Der vorliegende Beitrag wird einige bei modernen deutschen Bibelübersetzungen übersehene Probleme diskutieren. Im Zentrum der Untersuchung stehen potenziell missverständliche Passagen, deren judenfeindlicher Charakter gegenüber dem griechischen Text verschärft oder sogar, gegen den griechischen Text, überhaupt erst in die Übersetzung hineingetragen wird. Gleichzeitig ist hervorzuheben, dass es sich oftmals um traditionelle deutschsprachige Übersetzungsentscheidungen handelt, die so teilweise bereits seit Martin Luther üblich sind.
Ein Bruch mit diesen Traditionen würde in vielen Fällen schwerwiegende Textveränderungen verursachen. Da es sich bei grundlegenden Textänderungen um eine durchaus heikle Frage handelt, ist einleitend aufzuzeigen, dass zum Beispiel die Einheitsübersetzung bei ihrer jüngsten Revision 2016 durchaus Eingriffe in den Text vorgenommen hat, die den Sinn in fundamentaler Weise ändern. So lautet beispielsweise 1 Kor 7,21 in der früheren Version der Einheitsübersetzung: „Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; auch wenn du frei werden kannst, lebe lieber als Sklave weiter.“ In der revidierten Version wird folgendermaßen übersetzt: „Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; aber wenn du frei werden kannst, mach lieber Gebrauch davon!“ Zu formulieren, dass hier ein Unterschied zwischen der ursprünglichen und der revidierten Version existiert, wäre ein Understatement. Der Sinn hat sich in sein Gegenteil verkehrt und die Übersetzer haben durchaus Mut bewiesen, derart drastisch in den Text einzugreifen.
Weniger drastisch waren ihre Eingriffe, wenn sie die Wahl hatten zwischen der Nähe zum griechischen Text und der Treue zu traditionell judenfeindlichen Formulierungen. Dies ist in besonderer Weise zu bedauern, da das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission zum „Jüdischen Volk und seiner heiligen Schrift in der christlichen Bibel“ vom 24. Mai 2001 fordert, dass unnötige Antijudaismen in der Übersetzung zu vermeiden sind. Damit ist trotz der römischen Instruktion „Liturgiam authenticam“ (ebenfalls aus dem Jahr 2001), welche die Bedeutung des Lateinischen gerade für liturgisch verwendete Texte hervorhebt – und hierzu gehören wohl auch biblische Lesungen im Gottesdienst –, vom Lehramt wohl deutlich genug zum Ausdruck gebracht, dass im Falle einer judenfeindlichen Verzerrung des Textes eine Korrektur aufgrund des griechischen Texts gewünscht und befürwortet wird. Dass dies bei der neuen Einheitsübersetzung gelungen sei, bekräftigt Michael Theobald in seiner Funktion als Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks Deutschland. Es soll nun keinesfalls behauptet werden, dass er damit nicht seine tiefe Überzeugung zum Ausdruck bringt. Er täuscht sich allerdings in der Sache. Dies ist im Folgenden an einem ersten Beispiel zu zeigen, bevor die Ursachen aufgezeigt werden, wie es bei deutschen Bibelübersetzungen immer wieder zu derartigen Problemen kommen kann, selbst dann, wenn es ihr erklärtes Ziel ist, judenfeindliche Aussagen – wo immer möglich – zu vermeiden.
Im Trost des Paulus steckt der Dolch
Im ältesten Brief des Apostels Paulus, im ersten Thessalonicherbrief, findet sich eine der judenfeindlichsten Aussagen des gesamten Neuen Testaments: „Ihr habt von euren Mitbürgern das Gleiche erlitten wie jene von den Juden. Diese haben Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet.“ (1 Thess 2,14f; revidierte Einheitsübersetzung). Im Trost des Paulus für die frühen Christen steckt der Dolch, der gegen die Juden gerichtet ist. Die Thessalonicher werden getröstet damit, dass die Juden Jesus getötet hätten und „jenen“ – gemeint sind die Gemeinden in Judäa – große Schwierigkeiten bereitet hätten. Leider hat man bei der Übersetzung den Beitrag der Philologie zu dieser Stelle nicht beachtet. Wie der amerikanische Forscher Frank D. Gilliard bereits vor rund drei Jahrzehnten in den zwei renommierten neutestamentlichen Zeitschriften „New Testament Studies“ und „Novum Testamentum“ gezeigt hat, weist die grammatikalische Konstruktion des Griechischen klar darauf hin, dass Paulus hier lediglich eine Teilgruppe unter den Juden meint. Selbst der höchst provokante Titel von Gilliards erstem Beitrag aus dem Jahr 1989 hat nicht bewirkt, dass seine Erkenntnis ausreichend rezipiert wurde. Gilliard bezeichnet die an dieser Stelle irreführende Interpunktion der kritischen griechischen Textausgaben des Neuen Testaments im Titel seines Beitrags als „antisemitisches Komma“, das den eigentlichen Sinn verfälsche. Entfernt man diese durch die Handschriften des Neuen Testaments nicht gerechtfertigte Interpunktion, ist die Stelle aus philologischer Sicht zwingend so zu übertragen: „Ihr habt von euren Mitbürgern das Gleiche erlitten wie jene von einigen unter den Juden. Eben solche unter den Juden haben Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet.“ Angesichts der Tatsache, dass der pauschale Vorwurf des Christusmordes durch die Juden eine höchst blutige Geschichte nach sich gezogen hat – das Motiv wurde nicht zuletzt in nationalsozialistischer Propaganda verwendet, um die Juden zu verunglimpfen und den Massenmord an ihnen zu rechtfertigen –, ist es erstaunlich und bestürzend, dass deutsche Bibelübersetzungen gerade dann griechische Grammatik missachten, wenn diese einen durchaus als brutal zu bezeichnenden Antijudaismus aus dem Text des Neuen Testaments herauslösen könnte. Statt Frohbotschaft ist dies Drohbotschaft.
Annähernd alle modernen Bibelübersetzungen – und hierbei sind auch Bibelübersetzungen in das Englische oder andere moderne Sprachen miteinbezogen – scheitern an dieser einfachen Stelle und lösen den traditionellen und in dieser Schärfe textwidrigen Antijudaismus nicht auf. Es ist hier keine böse Absicht zu unterstellen, es ist schlicht das offensichtlich erdrückende Gewicht der Tradition. Das Wort der philologischen Vernunft war nicht von einem Bibelforscher, sondern von einem klassischen Philologen erhoben worden: Frank D. Gilliards These fand angesichts der theologischen Überzeugung, dass zahlreiche Stellen des Neuen Testament antijüdisch seien und dass 1 Thess 2,14f zu diesen gehöre, offensichtlich keinen fruchtbaren Boden und wurde im theologischen Diskurs leider nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. Damit ist auch schon ein wichtiger Aspekt angesprochen, der die Antijudaismen im Neuen Testament hält: die Macht der Gewohnheit. In besonderer Weise ist es die Macht traditioneller Übersetzungsentscheidungen, welche seit Martin Luther die deutsche Bibelwissenschaft prägen – und nicht nur die deutsche: Immerhin darf am Rande bemerkt werden, dass Martin Luthers Übersetzungstätigkeit auch Einfluss auf englische Bibelübersetzungen wie die Tyndale-Übersetzung oder die King-James-Version ausgeübt hat.
Martin Luther war ein Kind seiner Zeit. Judenfeindschaft prägte ihn wie auch viele seiner Zeitgenossen. Es muss erwähnt werden, dass auch der große Humanist Erasmus von Rotterdam keinesfalls als Philosemit angesehen werden darf. Vielmehr ist die von ihm angefertigte lateinische Übersetzung des Neuen Testaments, welche Martin Luther als wissenschaftliches Rüstzeug bei dessen Bibelübersetzung zugänglich war, nachweislich an ausgewählten Textstellen judenfeindlicher als die Vulgata, welche von Hieronymus (347–420), der im Jahr 1295 zum Kirchenlehrer ernannt wurde, auf der Basis bestehender altlateinischer Bibelübersetzungen erarbeitet wurde. Für die Vulgata, die über Jahrhunderte hinweg das westliche Christentum geprägt hat, gilt nun ebenfalls, dass sie an einzelnen Stellen pointiert judenfeindlich übersetzt. Die beiden Aspekte – der Einfluss Luthers und der Einfluss der Vulgata auf neue Bibelübersetzungen – sind nun im Folgenden darzulegen.
Ein erstes Beispiel aus dem Matthäusevangelium kann den Einfluss Martin Luthers aufzeigen. Dort wird anlässlich einer Heilung am Sabbat folgendes berichtet (Mt 12,14): „Die Pharisäer aber gingen hinaus und fassten den Beschluss, Jesus umzubringen“ (alte und revidierte Einheitsübersetzung). Einen Menschen umzubringen, ist als Tötungsvorsatz mit niedrigen Beweggründen zu qualifizieren. Bei einer Beurteilung dieser Situation durch einen Juristen würde man von einem Mordvorsatz der Pharisäer sprechen müssen. Dies ist um so erschütternder, als damit ausdrücklich unterstellt wird, dass die Pharisäer als Gremium sich nicht an die Zehn Gebote gebunden fühlen. Vielmehr handelt es sich bei ihnen, so scheint es, um eine Truppe heimtückischer Mörder. Dieses Bild der Pharisäer ist jedoch nur auf der Grundlage des deutschen Textes möglich. Auf der Basis des griechischen Texts ist zu folgender Übersetzung zu raten: „Die Pharisäer aber gingen hinaus und berieten, wie sie Jesus loswürden.“ Der Mordvorsatz existiert schlicht und ergreifend an dieser Stelle nur in den Übersetzungen. Als Ursache ist Martin Luther zu identifizieren. Dieser hat den Mordvorsatz in seiner Übersetzung an dieser Stelle durch die gewählten Formulierungen in den Text hineingetragen. Martin Luther verkennt dabei die Feinheiten des Griechischen und ignoriert, dass auch aus dem Wortlaut der Vulgata, welche das griechische Verb apollymi mit perdere überträgt, keine ausdrückliche Tötungsabsicht abgeleitet werden kann. Damit wäre an dieser Stelle die Abhängigkeit der Einheitsübersetzung von Martin Luthers prägender Übersetzungsentscheidung aus dem 16. Jahrhundert aufgezeigt.
Eine konkordante Übersetzung könnte einen alten Beleg für den Christusmord verhindern
Doch dieses Beispiel hat eine weit grundlegendere Bedeutung. Es ist dazu angetan, nachzuweisen, dass die revidierte Einheitsübersetzung in der Frage des Antijudaismus ein zentrales von ihr verfolgtes Übersetzungsprinzip nicht konsequent anwendet. Es war ihre erklärte Absicht, konkordant zu übertragen. Eine konkordante Übersetzung zeichnet sich durch folgendes Vorgehen aus: Ein griechisches oder hebräisches Wort im Ausgangstext wird, wenn möglich, mit ein und demselben deutschen Wort übertragen. Eben das Verb apollymi, das angeblich den Mordvorsatz der Pharisäer zum Ausdruck bringt, wird in Joh 6,39 für Jesu Verhalten verwendet und auch dort mit perdere in der Vulgata übertragen: „Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich keinen von denen, die er mir gegeben hat, zugrunde gehen lasse, sondern dass ich sie auferwecke am Jüngsten Tag“ (revidierte Einheitsübersetzung). Wenn man die beiden Stellen in Beziehung setzt, dann geht es beide Male darum, dass ein oder mehrere Menschen durch einen oder mehrere andere Menschen zur Seite gedrängt oder weggestoßen werden. Zu übersetzen, es sei der Wille dessen, der Jesus gesandt habe, dass Jesus keinen von denen, die er Jesus gegeben habe, umbringe, ist schlicht absurd. Ebenso absurd ist es, in Mt 12,14 einen Tötungsbeschluss der Pharisäer in den Text hineinzutragen. Es ist offensichtlich, dass Mt 12,14 in den traditionellen Übersetzungen eine der zentralen Stellen ist, durch die ein vermeintlicher Christusmord durch „die Juden“ oder „die Pharisäer“ belegt werden kann. Eine konkordante Übersetzung – und selbst die Vulgata übersetzt hier konkordant – könnte dies verhindern.
Der Christusmord ist nun eines der wichtigsten Motive christlicher Judenfeindschaft. Mit dem Christusmord wurden Pogrome gerechtfertigt, mit dem Christusmord arbeitete die nationalsozialistische Propaganda. Im vorliegenden Fall ist der Nachweis relativ einfach, dass Mt 12,14 in der Zeit vor Martin Luther nicht zu den Stellen gehörte, die für einen „Christusmord“ herangezogen wurden. Schon scholastische Theologen kannten und verwendeten zwar das Motiv eines jüdischen Christusmordes. Allerdings, und das ist bezeichnend, waren Mt 12,14 und die anderen Stellen, die ebenfalls fälschlich einen angeblichen Tötungsvorsatz der jüdischen Autoritäten in den Text deutscher Übersetzungen tragen, nicht Teil der neutestamentlichen Stellen, die sie als Nachweis des intentionellen Christusmordes benutzten. Was hier geschieht, kennt die Übersetzungswissenschaft als ein Problem, das viele Übersetzer zu bewältigen haben. Es ist durchaus möglich, dass ein Vorverständnis so stark auf die Übersetzer wirkt, dass die Übersetzung sich deutlich von dem Ausgangstext unterscheidet. Hier unterscheidet sich die Bibel in keiner Weise von anderen Texten. Damit zeigt diese Übersetzung, dass das Motiv eines jüdischen Christusmordes für Martin Luther sehr präsent war und dass dieses Motiv auch heute noch die Theologie zu prägen scheint.
Als weiteres Element, das hier zu erwähnen ist und dessen Einfluss in diesem Zusammenhang unterschätzt wird, sind die theologischen Wörterbücher zu nennen. Das wohl einflussreichste Wörterbuch im deutschen Sprachraum ist der so genannte Bauer/Aland, der im Jahr 1988 in der 6. und „völlig überarbeiteten“ Auflage erschienen ist. Jeder unvoreingenommene Benutzer muss den Eindruck gewinnen, hier ein modernes Wörterbuch in die Hand zu nehmen. Doch für Wörterbücher gilt wie auch für Verträge: Man sollte das Kleingedruckte lesen. Sehr versteckt im Vorwort steht, dass die lexikalischen Äquivalente dem „Griechisch-deutschen Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments“ von Walter Bauer entnommen sind. Damit wäre man bereits im Jahr 1928. Bauer baut jedoch, was die lexikalischen Entsprechungen angeht, auf Erwin Preuschen auf, dessen Wörterbuch im Jahr 1910 erschienen ist. Bei den von Preuschen gebotenen lexikalischen Entsprechungen handelt es sich wiederum um Übersetzungen der lateinischen Begriffe, die im Wörterbuch von Carl Ludwig Wilibald Grimm geboten werden. Dieses wurde im Jahr 1868 veröffentlicht. Grimm betont in seinem Vorwort, dass er die Vulgata benutzt habe. Aber er benutzt nachweislich auch die Übersetzung Martin Luthers, um die lexikalischen Äquivalente zu ermitteln. Während also noch die Vulgata für das griechische apollymi ein Verb im Lateinischen verwendet, aus dem kein direkter Tötungsvorsatz abgeleitet werden kann, bietet Grimm als die „korrekte“ Bedeutung eben dieses griechischen Verbs an der vorliegenden Stelle ein dem deutschen Wort „umbringen“ entsprechendes lateinisches Wort (interficio) an. Von Grimm wandert diese Bedeutung in die „6. völlig überarbeitete“ Auflage eines theologischen Standardwörterbuches. Hier zeigt sich der Wert, den philologische Grundlagenforschung für die neutestamentliche Wissenschaft haben könnte. Aufgrund derartiger Probleme bei den Hilfsmitteln der Forschung – und bei dem hier kritisierten Verb handelt es sich keinesfalls um ein isoliertes Phänomen – stehen natürlich auch Übersetzungen des Neuen Testaments in der Gefahr, aufgrund ihrer Abhängigkeit von Wörterbüchern wie Bauer/Aland mittelalterliche Konzepte in den Text hineinzutragen. Da das Mittelalter judenfeindlich war, ist das eben ein Aspekt, der durch solche Wörterbücher fortgeschrieben wird. Dass eine grundlegende Revision derartiger Wörterbücher unterblieben ist, darf als eines der zentralen Probleme angesehen werden, das die neutestamentliche Wissenschaft zu bewältigen hat. Zur durchaus hohen Hürde wird dabei der Umstand, dass sich die Exegese in ihren Diskursen – dies zeigt auch die Missachtung der philologischen Kritik an der Übersetzungsentscheidung im ersten Thessalonicherbrief – vorschnell darauf festgelegt hat, dass neutestamentliche Autoren gegebenenfalls judenfeindlich sind.
Das Johannesevangelium wurde in der judenfeindlichen Propaganda in besonderer Weise rezipiert. Es ist bekannt und wird auch in der neueren exegetischen Literatur zum Johannesevangelium immer wieder erwähnt, dass auf diesen Umstand bereits im Jahr 1938 in einer angelsächsischen Zeitschrift hingewiesen wurde. Sicherlich auch unter dem Eindruck dieser Wirkungsgeschichte kam der bedeutende Neutestamentler Raymond Brown am Ende seines langen und ertragreichen wissenschaftlichen Lebens zu dem Ergebnis, dass es sich beim Verfasser des Johannesevangeliums um einen gegenüber den Juden hasserfüllten Autor handele. Tatsächlich verdankt die christliche Theologie gerade auch dem Johannesevangelium die so genannte negative Prädestination der Juden. Diese sind, so scheint es, von Gott dazu unfähig gemacht, überhaupt auf Jesu Wort zu hören. Ausdrücklich wird dies im achten Kapitel des Johannesevangeliums festgehalten: „Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes; ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid“ (Joh 8,47; alte und revidierte Einheitsübersetzung). Auch die Übersetzung dieses Satzes mag traditionellen christlichen Antijudaismen entsprechen. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Satz aus philologischer Sicht anders zu übertragen ist: „Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes. Daraus folgt: Ihr hört nicht. Folglich gehört ihr auch nicht zu Gott.“
In der philologisch behutsameren Übersetzung wird deutlich, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem „Hören auf Gottes Wort“ und der „Zugehörigkeit zu Gott“. Die jeweils persönliche Entscheidung, auf Gottes Wort zu hören und danach zu leben, ist somit die Grundlage, auf welcher die Entscheidung gefällt wird, ob jemand zu Gott gehört oder nicht.
Von einem Gegensatz zwischen Wahrheit und Jude ist nicht die Rede
Da bereits die nationalsozialistische Propaganda erwähnt wurde, sei noch eine weitere Stelle aus dem Johannesevangelium zitiert: „Mir aber glaubt ihr nicht, weil ich die Wahrheit sage“ (Joh 8,45; alte und revidierte Einheitsübersetzung). Hier wird ein Gegensatz zwischen der Wahrheit und den Juden konstruiert. Im „Stürmer“ liest man häufig folgende Anklage: „Der Jude siegt mit der Lüge und stirbt mit der Wahrheit.“ Man wird nicht umhinkommen, hier einen Einfluss des Johannesevangeliums zu erkennen. Gerade deshalb wäre anzuraten, die philologisch näherliegende Übersetzung zu wählen: „Ich aber sage das aufrichtig. Ihr glaubt mir nicht.“ Von einem Gegensatz zwischen Wahrheit und Jude ist an dieser Stelle keinesfalls die Rede.
Zusammenfassend darf festgehalten werden: Aus der Sicht des Textforschers deuten die bisher erzielten Ergebnisse darauf hin, dass es sich nicht nur um Einzelfälle handelt. Vielmehr stellen die hier für einige wenige Stellen aufgezeigten Probleme weder eine Besonderheit der revidierten Einheitsübersetzung dar, noch handelt es sich um isolierte Phänomene. Für das Johannesevangelium wird man vermuten dürfen, dass zwischen 40 und 60 Verse betroffen sind, deren Übersetzung verbessert werden könnte. In ähnlicher Form gilt dies wohl auch für alle anderen Schriften des Neuen Testaments. Der vermutliche Umfang der Textverzerrungen zeigt, dass es sich um ein zentrales Problem der neutestamentlichen Grundlagenforschung handelt, das mit den vorhandenen wissenschaftlichen Hilfsmitteln nur schwer zu bewältigen ist.
Es versteht sich von selbst, dass eine Verbesserung der Übersetzungen, wie die oben angeführten Beispiele zeigen, zwar möglich ist, dass aber jedenfalls umfangreiche und zeitaufwändige philologische Analysen in jedem einzelnen Fall notwendig sind. Die Einheitsübersetzung ist ein gutes Beispiel für die Größe der Problematik, weil sie als eine in ihrer Normativität für eine große Gruppe von Gläubigen herausragende Übersetzung trotz des erklärten Willens, judenfreundlich zu übertragen, dies auch an den Stellen nicht konsequent umzusetzen in der Lage ist, wo es aufgrund der für diese Übersetzung gewählten Übersetzungsprinzipen (konkordante Übersetzung) eigentlich zu erwarten wäre. Damit stellt die hier vorgetragene Kritik auch keinesfalls einen Vorwurf an die Herausgeber beziehungsweise die Bearbeiter dar. Die Herausgeber haben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln versucht, das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Aus Sicht der Philologie hat es die neutestamentliche Wissenschaft verabsäumt, ihre eigenen Hilfsmittel zu modernisieren. Mit Blick auf die Ökumene ist hervorzuheben, dass von evangelischer Seite offensichtlich unterschätzt wurde, wie sehr Martin Luther Antijudaismen in den Text hineingelesen oder verschärft hat. Dies hat dazu beigetragen, dass der Revisionsbedarf des Bauer/Aland nicht erkannt wurde.
Deshalb ist ein Paradigmenwechsel in der neutestamentlichen Wissenschaft zu fordern. Solange auf der Basis eines in Teilen problematisch übersetzten Textes auf einen bewusst judenfeindlichen Autor geschlossen wird, muss eben dieser Text dann auch wieder judenfeindlich übersetzt werden. Eine philologisch zurückhaltendere und gerade deswegen weniger judenfeindliche Übersetzung scheint für zahlreiche Passagen möglich. Bezüglich der revidierten Einheitsübersetzung gilt somit: Nach der Revision ist vor der nächsten Revision.