So einig sich die Beobachter darin sind, dass es sich beim ersten Besuch eines Papstes auf der Arabischen Halbinsel um ein historisches Ereignis handelte, so weit gehen die Meinungen auseinander in der Frage, ob Franziskus’ Reise nach Abu Dhabi Anfang Februar denn nun eine gute oder eine schlechte Idee war. Insbesondere an dem Dialogdokument, das der Papst gemeinsam mit dem sunnitischen Großimam von Al Azhar, Ahmad Mohammad Al-Tayyeb, unterzeichnet hat, scheiden sich die Geister. Ist es nicht naiv, so fragen manche, ausgerechnet in jener Region das Hohelied der Toleranz anzustimmen, in der im Namen des Islams so oft das Gegenteil geschieht? Hat der Papst, wie andere meinen, mit dem Text vielleicht sogar den Wahrheitsanspruch des Christentums aufgegeben und die Unterschiede zwischen den Religionen verwischt? Die allgemeine Verunsicherung lässt sich bis ins offiziöse Medium „Vatican News“ hinein spüren, wo das Dokument hartnäckig als „Erklärung zur Geschwisterlichkeit aller Menschen“ bezeichnet wird. Dabei heißt es eigentlich „Erklärung zur Brüderlichkeit aller Menschen“, was den Schluss nahelegt, dass der Feminismus während der Verhandlungen nicht unbedingt das vordringlichste Anliegen gewesen ist. Der Text selbst spricht denn auch bezeichnenderweise nur von „den eigenen Rechten“ der Frauen, womit elegant offengelassen wird, ob das unbedingt immer die gleichen Rechte sein müssen wie die der Männer.
Die Diskussion darüber, wie weit die Kirche dem Islam denn nun entgegenkommen sollte oder nicht, mag grundsätzlich geboten sein. Nur: Wer die Erklärung von Abu Dhabi auf diese Frage beschränkt, sei es in papstkritischer oder papstlobender Absicht, übersieht das eigentlich Spannende, das Visionäre, das geradezu schlitzohrig Neue, das die beiden geistlichen Autoritäten in diesen Text geschrieben haben. Das Bemerkenswerte an ihrem Plädoyer für eine Aussöhnung zwischen Islam und Christentum besteht nämlich darin, dass es sich bei näherem Hinsehen überhaupt nicht um ein solches handelt. Franziskus und Al-Tayyeb, der Christ und der Muslim, sind längst einen Schritt weiter.
Ja, beide warnen vor religiösem Fundamentalismus und religiös motivierter Gewalt. Aber diese Warnung wird nicht speziell auf das Verhältnis zwischen Islam und Christentum bezogen, sondern gilt generell für alle Religionen und ist ja auch nichts Neues, sondern muss als rhetorische Selbstverständlichkeit betrachtet werden (so anders die traurige Realität allzu oft auch aussieht). Ja, beide Seiten bekennen gemeinsam den „Glauben an Gott“, geben sich also als Anhänger desselben Gottes zu erkennen. Aber das ist bereits seit Jahrzehnten der Standpunkt der Kirche. Schon das Zweite Vatikanische Konzil lehrte in „Lumen Gentium“, die Heilsabsicht Gottes „umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslime, die sich zum Festhalten am Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einzigen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird“. Mit derselben Formulierung stellt auch der Katechismus fest, dass Christen und Muslime gemeinsam den einen Gott Abrahams verehren ‒ so unterschiedlich ihre Verehrung und ihre Lehre über diesen Gott auch ist und bleibt.
Was die Welt jetzt braucht
Die eigentliche Stoßrichtung von Abu Dhabi ist eine andere: Die ‒ zumindest theologische ‒ Versöhnung der beiden Religionen wird hier bereits als gegeben vorausgesetzt, um größere, universale Ziele in den Blick nehmen zu können. Die Unterzeichner gehen von einer Wirklichkeit aus, in der nicht mehr die Spannungen zwischen den Religionen das Problem sind, sondern die wachsende Kluft zwischen religiösen Menschen und dem Säkularismus. Sie kommen überein, „dass Hauptursachen für die Krise der modernen Welt ein betäubtes menschliches Gewissen und eine Entfremdung von religiösen Werten sowie die Dominanz von Individualismus und materialistischen Philosophien sind, die den Menschen vergöttlichen und weltliche wie auch materielle Werte an die Stelle der höchsten und transzendenten Prinzipien setzen“. Während die landläufige Vorstellung vom Frieden der Religionen darin besteht, dass schon alles besser würde, wenn einfach alle Seiten ihren Glauben nicht mehr gar so ernst nähmen, predigen Franziskus und Al-Tayyeb das kühne Gegenteil: Diese Welt mit all ihren Nöten und Leiden, mit ihren neuen Nationalismen und Protektionismen, mit ihrer Not und Gewalt, mit ihrer ganzen himmelschreienden Ungerechtigkeit braucht nicht weniger, sondern mehr Religion, wenn es ihr besser gehen soll.
Wer soll denn auch heute und in Zukunft für Frieden und Gerechtigkeit eintreten, wenn nicht diejenigen, die von ihrem Gott dazu angehalten werden? „Wir – die wir an Gott und an die endgültige Begegnung mit ihm und an sein Gericht glauben – verlangen ausgehend von unserer religiösen Verantwortung mit diesem Dokument von uns selbst und den leitenden Persönlichkeiten in der Welt, von den Architekten der internationalen Politik und der globalen Wirtschaft, ein ernsthaftes Engagement zur Verbreitung einer Kultur der Toleranz, des Zusammenlebens und des Friedens.“ Profitieren sollen die „Armen, Notleidenden, Bedürftigen und Ausgegrenzten“, die „Waisen, Witwen, Flüchtlinge“, die „Völker, die der Sicherheit des Friedens und des gemeinsamen Zusammenlebens entbehren und Opfer von Zerstörung, Niedergang und Krieg wurden“, kurz und gut: alle Menschen egal welchen Bekenntnisses, egal welcher Herkunft.
Und so lautet die inspirierende Botschaft, die von Abu Dhabi ausgeht: Den Millionen und Abermillionen Muslimen und Christen wäre ein noch viel größeres Potenzial gegeben, wenn sie einfach nur darauf verzichteten, sich gegenseitig anzufeinden. Gemeinsam könnten sie für die ganze Welt zum Segen werden. Ein frommer Wunsch, natürlich. Aber den wird man einem Papst und einem Großimam doch wohl noch zugestehen. wiegelmann@herder.de