellen in den sozialen Netzwerken Putin als einen neuen Heiligen Konstantin dar, der die Christen in einen heiligen Krieg gegen den verdorbenen Westen führen wird.

In einem ähnlichen Geist bietet Viktor Orbán das Modell einer „illiberalen Demokratie“ an – was nur der Deckname für einen autoritären Staat ist, der Schritt für Schritt die Grundpfeiler einer freien Gesellschaft, des Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie, wie sie die Unabhängigkeit der Medien, der Universitäten, des Verfassungsgerichtes, von Non-Profit-Organisationen und ähnlichem darstellen, liquidiert.

Das Christentum zwischen Skylla und Charybdis

Populistische Politiker bemühen sich, die Repräsentanten der Kirchen dadurch auf ihre Seite zu ziehen, dass sie den Kirchen diverse Privilegien anbieten oder versprechen. Wenn es jedoch zu einer „eingetragenen Partnerschaft“ zwischen der Kirche und den populistischen Machthabern kommen sollte, wird das zu einem fatalen Verlust der Glaubwürdigkeit der Kirche führen, beginnend mit dem Vertrauensverlust bei der Jugend und der Intelligenz und bei der großstädtischen Bevölkerung. Dieses geschieht heute zum Beispiel schon in Polen, in Ungarn oder in der Slowakei. Das Ergebnis kann eine überraschend schnelle Säkularisierung auch von traditionell katholischen Ländern sein.

Das Christentum gerät heute in einem Großteil der westlichen Welt, insbesondere in Europa und in den USA, zwischen Skylla und Charybdis, zwischen zwei gefährliche Extreme, die sich gegenseitig brauchen, sich gegenseitig provozieren und dadurch stärker werden: den extremen Liberalismus und Säkularismus auf der einen Seite, den christlichen Fundamentalismus auf der anderen Seite.

In der heutigen Zeit besteht die größte Bedrohung der europäischen Einheit und des gesamten Prozesses der europäischen Integration in einem Nationalismus und einem Populismus, der christliche Symbole missbraucht. Christen, die in der Lage sind, die Zeichen der Zeit zu lesen, und die Verantwortung für die Zukunft des Christentums in Europa fühlen, müssen den Mut haben, ein klares Nein zu sagen zum Missbrauch des Christentums in der Rhetorik von Populisten wie Orbán, Jarosław Kaczyńsky und weiteren populistischen Politikern.

Die Christen in der Politik sollten jene gemeinsame Kompatibilität des Christentums und des säkularen Humanismus, jene „gesunde Laizität“ suchen, zu der Papst Benedikt XVI. aufgerufen hat.

Gerade eine offene Gesellschaft und eine liberale Demokratie, die steht und fällt mit der Existenz einer freien, öffentlichen Debatte und einer gegenseitigen kritischen Konfrontation der Meinungen, ist bis dato nicht nur das geeignetste Umfeld für die Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch ein unbedingt notwendiges Umfeld für das Leben und die Wirksamkeit der Kirchen. Pathologische Formen von Religion haben eine panische Angst vor einer liberalen Gesellschaft und würden gerne „Kulturkriege“ und „Kreuzzüge“ gegen den Liberalismus führen. Solche Kriege sind aber schon im Vornhinein verloren. Ein Liberalismus, der seinen christlichen Wurzeln den Rücken kehrt, ist ähnlich gefährlich wie ein Christentum, das den Prinzipien einer liberalen Demokratie den Rücken zuwendet.

Ein Christ kann kein Nationalist sein, das erklärte Papst Franziskus klar und deutlich. Der Nationalismus ist ein nationaler Egoismus, er ist der Verlust der Solidarität der Gesamtheit, die Europa ist. Ein gesunder Patriotismus von Christen äußert sich in der Solidarität mit anderen Nationen Europas, weil nur ein vereinigtes Europa angesichts der Herausforderung durch undemokratische Mächte wie Russland oder China bestehen kann. Das politische Chaos in Großbritannien nach dem dummen und verantwortungslosen Brexit ist eine Warnung vor jedem Isolationismus. Großbritannien ist auf dem Weg zu einem chaotischen Klein-Britannien. Wir blicken über den Atlantik und erwarten, dass es einen nächsten Präsidenten gibt, der make America think again zu seinem Programm machen wird.

In den vergangenen Jahren wurde das Buch von Rod Dreher, „The Benedict Option“, in viele Sprachen übersetzt. Der Autor fordert darin die Christen auf, sich aus der verdorbenen säkularen Welt zurückzuziehen und „Parallelgesellschaften“ zu bilden. Diesen Terminus entlehnt Dreher von tschechischen Dissidenten aus der Zeit des Kommunismus, von Václav Havel und Václav Benda. Aber das, was in der Zeit der Verfolgung und eines totalitären Staates eine Notwendigkeit war, ist in einer offenen demokratischen Gesellschaft eine gefährliche Versuchung.

Das Zweite Vatikanische Konzil forderte die Kirche auf, den Exodus zu wagen aus einer abgeschlossenen Form des „Katholizismus“ hin zu einer wirklichen Katholizität des Christentums. Diesen Prozess, der während der Achtziger- und Neunzigerjahre erheblich verlangsamt wurde, erweckt Papst Franziskus jetzt wieder zum Leben.

Ich fürchte, dass die sogenannte „Benedict Option“ eine „Option“ für diejenigen ist, die einen entgegengesetzten Weg gehen wollen, die sich auf einen Weg zurück begeben wollen. Die Kirche als eine „Parallelgesellschaft“ ist ein antikatholisches Projekt. Es würde die Kirche bald in eine Sekte oder vielmehr in ein Konglomerat von miteinander nicht kommunizierenden und zankenden Sekten verwandeln.

Der wesentliche Zug der Katholizität ist jedoch der Ökumenismus. Das gegenwärtige Christentum ist getrennt, jedoch verläuft die Trennungslinie schon lange nicht mehr zwischen den einzelnen Kirchen, sondern quer durch sie hindurch. Das, was die Christen heute trennt, sind nicht Unterschiede in der Theologie und in der Liturgie, sondern Unterschiede in der Psyche.

Der amerikanische Psychologe Gordon Allport hat einmal zwischen zwei Typen von Religiosität unterschieden: zwischen der extrinsischen und der intrinsischen. Der extrinsische Typ benutzt die Religion als ein Instrument, zum Beispiel als ein Instrument zur Festigung der nationalen Identität, zur Verteidigung der kulturellen Werte und der politischen Ziele einer bestimmten Gruppe. Für den intrinsischen Typ ist der religiöse Glaube das Ziel an sich. Später hat Daniel Batson zu dieser Typologie einen dritten Typus hinzugefügt: den Glauben als quest, als Weg. Ich glaube, dass dieser Glaubenstyp die größten Perspektiven für die Zukunft bietet.

Worum geht es uns Christen wirklich, was wünschen wir uns und was erwarten wir, wenn wir von einer Erneuerung der Kirche und von einer „Neuevangelisierung“ sprechen? Was ist das Ziel, was kann das Kriterium des Erfolgs sein? Erwarten wir, dass sich die Kirchen, die Klöster und die Priesterseminare wieder füllen werden? Das wäre ein Wunder. Wir dürfen um Wunder beten, aber wir dürfen mit Wundern nicht rechnen und sie einkalkulieren.

Auferstehung ist keine schlichte Rückkehr in die Vergangenheit

Das große Schiff des traditionellen Christentums von gestern sinkt zu Grunde, und wir sollten die Zeit nicht damit verlieren, die Liegestühle auf der Titanic hin und her zu schieben. Wenn jemand denkt, dass die jetzigen Stürme rund um den sexuellen Missbrauch vorübergehen und alles wieder so sein wird, wie es vorher war, der täuscht sich. Wenn das Christentum in Europa eine andere Zukunft haben soll als die einer in sich geschlossenen Sekte, ist es notwendig, den österlichen Charakter des christlichen Glaubens ernst zu nehmen. Der wesentliche Teil der Geschichte Jesu und der Geschichte seiner Kirche ist Tod und Auferstehung.

Der Tod ist wichtig und unvermeidlich. Die Auferstehung ist nicht eine schlichte Rückkehr in eine Vergangenheit, zu einem vorherigen Zustand. Die Evangelien erzählen, dass Jesus durch die Erfahrung des Todes verändert wurde. Nicht mal seine Nächsten, seine Liebsten können ihn erkennen. Die Jünger auf dem Weg nach Emmaus halten ihn für einen Fremden, für einen unbekannten Wanderer, Maria Magdalena für den Gärtner, der Apostel Thomas erkennt ihn erst durch seine Wunden. In der Kirchengeschichte durchdringen sich immer Tod und Auferstehung, Krise und Erneuerung: so auch heute.

Während die uns bekannte Gestalt des Christentums – diejenige, die als eine Reaktion auf die Aufklärung und die autonome Moral der Sechzigerjahre geboren wurde – erlischt, kommt vielleicht Jesus in der Gestalt eines Fremden, unbekannten Wanderers, in der Gestalt von denen, die Wunden tragen.

Die Populisten lehren das Volk zu rufen: Weg mit ihnen! Ans Kreuz! Zynische Pragmatiker der Macht fragen sich mit Pilatus: Was ist Wahrheit? Welchen Wert hat die Wahrheit, wozu ist sie gut? Wir leben in einer post-faktischen Zeit!

Der Pharisäer fragt, damit er seine Gleichgültigkeit rechtfertigen kann: Wer ist mein Nächster? Es muss doch irgendeine Grenze geben, ich kann doch nicht alle als meine Nächsten betrachten!

Jesus kehrt diese Fragen um: Frage nicht, wer dein Nächster ist, aber mach du dich für jeden zum Nächsten, der dich braucht. Frage nicht, was wahr ist, sondern praktiziere die Wahrheit in der Liebe!

Schaue nicht mit Nostalgie in die Vergangenheit wie die Frau von Lot, die in eine Salzsäule verwandelt wurde, sondern sei das Salz der Erde! Schaue nicht in den Himmel, wie die Jünger nach der Himmelfahrt Christi, sondern schaue dich um und suche Christus in denen, die verwundet sind. Er ist bei uns alle Tage bis zum Ende der Welt. Er ist hier, jedoch oftmals „inkognito“, und ihm zu glauben und zu vertrauen bedeutet, ihn ununterbrochen wieder zu suchen.

Das Wichtigste, was wir heute für die Erneuerung des Christentums in Europa tun können, besteht darin, Plattformen für einen Dialog, für Studien und Reflexionen zu schaffen, wo wir die „Zeichen der Zeit“ untersuchen können und lernen werden, die richtigen Antworten zu suchen.

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