Erasmus – Wegbereiter der Aufklärung Frei vor Gott und der Welt

Die niederländische Historikerin Sandra Langereis legt eine anregende Biografie des Humanisten vor.

Mit dem Prolog verblüfft die Autorin. Nicht von den üblichen Themen einer Biografie – der Herkunft, Geburt und Jugend – ist die Rede, sondern von Abenteuern, die eine Holzstatue des Erasmus erlebt hat. Sie befand sich am Heck eines Schiffes, das zwischen 1598 und 1600 eine gefährliche Expedition von Rotterdam nach Japan unternahm. Heute steht die Figur im Tokioer Nationalmuseum. Wem die Lebensdaten des berühmten Humanisten nicht geläufig sind, könnte dem literarischen Kniff der niederländischen Erasmus-Expertin Sandra Langereis erliegen. Das gelungene Verwirrspiel, das ihre virtuose Vertrautheit mit dem Leben und Denken des weltberühmten Humanisten und der Mentalität seiner Epoche verrät, löst sie jedoch nach wenigen Seiten auf. Doch der Einstieg ist Programm: Langweilig wird es auch später auf den fast 1000 Seiten mit Anmerkungen und Literatur nicht.

Erasmus. Biografie eines Freigeists versteht es, spannend zu erzählen, und vermittelt so ein buntes Bild der Zeitgeschichte. Erasmus hätte sich gefreut über manche witzige Formulierung der Autorin. Liebte er doch selbst Witz und Spott und legte im Lob der Torheit von 1511, einer seiner umstrittensten Schriften, dieser „Tugend“ die Rechtfertigung in den Mund: „Mir sind solche Weisen völlig egal, die es für größte Dummheit und Unverschämtheit halten, wenn einer sich selbst lobt.“ Seine Kritik an Philosophen und Theologen bescherte dem unabhängigen Geist lebenslange Feindschaften. In ihm paarten sich überschäumende Intellektualität, gesunder Menschenverstand und eine natürliche Frömmigkeit, die ihn nicht in die akademische Falle mangelnder Bodenhaftung tappen ließen. Jeglicher Fanatismus war ihm fremd.

„Der Fürst der Humanisten“ – so der gängige, aber nicht treffende Titel für den, der den Kardinalshut ausschlug – hat sich gegen alles gewehrt, was seine Freiheit einschnürte. Dies war auch einer der Gründe, weshalb der früh Verwaiste sein Augustinerkloster, das ihm ein Theologiestudium an der Sorbonne und die Priesterweihe ermöglicht hatte, verließ. Lieber darbte er als Hauslehrer und scharte Privatschüler um sich. Geholfen hat auch die Unterstützung adliger und geistlicher Wohltäter. Mehr als 3000 erhaltene Briefe, aus denen Langereis reichlich zitiert, zeigen den fleißigen Netzwerker, der die europäischen Geistesgrößen des 16. Jahrhunderts miteinander zu verbinden wusste. Einer von ihnen war Thomas More, der spätere Feind Luthers und Lordkanzler Heinrichs VIII., dem Erasmus bei seinem ersten Englandbesuch 1499 begegnete. Dieses Treffen war der Beginn einer Lebensfreundschaft. Als Erasmus, inzwischen Doktor der Theologie, 1509 nach England zurückkehrte, wohnte er in Mores Londoner Anwesen, wo er das Lob der Torheit verfasste. More ermunterte den zurückhaltenden Freund, in seiner Hausschule auch Mädchen zu unterrichten. 1510 ergatterte er eine Dozentur am Queens’ College in Cambridge. Damit konnte die ständige Bettelei bei Gönnern enden. „Mit More, der mein anderes Ich war, bin ich selbst auch gestorben“, trauerte der betagte Erasmus, als er 1535 von dessen Hinrichtung auf Betreiben Heinrichs VIII. erfuhr. Einmal mehr hatte sich Erasmus’ Argwohn gegen weltliche wie geistliche Eliten bewahrheitet.

Im satirischen Dialog zwischen Petrus und Papst Julius II. kurz nach dessen Tod 1513 kommt der Verstorbene an die verschlossene Himmelstür und poltert los: „Mir steigt die Galle, ich werde das Tor einschlagen. He, he! Öffne sofort einer diesen Eingang! Was ist los? Kommt niemand? Was säumt hier der Türhüter? Ich glaube, er schnarcht völlig besoffen!“ Mit der derben Kritik an Papst und Kirche, insbesondere den Missständen unter den Bettelmönchen und den Quisquilien der Scholastiker sprach Erasmus manchem Zeitgenossen aus der Seele – wenige Jahre vor Luthers Reformation, der er sich allerdings nicht anschloss. Luther wiederum tat sich – trotz anfänglicher gegenseitiger Wertschätzung – nicht nur mit Erasmus’ Kirchentreue und seiner Lehre von der menschlichen Willensfreiheit schwer, sondern auch mit dessen unangepasster Intellektualität, die geistliche Bequemlichkeit und patriarchalisches Gehabe lächerlich machte. So ließ der brillante Spötter eine rebellische Frau einen schlaffen Abt kritisieren. Deren Ärger über die Zustände in Kirche und Kloster machte sich in der kecken Vorhersage Luft, „dass wir in den theologischen Schulen den Vorsitz führen, in den Kirchen predigen und eure Mitren in Beschlag nehmen“.

Geboren wurde Erasmus in Rotterdam, damals noch ein Fischerdorf. Sein Geburtsjahr ist unsicher, weil in seiner posthum erschienenen Autobiografie, dem Compendium, das Jahr 1466 nicht mit der Chronologie seiner weiteren Lebensstationen übereinstimmt. Langereis ist überzeugt, dass Erasmus in Zeiten mangelnder Taufbücher nicht mutwillig täuschte. Ging es um seine Geburt und seine Kindheit, habe er vom Compendium über die beiden alternativen Autobiografien bis hin zu seinen Briefen Jahreszahlen vermieden. Sicher war er sich allerdings mit seinem Geburtstag am 28. Oktober, den er mit seinen Eltern gern feierte.

Die chronologischen Lücken im Compendium machen aus der Autobiografie keine Fälschung, enthüllen aber Langereis zufolge, dass Erasmus eine „äußerst tendenziöse Lebensbeschreibung hinterlassen hat“. Seine uneheliche Herkunft belastete den scharfzüngigen Theologen, zumal einem illegitimen Sohn in der Regel eine geistliche Laufbahn verwehrt blieb. Beschönigend erzählt er, sein Vater Gerard habe ihn mit der Frau gezeugt, der er in jungen Jahren die Ehe versprochen habe. Margaretas Eltern hätten ihre Liebe aber nicht akzeptiert. Enttäuscht sei er nach Italien gezogen, habe sich dort nach dem Studium zum Priester weihen lassen. Dass seine Geliebte schwanger war, habe er erst später erfahren.

Langereis lässt sich von der Autofiktion nicht täuschen und weist nach, dass Erasmus, der sogar seinen drei Jahre älteren Bruder Pieter verschweigt, weit nach Gerards Italienaufenthalt gezeugt wurde und sehr wahrscheinlich 1469 auf die Welt kam. Beide Eltern starben früh. Der Makel der illegitimen Geburt blieb damit dennoch. Trotz aller moralischen Hürden gab es seinerzeit aber selbst für Priesterkinder, die eine geistliche Laufbahn anstrebten, eine pragmatische Lösung: Geld. Erasmus war bereits ein angesehener Schriftsteller, als ihm Papst Leo IX. eine Dispens erteilte und seine Abstammung kirchenjuristisch legalisierte.

Vor dem Freund, dem er sein Compendium mit der Bitte um Geheimhaltung anvertraute, findet Erasmus im Begleitbrief ehrliche Worte. Sein Leben war bedroht, hatte er doch in seinem Buch Vom freien Willen Luthers Lehre kritisiert und sich isoliert. Ihm bliebe nichts anderes übrig, „als dem ehrlichsten meiner Freunde – dir – das anzuvertrauen, was mir am liebsten ist: mein Andenken. Denn ich fürchte, dass es durch eine Menge lästerlicher Reden besudelt werden wird. Deshalb sende ich dir ein Compendium meines ganzen Lebens, oder besser gesagt, eine Ilias an Katastrophen – denn nie ist jemand unglücklicher geboren worden als ich“.

Dem genialen Pessimisten blieben zwölf Jahre, um an seiner memoria zu feilen. Rastlos verfasste er Zeile um Zeile: Apologien, Kirchenväterausgaben, Gebets-, Beicht- und Predigthandbücher. Seinem Basler Verleger Froben übertrug er die alleinigen Rechte an den neuen Schriften unter der Bedingung, dass dieser keine Luther-Werke mehr herausbrächte. Der Verleger zahlte jährlich 200 Goldstücke und kaufte seinem Bestsellerautor ein Haus mit Kamin, „sein warmes Nest“, wie Erasmus dankbar lobte. Eine Haushälterin sorgte für ihn, und Schüler, die er nach Kräften förderte, boten geistreiche Unterhaltung. Die Idylle zerbrach, als 1529 ein reformistischer Bildersturm Kirchen verwüstete und katholische Magistrate samt Bischof aus der Stadt fegte. Die reformierte Abendmahlsfeier wurde durchgesetzt, und Erasmus feierte die Heilige Messe in seinem Schlafzimmer.

Der 60-Jährige fand Asyl in Freiburg. Nach einer Zwischenlösung kaufte er ein Haus mit dem schönen Namen „Zum Kind Jesus“. Nach sechs Jahren kehrte er 1535 in sein Basel zurück, wo man inzwischen religiös abgerüstet hatte. Alt und krank arbeitete er ungebrochen weiter. Fast 450 Titel umfasst das Gesamtwerk des Lateinliebhabers. Seine sprachliche Virtuosität hatte ihm geholfen, die vielen Fehler der Vulgata zu erkennen und das Neue Testament erneut zu übersetzen. Diese vermeintliche „Hybris“ machte ihn bei vielen Theologen zum Ketzer. Posthum setzte das Konzil von Trient seine Werke, darunter das Novum Testamentum, auf die Liste verbotener Bücher, die erst 1966 abgeschafft wurde. Verwundert hätte Erasmus seine Verdammung nicht, bekannte er doch einmal: „Für zwei Parteien bin ich ein Ketzer“, für die Antilutheraner, weil er Christus Mensch sein lassen wolle, für die Luther-Befürworter, weil er Vertrauen in den freien Willen des Menschen habe.

In seinem persönlichen Testament hinterließ Erasmus Beihilfen für Arme, Kranke und Alte sowie für mittellose Mädchen im Heiratsalter und begabte klamme Studenten. Im Juni 1536 erkrankte er an der Ruhr. Als sich seine Getreuen von ihm verabschiedeten, blitzte der alte Schalk in ihm auf: „Da sind sie also, die Freunde von Hiob auf dem Misthaufen.“ In der Nacht zum 12. Juli 1536 verstummte der wortgewaltige „Wegbereiter der Aufklärung“. Seine letzten Worte enthüllen den Grund, den Antrieb und das Ziel seines Lebens als Priester, Gelehrter und Mensch: „Lieber Gott“.

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Langereis, Sandra

ERASMUSBiografie eines Freigeists

Propyläen Verlag, Berlin 2023, 976 Seiten, 59 €

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