Eine Apologie im Angesicht von Gisbert Greshakes WürdigungRahners Lektüreliste

Das Bild des „Spekulanten“ Karl Rahner verkennt, dass sein Schaffen auf einer intensiven Quellenarbeit der Heiligen Schrift basiert.

Karl Rahner spricht vor Publikum.
© KNA

In seiner Würdigung Karl Rahners hat Gisbert Greshake aus seiner persönlichen Erinnerung interessante Aspekte der Persönlichkeit und der Wirkungsgeschichte Rahners sehr farbig formuliert vorgestellt. Eine Nachbetrachtung verdient allerdings seine rhetorische Frage nach der schönen Anekdote zum Vortrag des Exegeten Rudolf Schnackenburg, seiner exegetischen Mühsal gegen Rahners anscheinende spekulative Leichtigkeit: „Wie weit kann christliche Theologie sich über ihre geschichtlichen Quellen erheben?“ (vgl. HK, Dezember 2018, 27) Dies sollte sicher von einem Kenner von Rahners Werk wie Greshake insgesamt nicht unterstellt werden. Da dies aber doch manchmal geschieht, ist eine kleine Apologie nötig. Die Gesamtausgabe von Rahners Werken macht es nun leicht, die nötigen Hinweise zu geben. Ich beginne mit theologie- und dogmengeschichtlichen Arbeiten. Schon als Student hat sich Rahner ein intensives theologiegeschichtliches Lektürepensum auferlegt – für einige Jahre hat er eine eigene Lektüreliste geführt, die neben einem Bildungsprogramm – von der schönen Literatur bis zur Politik – auch theologische Quellenschriften, vor allem Kirchenväterlektüre, aber auch Bibelkommentare und theologiegeschichtliche Arbeiten nachweist (SW 1, 413ff. dort auch registermäßig thematisch erschlossen). Vielleicht ist auch der Einfluss seines Bruders Hugo Rahner schon hier zu spüren, der ja ein renommierter Patrologie und Kirchenhistoriker wurde und in diesen Jahren sein Werk grundlegte.

Mit seinem Bruder Hugo hat er 1928 eine private maschinenschriftliche Festschrift für den Vater Karl Rahner senior zu dessen 60. Geburtstag vorgelegt. Sie enthält nur historische Arbeiten. Was den Anteil Karl Rahners junior anbelangt, so ist neben philosophiegeschichtlichen Texten (zu Aristoteles, Augustinus, Thomas) die umfangreiche Studie zur Geschichte der Lehre von den fünf geistlichen Sinnen zu nennen. Sie verfolgt diese Thematik von den Anfängen bei Origenes bis zur Jesuitentheologie der Renaissance. Aus dem Material hat Rahner einige Jahre später zwei Aufsätze erarbeitet, die allerdings nur auf Französisch erschienen, was ihre Wirkung im deutschen Sprachraum wohl negativ beeinflusst hat, bis

Aus dem Material hat Rahner einige Jahre später zwei Aufsätze erarbeitet, die allerdings nur auf Französisch erschienen, was ihre Wirkung im deutschen Sprachraum wohl negativ beeinflusst hat, bis Karl H. Neufeld sie in deutscher Bearbeitung in Rahners Schriften zur Theologie 12 (1975) erneut vorlegte. Sie zeigen, wie früh Rahner sich mit der Frage nach religiöser Erfahrung, nach Mystik und deren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten beschäftigt hat. Das bekannte Diktum vom Christen der Zukunft, der ein Mystiker sein müsse, hört sich wie ein inflationäres Zitat als leicht dahingesagt an. Es hat aber bei Rahner tiefe Wurzeln im Werk bis zu diesen frühen historischen Studien, die im Übrigen nach wie vor zentrale Literatur zu diesem Themenkreis sind (vgl. etwa den Sammelband The Spiritual Senses : Perceiving God in Western Christianity. Cambridge 2012).

Einen Schwerpunkt des Interesses bieten früh bußgeschichtliche Arbeiten, auch dies durch die Lektüreliste belegt. In seiner Innsbrucker Lehrtätigkeit hat Rahner den Bußtraktat gelesen (SW 6) und dazu ausführliche dogmengeschichtliche Vorlesungen zum ersten Jahrtausend der Bußgeschichte vorgelegt (SW 6/1). Diese beruhen auf einer Fülle eigener Studien zur Theologie vor allem der frühen Kirchenväter, die wiederum einen eigenen Band ergeben (SW 11). Auch hier hat Karl H. Neufeld als Bearbeiter dieser Aufsätze in Rahners Schriften zur Theologie (Band 11) auf die Bedeutung der Thematik im Gesamtwerk Rahners hingewiesen und jüngst Peter J. Fritz in den USA, wo es ein reges Rahner-Studium gibt, dies weitergeführt (Freedom made manifest. Washington 2018). Der Kenner weiß, dass aus diesen Studien erarbeitete Theologoumena lehramtlich Wirkung gezeigt haben, es also keinesfalls nur um „bloße“ historische Darstellung geht. Dass Rahners Dissertation und Habilitation patristische Arbeiten sind (E latere Christi. SW 3, 3ff., und Sünde als Gnadenverlust in der frühkirchlichen Literatur, SW 11, 3ff.), ist dann nicht mehr so verwunderlich. Die Breite des theologiegeschichtlichen Interesses Rahners betrifft zum einen die eigene Ordenstradition. Auch hier gibt es eigene Arbeiten, die erst im Rahmen der Gesamtausgabe veröffentlicht wurden, zum Teil mit seinem Bruder Hugo zusammen (vgl. SW 1, 5ff., 174ff.). Darüber hinaus hatte Rahner eine Zeit lang die Barockscholastik als Forschungsobjekt im Blick, bevor seine Lehrtätigkeit einen anderen Weg nötig machte. Ein wesentliches Thema ist, inwieweit Rahners Theologie die Heilige Schrift und die neuere Exegese wahrgenommen hat. Einer der frühesten großen dogmatischen Aufsätze Rahners „Theos im Neuen Testament“ (SW 4, 346ff.) ist durch die Aufnahme neuster protestantischer Exegese gekennzeichnet – aus dem damals gerade neu erscheinenden Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament. Es gibt wohl nicht viele Arbeiten in dieser Zeit (und vielleicht gilt das auch heute noch!), die so direkt neuere Exegese ins Herz der Dogmatik – der Trinitäts- und Gotteslehre – einbringen. Und dies in einer Situation, wo das Zitieren evangelischer Exegeten unter höchstem Verdacht stand.

Nun ist es bekannt, dass Karl Rahner im Rahmen der sogenannten „Schultheologie“ gearbeitet hat. Seine Selbststilisierung als „Schulmeister“ klingt ja auch bei Greshake durch. Man kann den Formalismus der Innsbrucker Schultheologie, in deren Rahmen Rahner seine Vorlesungen halten musste, an den entsprechenden Lehrbüchern ablesen. Rahners Gnadenvorlesung fügt sich hier ein. Allerdings gilt auch hier, dass er sorgfältig die dort manchmal zu unbefragt übernommenen biblischen Belege überprüft und bibeltheologische Exkurse mit der damals neusten Literatur einarbeitet. Auch hier greift er häufig auf die protestantische Exegese zurück – wenn auch gelegentlich mit dem Hinweis, sie sei „caute“ aufzunehmen – was auch immer für eine Vorsicht da empfohlen wird. Das war bei der Edition des Gnaden-Codex auffällig (SW 5). Dass er die Gnadenlehre später in Münster viel freier lesen konnte, steht auf einem anderen Blatt.

Es gibt nach meinem Kenntnisstand kaum Selbstlob in Rahners Texten – zumindest einen Fall aber doch, wenn er schreibt: „Wenn ich mir etwas einbilden darf, dann würde ich meinen, dass ich in dieser oder jener Hinsicht doch als Systematiker mich bemüht habe, für die Exegeten manches Hindernis innerhalb der klassischen Schultheologie zu beseitigen, daß sie das, was sie aus dem Neuen Testament (Synoptiker) erkennen, unbefangener in der Kirche vortragen können, als das vor dreißig, vierzig Jahren möglich gewesen wäre, ohne mit kirchenamtlichen Instanzen in Konflikt zu kommen“ (SW 30, 316). Das ließe sich nun an Sachthemen aus Rahners Werk wie der Schriftinspiration, der Frage nach Wissen und Bewusstsein Christi, den kirchenstiftenden Akten, aber auch am Eintreten für exegetische Publikationen wie den Jesus Christus-Artikel von A. Vögtle im Lexikon für Theologie und Kirche (SW 17/2, 1430ff.) oder später für Arbeiten von Rudolf Pesch (SW 30, 58ff.) und andere deutlich machen. Es gibt sicher manche andere Fälle. G. Greshakes Beispiel seiner Bultmann-Arbeit gehört auch in diesen Kontext.

Ich bin hier das Bibel-Thema vom Verhältnis zur neueren historisch-kritischen Exegese aus angegangen. Die Kenntnis und die sorgfältige Interpretation patristischer Exegese wären aus der genannten Dissertation nachzuweisen. Ein Bemühen um die Auslegung der Heiligen Schrift wird aber insbesondere von jedem Prediger verlangt. Obwohl Rahner nicht in der diözesanen Pastoral verankert war, hat er doch eine umfangreiche verschiedenartige pastorale Tätigkeit ausgeübt – nicht nur die theoretische Seite der Pastoral bedacht, was für einen Dogmatiker ja auch schon ungewöhnlich ist – und insbesondere eine umfangreiche Predigttätigkeit absolviert. Darunter finden sich vor allem viele Homilien zu biblischen Texten. Sein Notizbüchlein enthält viele entsprechende Einträge und sein Schüler und Freund Herbert Vorgrimler hat daraus eine Auswahl Biblische Predigten (SW 14, 221ff.) ediert. Für mich als Bearbeiter des Registers zur Gesamtausgabe (SW 32/2) war es überraschend, dass im Bibelregister sämtliche (!) Schriften des Alten und Neuen Testamentes vorkommen (SW 32/2, 818ff.). Dass dies nicht nur belanglose „Belegzitate“ sind, zeigt die Tatsache, dass zu vielen Stellen im Register ausführlichere Texte genannt sind, seien es Predigten, Meditationen oder auch Interpretationen in Vorlesungen oder Aufsätzen.

Das Bild des „Spekulanten“ Rahner ist fleißig von der theologischen Konkurrenz verbreitet worden. Jüngere Zeitgenossen und spätere Leser, die die Genese und den Umfang des Rahnerschen Werkes nicht kennen und es vor allem oder bestenfalls aus späten Vortragstexten kennen, konnten den Eindruck gewinnen, dass hier ein Denker seine Theorien ausbreitet, die im Wesentlichen aus systematischer Konsequenz gewonnen seien. Der Eindruck verkennt, dass im Hintergrund dieses habituellen Wissens eine intensive Quellenarbeit, eine ganz umfangreiche Erarbeitung des Traditionsgutes von der Heiligen Schrift bis zu den verschiedenen Epochen der Theologiegeschichte in großer Breite stand.

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