Fördern und Fordern

Sanktionen gegen Bezieher von Sozialleistungen stehen in der Kritik. Doch ohne Bedingungen funktioniert keine Solidarität.

Jemand füllt einen Antrag auf Hartz4 aus.
© KNA

Haben wir eine bedingte oder unbedingte Pflicht zur Solidarität? Dies ist die Frage, die hinter dem Problem der Sanktionen steht. Sanktionen greifen in das gesetzlich geschützte soziokulturelle Existenzminimum ein. Das bedarf einer Begründung. Der moderne Staat gewährt soziale Leistungen nicht als karitative Einzelleistung, sondern als Rechtsanspruch. Er verzichtet darauf, die Leistungen nur als Darlehen zu gewähren, das dann zurückzuzahlen ist, wenn die Notlage überwunden ist. Er unterscheidet aber zwei Formen der Solidarität: die reziproke und die nicht reziproke. Die nicht reziproke Solidarität besteht im Verzicht auf Gegenleistungen, weil diese nicht erbracht werden können. Weder kann ich erwarten, dass der Zustand, der zur Hilfsbedürftigkeit geführt hat, überwunden werden kann (etwa bei schweren Behinderungen oder einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit), noch kann eine darauf gerichtete Anstrengung verlangt werden. Anders ist es im Bereich der Leistungen nach SGB II. Hier wird davon ausgegangen, dass eine Arbeitsfähigkeit besteht, der Einzelne also lediglich vorübergehend durch ungünstige Umstände daran gehindert ist, aus eigener Verantwortung seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Die solidarische Hilfe zielt auf Selbsthilfe ab, nicht auf Verstetigung. Das spiegelt sich auch in den Mitwirkungspflichten wider, dem also, was gefordert wird: alle Möglichkeiten zu nutzen, den Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten. Dahinter steht das Prinzip der Subsidiarität. Der Einzelne hat dann keinen Anspruch auf Förderung, wenn er sie nicht braucht. Der Grundsatz, den Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten, liegt dabei das Bild des selbständigen Menschen zugrunde. Mit diesem selbständigen Menschen wird eine Zielvereinbarung abgeschlossen, die ihn auch über Rechtsfolgen belehrt, wenn er den Bedingungen für die finanzielle Förderung nicht nachkommt.

Nun argumentieren einige, es sei aus dem Gebot des Artikel 1 des Grundgesetzes heraus unzulässig, in das soziokulturelle Existenzminimum hinein Leistungen zu kürzen. Wäre dies richtig, dann wäre allerdings eine Leistung nach SGB II eine Form des bedingungslosen Grundeinkommens. Es wäre auch nicht an die Bereitschaft geknüpft, den Lebensunterhalt aus eigenen Kräften und Mitteln zu bestreiten, sondern wäre eine Subvention des Rechts auf Faulheit. Der Wille, sein eigenes Leben nicht selbständig zu führen, sondern von der Gemeinschaft finanzieren zu lassen, wäre aber der Sargnagel für gesellschaftliche Solidarität. Das Geld für eine solche solidarische Leistung wird nämlich auch von denjenigen erwirtschaftet, die selbst nur wenig mehr als den Regelsatz der Sozialleistung verdienen. Ihre Arbeit wird delegitimiert durch das anstrengungslose Leben derjenigen, die ohne Gegenleistung staatliche Transferzahlungen in etwa gleicher Höhe erhalten. Ihre Arbeit wird darüber hinaus entwertet, weil sie selbst natürlich ebenfalls Sanktionen ausgesetzt sind, wenn sie ihre Pflichten verletzen, etwa durch Lohnkürzungen bei unentschuldigtem Fehlen.

Gegen das Argument, man dürfe das soziokulturelle Existenzminimum nicht kürzen, kann eingewendet werden, dass der Leistungsbezieher im Wissen um die Sanktionen auf die weitere volle Fortzahlung der Leistung verzichtet. Dafür kann es viele Gründe geben. Grundsätzlich aber kann keiner gezwungen werden, soziale Leistungen in Anspruch zu nehmen, auch wenn er einen Anspruch darauf hat. Das Existenzminimum darf der Staat nicht erzwingen. Insofern sind Verhaltensweisen, die zu Sanktionen führen, auch als Willensäußerungen des Verzichts zu werten. Das Argument, man dürfe diejenigen, die unter 25 Jahre alt sind, nicht einem besonderen Sanktionsregime aussetzen, überzeugt ebenfalls nicht. Diese Altersgruppe wird in der Regel der Bedarfsgemeinschaft der Eltern zugerechnet und unterliegt besonderen Förderungen bei der Eingliederung in Ausbildung und Arbeit; überdies sind Jugendliche bis zu diesem Alter noch in anderen Formen privilegiert. Das begründet auch andere und schärfere Sanktionsmechanismen; gerade in dieser Altersgruppe ist die Wirkung von finanziellen Sanktionen als verhaltensändernde Maßnahmen hoch. Deswegen ist eine frühe, scharfe Intervention mit Blick auf die Gesamtbiografie auch gerechtfertigt.

Schließlich: Von der überwiegenden Zahl der Leistungsbezieher wird die Wirkung der Sanktion auf das eigene Verhalten positiv eingeschätzt. Dahinter darf man Einstellungen vermuten, die ein tief verwurzeltes Wissen darüber spiegeln, dass es in einer Gesellschaft auch eine Verantwortung gibt, wenn man Solidarität in Anspruch nimmt. Sanktionen sind eine notwendige Begleiterscheinung einer bedingten Solidarität. Fehlen sie, führt dies zu einem anstrengungslosen bedingungslosen Grundeinkommen, das die Ressource der Solidarität in einer Gesellschaft insgesamt in Frage stellt.

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