Atemlos – geistlosIm Zeitalter der Hetze?

Fünf Schritte der Annäherung an einen schwierigen, aber aufschlussreichen aktuellen Begriff.

1. Eine sprachliche Beobachtung: „Hetze“ ist ein ausgesprochen ehrliches Wort. Beim Aussprechen gibt es bereits viel von seinem Wesen preis. Das anlautende „H“ signalisiert Atemlosigkeit. Das beschleunigte Hecheln hetzender Hunde wie das angsterfüllte Hecheln des gejagten Wildes klingen schon im Hauchlaut an, mit dem „Hetze“ anhebt. Das „tz“ in der Mitte bringt Schärfe ins Wort. Der Explosivlaut „t“ verbindet sich mit dem Zischlaut „z“. Eine ähnliche Anschärfung findet sich in der ebenfalls zweisilbigen Bezeichnung „Nazi“. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die ursprüngliche und sprachlich naheliegende Abkürzung für Konzentrationslager „KL“ war. Die heutige Sprech- und Schreibweise „KZ“ kam erst später auf, setzte sich dann aber durch, weil offenbar das zischende „z“ der schrecklichen Realität des Konzentrationslagers sprachlich gerechter wurde als das harmlose und milde „l“. Hört man auf die Vokale in „Hetze“, dann klingt nicht viel. Nur ein zweimaliges „e“, das Gegenteil eines vollen, reichen Klangs wie zum Beispiel in „Multikulturalität“.

Zur sprachgeschichtlichen Verwandtschaft von „Hetze“ gehören Worte wie „Hast“, „Hatz“, „Hass“ und „hässlich“. Das „scharfe ß“, heute „ss“, kann dabei an die Stelle des „tz“ treten.

2. Die zweifache Bedeutung: Wird von Hetze gesprochen, kann man zwei Bedeutungen unterscheiden. Einerseits gibt es eine Hetze, deren Folge Atemlosigkeit ist. Geistlosigkeit ist die Voraussetzung für soziale Hetze andererseits. Die Atemlosigkeitshetze ist leicht zu diagnostizieren. Sie betrifft nahezu alle Menschen der sogenannten westlichen Welt. Man hetzt von Termin zu Termin, von Verpflichtung zu Verpflichtung. Man hetzt zum Bahnhof, um einen Zug zu erreichen, zur Schule, zur Vorlesung, in die Arbeit, ins Geschäft usw. Dieses Hinterherhetzen gibt sich gern den Anschein großer Aktivität, wird in Wirklichkeit aber eher erlitten. Man muss hetzen, um die selbstgesteckten oder von anderen vorgegebenen Ziele zu erreichen. In dieser Zwickmühle verheißt die sprunghafte technische Entwicklung im Bereich von Kommunikation und Information eine Erleichterung. Vieles lässt sich von zuhause aus organisieren und im Zug sitzend kann man Anstehendes wie nebenbei erledigen und so Zeit sparen. Doch diese Verheißung verschleiert eine weitere, zusätzliche Form der Hetze. Das Smartphone wie der Laptop können unbemerkt zu Dämonen werden, die fristgerechte Bedienung, ständig aktualisierten Informationsstand und rasche Antworten verlangen. Nicht nur physische, auch nervliche Atemlosigkeit ist die Folge. In nicht wenigen Büros führt das erhöhte Tempo bei den Verwaltungsabläufen auch zu menschlichen Verwerfungen, und eine Hetze der anderen Art ist nicht fern.

Könnte es sein, dass atemloses Gehetztsein und geistlose Hetze zusammenhängen?

Geistlosigkeit steht am Anfang der zweiten Bedeutung von Hetze. Geistlos ist der Mensch, der seine Würde als Mensch vergisst und nicht mehr weiß, worin seine Bestimmung besteht. Mit den ersten Worten des ersten Grundgesetzartikels ausgedrückt hat jeder Mensch (unabhängig von Geschlecht, Alter, gesundheitlicher Verfassung, ethnischer Verwurzelung, kultureller Beheimatung, religiösem Bekenntnis…) eine unantastbare Würde. Diese Feststellung gilt ausnahmslos, ohne jede Einschränkung. Christlich ausgedrückt wird diese Würde von der Berufung zur Ebenbildlichkeit Gottes hergeleitet und mit einer Bestimmung verbunden: Gott zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Diesen Geist der Würde und der Liebe, die menschliches Leben ausmachen, haucht Gott dem Menschen als Lebensatem ein, wie es in unnachahmlicher biblischer Bildersprache im zweiten Schöpfungsbericht zum Ausdruck kommt (vgl. Gen 2,7). Viele Menschen leben aus diesem Geist, ohne seine Herkunft benennen zu können. Fast möchte man sagen: Besser so! Denn so laufen sie nicht Gefahr, andere belehren zu wollen oder stolz zu werden. Der Geist wirkt als Gabe, frei und allen angeboten. Genau bedacht ist dieser Geist die Würde, die den Menschen auszeichnet. Wenn ein Mensch sich diesem Geist verweigert, wird er selbst geistlos und beginnt dementsprechend auch anderen ihre Würde abzusprechen. Er sieht diese Würde nicht mehr, weil nur der Geist den Geist erkennt (vgl. 1Kor 2,11). Die Geistlosigkeit in diesem Sinn gebiert die Hetze und den Hass auf andere Menschen. Diese Missgeburt wächst sich aus zu einer Art Allergie gegen alles Andere und Fremde, gegen alles, was nicht so ist, wie ich bin. Die Folgen sind dann die bekannten: Erniedrigung, Ausgrenzung, Bedrohung, Demütigung…

Allerdings darf sich niemand sicher sein, nicht selbst unter die Macht dieses Dämons der Geistlosigkeit zu geraten. Allzu leicht stellt man Hass und soziale Hetze bei Anderen fest und übersieht, wie schnell man seinerseits die Hassenden hasst, die Ausgrenzenden ausgrenzt und die Verunglimpfenden verunglimpft. Es ist ein schmaler Grat, auf dem man geht, wenn man versucht, an der ausnahmslosen Geltung der Menschenwürde für alle festzuhalten, und gerade deswegen bestimmten Auffassungen entgegentreten muss. Man will den geistlosen Würdeverlust auf geistvolle Weise bekämpfen und dabei dennoch die unantastbare Würde des Gesprächspartners achten. Jeder, der das aus Diskussionen im Kreis von Freunden oder Verwandten kennt, weiß um diese Herausforderung.

3. Eine Frage: Könnte es sein, dass atemloses Gehetztsein und geistlose Hetze zusammenhängen? Genauer: Dass ein Ambiente ruhelosen Gehetztseins mitursächlich für die Anfälligkeit von Millionen Menschen für hetzerische Sprache und Gesinnung ist? Möglicherweise neigen Menschen, denen die Lebensstabilität in der Hetze des Alltags zu entgleiten droht, dazu, in einfachen und radikalen Lösungen vermeintlich die verlorengegangene Sicherheit wiederzufinden. In labilen, krisenhaften Situationen suchen sie einen festen Halt in Form von exklusiver Identität, nationaler Geschlossenheit und monokultureller Heimat. Die Flut von Informationen aus den neuen Medien, die hektische Art der dort praktizierten Kommunikation trägt dazu bei, dass nicht wenige den Überblick verlieren, sich nicht mehr auskennen und infolgedessen nach klaren Verhältnissen Ausschau halten. Vielleicht also hat die Sprache recht und offenbart eine ihr eigene Weisheit, wenn sie mit dem einen Wort „Hetze“ sowohl eine persönliche und gesellschaftliche Atemlosigkeit als auch das Anheizen eines Klimas der Diffamierung und Ausgrenzung beschreibt.

Möglicherweise neigen Menschen, denen die Lebensstabilität in der Hetze des Alltags zu entgleiten droht, dazu, in einfachen Lösungen vermeintlich die verlorengegangene Sicherheit wiederzufinden.

4. Keine Antwort, aber eine Erinnerung: Am Palmsonntag und am Karfreitag werden wir in den Kirchen die Leidensgeschichte Jesu lesen, eine Geschichte voller Dramatik – und voller Hetze im zweifachen Sinn. Von der Verhaftung Jesu am Ölberg bis zu seinem Tod am Kreuz sind es nur wenige Stunden, in denen alles Schlag auf Schlag vor sich geht: der Prozess vor dem Hohen Rat, die Verhandlung vor Pilatus, das Todesurteil, der Kreuzweg, die Kreuzigung. Die Hetze ist dadurch gegeben, dass Jesus noch vor dem Anbruch des Sabbats hingerichtet sein soll. Zur durch den Zeitdruck verursachten Hetze kommt eine menschliche Hetze hinzu: der Tumult bei der Verhaftung, die Agitation des Hohen Priesters beim Verhör, die Verhöhnung durch die Wächter, die Aufwiegelung der Volksmenge, die Entwürdigung durch die Folter, der Spott noch unter dem Kreuz… Also Hetze in vielen Variationen!

Wie verhält sich dazu der im zweifachen Sinn Gehetzte? Im 1. Petrusbrief findet sich eine Beschreibung der Reaktion Jesu auf die Hetze gegen ihn: „Er hat keine Sünde begangen und in seinem Mund war keine Falschheit. Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht; als er litt, drohte er nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter“ (1 Petr 2,22–23). Ausdrücklich wird dabei betont, dass dieses Verhalten beispielhaft ist. Mitten im Strudel der Hetze bleibt Jesus gegen die Hetze immun. Man könnte die zitierten Sätze auch so lesen: In seinem Mund war keine Hetze. Als gegen ihn gehetzt wurde, hetzte er nicht. Jesus bleibt im Vertrauen auf die Gerechtigkeit Gottes; ihm überlässt er sein Leben. Die sich überschlagende Hetze des Karfreitags wird besiegt durch die stille, treue und entschlossene Bereitschaft Jesu zu leiden und zu sterben; sie wird besiegt durch die heilige Ruhe des Karsamstags und den Friedensgruß des Auferstandenen am Ostermorgen.

5. Die Alternative zur Hetze: Das Beispiel Jesu wirft die Frage auf, wie der Christ, die Christin der Gegenwart inmitten der aufgehetzten Atmosphäre unserer Tage besonnen und gesammelt ein würdiges Leben führen kann. Papst Gregor der Große beschreibt mit einer schönen Formel den klugen Lebensstil des heiligen Benedikt: habitare secum – bei sich wohnen. In dieser Formel verbirgt sich das Gegengift gegen die Hetze und die Medizin für den Frieden. Der Mensch, der bei sich wohnt und mit sich eins ist, hat die Voraussetzung und das Maß für ein wahrhaft menschliches Leben im umfassenden Sinn gefunden. Er ist nicht mehr dem digitalen Beschleunigungsfuror mit seinen Suchtfolgen, Manipulationen und Zerstreuungen ausgeliefert. Er ist nicht mehr geplagt von innerer Verunsicherung und nicht mehr getrieben von nervöser Unruhe. Vielmehr ist er froh, bei sich zu wohnen und Sauerteig des Friedens und der Versöhnung für eine zerrissene Welt zu sein. Er könnte sich das große Wort der sophokleischen Antigone aneignen: „Nicht mitzuhassen, sondern mitzulieben bin ich da.“ Er übersetzt es für sich: Nicht mitzuhetzen, zu versöhnen bin ich da.

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