Qualität und Vielfalt in Liturgie und MusikVon niederschwelligen Angeboten

Ihrem rasant wachsenden Akzeptanzverlust versuchen die Kirchen mit zahlreichen Rettungsversuchen entgegenzutreten. Dabei stellt sich die Frage, ob eine vordergründige Popularisierung ausreicht, um Menschen wieder von der christlichen Botschaft zu überzeugen – oder ob so nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.

Junge Menschen machen Musik.
© KNA

Wer heute an leitender Stelle Weichen für die Zukunftsfähigkeit der Kirche stellen muss, ist nicht zu beneiden. Ihm sitzen eine galoppierende Glaubwürdigkeitsschwindsucht im Nacken und damit einhergehend ein rasant wachsender Akzeptanzverlust. Die gegenwärtige Zeit ist daher reich an Rettungsversuchen – als wolle man signalisieren, dass es jahrzehntelang Versäumtes an Kontaktnahme mit der gesellschaftlichen Gegenwart in einem Aufwasch aufzuholen gelte. Das Tempo, in dem der Änderungsbedarf nun auch von der kirchlichen Leitungsebene artikuliert wird, und die Vielfalt der betroffenen Themen erstaunen. Das flächendeckende und konfessionsübergreifende Unbehagen, das die Kirchen hierzulande über sich selbst erfasst hat, führt offensichtlich zu multiplen Konsequenzen – Gott sei Dank ... endlich!

Darunter sind aber auch manche atemlose und inhaltlich zu kurz greifende Reaktionen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie im aktionistischen Seitenaus landen. Wenn versucht wird, die auftretenden Friktionen auf dem Feld der Liturgie zu bearbeiten, dann wird die Problemanzeige nicht selten instrumentalisiert, und das gepaart mit der typisch deutschen Neigung, das Kind mit dem Bade auszuschütten: „Damit es besser wird, muss alles ganz anders werden – und fast nichts von gestern oder heute ist für morgen brauchbar!“ Diese Reaktionen machen nachdenklich; sie werfen bezüglich des Umgangs der Kirchen mit dem, was sie wesentlich ausmacht – und dazu zählen zweifelsohne der Gottesdienst und damit auch die liturgische beziehungsweise geistliche Musik –, Fragen auf.

Nicht von Events blenden lassen

Reicht eine vordergründige Popularisierung aus, um eine inhaltlich tragfähige Akzeptanz wieder herzustellen, die von Nachhaltigkeit geprägt ist? Wie anfällig ist man dafür, sich von Großereignissen blenden zu lassen und das Erleben von Events ins Modellhafte zu überhöhen? In welchem Verhältnis stehen die Begriffe „niederschwellig“, „populär“ und „zeitgemäß“ zueinander? Und: Welche Rolle spielen eine lebendig sich weiterentwickelnde Tradition und in deren Licht die Kultur einer zum Heute passenden Mystagogie samt der Ausbil-dung einer Feierkompetenz, die Zeit und Geduld braucht und die mit legitimen Anforderungen einhergeht?

Erste Problemanzeige: „Werbung“ als Verzerrung des Inhalts. Jüngst lud ein deutsches Bistum mit einem merkwürdigen Film zu den geschätzt etwa 1000 Weihnachtsgottesdiensten auf seinem Territorium ein: Eine geschauspielerte Stewardess (die äußerliche Ähnlichkeit mit Caroline Reids Kultfigur „Pam Ann“ war hoffentlich zufällig!) wies mögliche Interessenten in das Gotteshaus ein und machte dann auf die allgemeinen Gefahrenstellen aufmerksam, die mit dem Besuch der Weihnachtsmesse verbunden sind: Weihrauchattacken, gegen die man sich mit angeblich herabfallenden Atemmasken schützen kann, die Funktion des Liedanzeigers und des Gesangbuchs, die voraussichtliche „Flugdauer“ (also zeitliche Länge der Liturgie) und als Krönung der Hinweis, die Schwiegermutter am Schluss nicht in der Bank zu vergessen.

Man könnte nun diesen Film mit einem etwas müde gequälten Lächeln quittieren und dann rasch hinter sich lassen – gut gemeint mag er sicherlich gewesen sein. Aber es steht ein erheblicher Aufwand dahinter, und er ist zugleich ein Symptom für den Umgang der Kirche mit ihrem wesentlichen Proprium, dessen Akzeptanz sie sich offenbar nicht mehr sicher sein kann. Die neueste Statistik weist für die katholische Kirche einen Gottesdienstbesuch von durchschnittlich etwa zehn Prozent aus – bei weiterhin fallender Tendenz. Es wird um neue Formen gerungen, sowohl für die Feier als auch für die Art der „Werbung“. Dieses Ringen ist ein für Krisenzeiten typischer Vorgang.

Da die Zahl der Passagiere, die in der echten Flugsituation das routiniert-sterile Stewardessen-Ballett wahrnehmen, im Promillebereich liegen dürfte, muss irgendeine humoristische (oder gar kabarettistische?) Absicht mit dem Film verbunden gewesen sein. Aber: Wen wollte man eigentlich zu welchem Zweck damit erreichen? Die ganz weit Fernstehenden? Ihnen wird man wohl eher das Gefühl vermitteln, dass es sich hier um eine Veranstaltung handelt, die aus einer Summe von nicht Ernstzunehmendem besteht. Die fragen sich: Würden sie da hingehen? Die treuen Fernstehenden? Sie kommen sowieso zumeist nur dieses eine Mal in den Gottesdienst – vielleicht in der Hoffnung, noch einigen wenigen emotionalen Erinnerungen an Kindheit und Jugend zu begegnen; was aber werden sie aus der Botschaft der Stewardess mitnehmen? Und die treuen kirchennahen Gottesdienstbesucher? Ihnen signalisiert man wohl eher, dass das, was ihnen vielleicht lieb und teuer war und noch ist, ab jetzt unter die Kategorie „Witz am Rande“ fällt. Und die fragen sich: Sollen wir da noch hingehen – sind wir da noch richtig?

Die Form, in der eine Sache dargeboten wird, kann sich gegen den Inhalt wenden; dieser Gefahr muss man sich bewusst sein. Das ist etwa der Fall, wenn Menschen die vermeintliche Komplexität von politischen Nachrichten fliehen und die Politik nur noch durch die Brille kabarettistischer Verzerrungen wahrnehmen: „heute-Show“ statt „heute“, „extra 3“ statt „Tagesschau“. Es mag sich um gute Unterhaltung handeln – eine seriöse Berichterstattung und politischen Diskurs ersetzen sie natürlich nicht. Dasselbe gilt für eine Einladung zum Gottesdienst, auf die man mit Goethe antworten möchte: „So fühlt man Absicht – und man ist verstimmt!“ Wie müsste ein Gottesdienst aussehen, der zu dieser Einladung passt? Sollte es den denn überhaupt geben? Und spätestens jetzt werden manche rufen: „Nein – natürlich nicht, es war doch nur Spaß!“

Zweite Problemanzeige: Was – bitte schön – ist „niederschwellig“? Stöbert man in den zahlreichen Broschüren, Grundsatz- oder Impuls-papieren oder auf kirchlichen Homepages, so fällt auf, dass im Zusammenhang mit dem Bestreben, neue Schichten und Gruppen für den Besuch von Gottesdiensten zu gewinnen, immer öfter der Begriff der „Niederschwelligkeit“ auftaucht; ursprünglich stärker im evangelischen, zunehmend aber auch im katholischen Bereich wird der Wunsch nach einem „niederschwelligem Charakter“ hinsichtlich der Gestaltung von Gottesdiensten, dem Einsatz geistlicher Musik und dem Umgang mit liturgischen Räumen laut. Ein genaueres Hinschauen zeigt: Das Wort wird inhaltlich schillernd und zumeist assoziativ, gelegentlich aber auch irreführend oder schlicht falsch gebraucht. So ist die Rede davon, dass ein Kirchenraum auch werktags „relativ niederschwellig zugänglich sein“ solle, womit nicht etwa eine Barrierefreiheit gemeint ist oder dass man Fernstehende durch „niederschwellige Gottesdienstangebote“ wieder in die Kirche zurückbringen könne. Jugendlichen wird versprochen, dass sie in Feiern mit „niederschwelliger musikalischer Gestaltung“ dem Musikgeschmack ihres Alltags begegnen, indem sie „Gott zu ihrem DJ“ machen.

Wer definiert, was „niederschwellig“ ist?

Es schwingen offensichtlich mehrere Faktoren mit, die nicht immer offen ausgesprochen werden. Der Begriff „niederschwellig“ ist mit einer immanenten systembezogenen Kritik verbunden: Bleibt eine Zielgruppe aus – die Menschen kommen nicht mehr und verweigern die Akzeptanz –, dann wird schnell der Ruf nach neuen, simpleren und vor allem anderen als bisher gegebenen Zugängen zum entsprechenden Angebot laut. Damit ist zugleich zum Ausdruck gebracht, dass bisherige Zugangsweisen offensichtlich entweder zu komplex, in sich zu abgeschlossen oder nicht mehr aktuell sind – auf jeden Fall werden sie als unausgesprochen „zu hochschwellig“ und somit nicht mehr dazu geeignet angesehen, die Menschen zu erreichen.

Fast automatisch ergibt sich auf diesem Wege der plakative Gegensatz zu der bisher gepflegten kirchlichen „Hochkultur“, deren exklusiver Anspruch die Menschen vom Gottesdienst in zunehmendem Maße fernhält, wohingegen junge oder der Kirche ferner stehende Menschen den Weg zum Gottesdienst leichter finden würden, wenn sie dort einer simpleren Alltagskultur, manchmal – wie im Fall des Films – auch einer kurzweiligen Spaßkultur, begegneten. Wer in diesen Kategorien denkt und die Realität derart ideologisch verzerrt, hat keine Ahnung davon, auf welchem kulturellen (sprachlichen – theologischen – musikalischen) Level der überwiegende Teil unserer Gemeindegottesdienste tatsächlich stattfindet. Zudem stellt sich auch hier die Frage: Wer definiert eigentlich, was „niederschwellig“ ist? Die „hochschwellig“ Sozialisierten in den Führungsetagen unserer Kirchenleitungen?

Dritte Problemanzeige: die Gefahr der Instrumentalisierung des „Populären“. Der Kampf um die Existenzberechtigung populärer Musik in der Kirche ist alt – letztmalig wurde er in den Sechzigerjahren gegen das damalige kirchliche und kirchenmusikalische Establishment ausgefochten und kurze Zeit darauf entschieden. Spätestens mit der Institutionalisierung entsprechender Arbeitskreise war klar: Neue Geistliche Lieder gehören zum wachsenden und sich ständig erneuernden Repertoire liturgischer Musik. Seit Anfang der Neunzigerjahre entwickelte sich die kirchenmusikalische Arbeit auf breiter Fläche in drei Hauptrichtungen, und das ist auch konfessionsübergreifend fassbar: Erstens, Kirchenmusik ist neben der gottesdienstlichen und der kulturellen auch eine pastorale Größe – ihre auf Nachhaltigkeit angelegten Ensemblestrukturen werden als Faktoren der Gemeindebildung anerkannt und geschätzt; zweitens, Kirchenmusik ist ein hervorragendes Medium zur Weitergabe des Glaubens an die kommende Generation, quasi eine „Katechese en passant“; und drittens bildet das kirchenmusikalische Repertoire in seiner stilistischen Vielfalt die Bedürfnisse einer lebendigen Gemeinde ab – dabei bleibt das Bemühen um eine bestmögliche Qualität hinsichtlich Musik und Text für alle Stile überlebenswichtig. Christliche Popularmusik – und das war seinerzeit ein großer Schritt – ist gleichwertiger Teil des musikalischen Gesamtspektrums; eine popularmusikalische Ghettobildung sollte bewusst vermieden werden. Umso erstaunlicher ist nun, dass heute nicht nur eigene isolierte Studiengänge für diese Musikrichtung an kirchlichen Hochschulen installiert, sondern auch Kirchenmusikerstellen geschaffen werden, die ausschließlich der Popularmusik gewidmet sind.

Wer hier eine politische Weichenstellung seitens mancher Bischöfe vermutet, liegt sicher nicht falsch. So war vor kurzem zu lesen, dass man in einigen Bistümern und Landeskirchen künftig auf zentraler Leitungsebene Popkantoren einstellen wolle. Sie sollten mit ihrer Arbeit dafür sorgen, dass den zeit- und jugendgemäßen Ansprüchen an das gottesdienstliche Feiern Rechnung getragen würde. In einem Bistum war zugleich davon die Rede, dass man sich hierdurch von der Hochkultur der Kirchenmusik (Chor und Orgel) verabschieden wolle – sie schien also obsolet geworden, „Steigerlied“ und Helene-Fischer-Songs hingegen wurden explizit als Möglichkeiten genannt. Der Wider- beziehungsweise Unsinn, der darin liegt, die Begriffe „Hochkultur“ und „zeitgemäß“ mit bestimmten musikalischen Repertoires zu verbinden und diese versuchsweise gegeneinander auszuspielen, war den Akteuren dabei offensichtlich genauso entgangen wie die Tatsache, dass es neben der etablierten Chor- und Orgelszene seit vielen Jahren eine lebendige musikalische Jugendarbeit gibt, die repertoireübergreifend arbeitet, die also diese ideologische Schranke in den Köpfen gar nicht hat und für die ein qualitativ anspruchsvolles Musizieren selbstverständlich ist.

Ein Blick auf die kirchenmusikalische Ausbildung ist nötig

Wo so etwas geschieht, kommen Fragen auf: Entspricht ein solches Vorgehen den Bedürfnissen in den Gemeinden – oder droht hier die „terrible simplification“ einer für unsere Zeit nicht untypischen Verkürzung in der Wahrnehmung der realen Verhältnisse? Verbindet sich also mit dieser Engführung das Vorhaben, zugunsten rasch verpuffender Events etwas lang Gewachsenes abzureißen, nur weil es einigen der pastoralen Akteure nicht mehr in die Zeit zu passen scheint? Erlaubt oder verträgt die von großer Vielseitigkeit geprägte kirchenmusikalische Entwicklung in den Gemeinden die von oben verordnete einseitige Zuspitzung auf nur ein musikalisches Repertoire, ja auch nur eine Bevorzugung eines solchen – nur weil man sich einen Effekt davon verspricht? Erinnert ein solches Verhalten nicht an unselige Zeiten stilistischer Verengung, als man einen klassischen kirchenmusikalischen Stil durch die Obrigkeit als „der Kirche adäquat“ vorgeschrieben wissen wollte? Wie wirkt sich diese stilistische Einseitigkeit auf die aus, die nach wie vor anderes suchen? Riskiert man nicht leichtfertig, diese Menschen vor den Kopf zu stoßen – denn der eingeleitete Wechsel zielt auf eine andere Klientel, die man mit anderen (Stil-)Mitteln bedienen will? Wie wird in einigen Jahren die Bilanz aussehen: Wird man so viele hinzugewonnen haben, wie man gegebenenfalls verliert?

Um welche Art von christlicher Popularmusik geht es überhaupt? Das, was man landläufig bisher unter „Neuem Geistlichem Lied“ verstanden hat, ist damit wohl nicht gemeint – eher die Unmassen an Liedern und Gesängen, die sich mit dem Oberbegriff „Praise and worship“ verbinden: ein Repertoire, das sowohl hinsichtlich der musikalischen als auch der textlichen Qualität dringend einer gründlichen Diskussion unter Anwendung derjenigen Kriterien bedarf, die für das gesamte kirchenmusikalische Spektrum gelten.

Auf diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, dass sich gerade hier Selbst-isolationstendenzen breitmachen. Diese jedoch noch institutionell zu fördern, ist mindestens mit Blick auf die theologische Schieflage nicht weniger Texte nicht zu verantworten. Ein erneuter und sicherlich unbequemer Blick auf die kirchenmusikalische Ausbildung ist nötig geworden. Werden an den Hochschulen auch die popularmusikalischen Anteile unter den Kriterien der fachspezifischen Qualität berücksichtigt? Wo Ausbildungsstätten teils aus Ignoranz, teils aus Arroganz diese Inhalte schuldig bleiben, bereiten sie das Ghetto vor, in dem sich später andere häuslich einrichten werden – mit oberhirtlichem Segen und möglicherweise zu Lasten der überlebensnotwendigen kirchenmusikalischen Qualität und Vielfalt in unseren Gemeinden.

„Qualität in der Liturgie – was ist das denn für Sie?“ – mit dieser etwas provokanten Frage wurde der Autor selbst nach einem Vortrag konfrontiert. Und ihm fielen die Zeilen von Rilke ein:

„Wir spielen weiter. Bang und schwer Erlerntes hersagend und Gebärden dann und wann aufhebend; aber dein von uns entferntes, aus unserm Stück entrücktes Dasein kann uns manchmal überkommen, wie ein Wissen von jener Wirklichkeit sich niedersenkend, so daß wir eine Weile hingerissen das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.“

(aus dem Gedicht „Todeserfahrung“ von Rainer Maria Rilke, 1907)

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