Perspektiven für die Kirche"Neue Formen der Zugehörigkeit finden"

Die evangelische "Digitalpfarrerin" Theresa Brückner wünscht sich moderne Gemeinden mit Toleranz und Vielfalt. Ein Interview.

CHRIST IN DER GEGENWART: Viele Gläubige sind frustriert und voller Sorge. Der gewaltige Umbruch der Kirche macht ihnen Angst. Die Zahl der Austritte liegt auf einem Rekordniveau. Es gibt weniger Pfarrpersonen, Reformverweigerung – und immer neue Missbrauchsfälle und Vertuschungen kommen ans Licht. Welche Vision gibt es da überhaupt noch für eine zukunftsfähige Kirche?

Theresa Brückner: Ich glaube, dass schon sehr lange Abschiedsprozesse laufen. Sie wurden aber zum Großteil nicht ernst genommen. Dadurch gab es keinen wirklichen, sondern nur einen zum Teil verschleppten Abschied. Ich finde, wir sind an einem Punkt, wo klar ist: So, wie es einmal war, so ist es schon lange nicht mehr und so wird es auch nie wieder sein. Wenn man das realistisch annimmt, an jedem Ort, in jeder Kirchengemeinde bis hin zu den kirchenleitenden, obersten Gremien, dann gehe ich fest davon aus, dass die Kirche zukunftsfähig sein kann.

Sie bezeichnen sich in Ihrem Buch als „Wegbegleiterin einer Kirche, die sich verändert“, und betonen, Sie wollen „Veränderungen gestalten“ und nicht den Untergang verwalten. Wie kann es gelingen, dabei allen Generationen von Glaubenden gerecht zu werden?

Wir sollten uns auf diejenigen konzentrieren, die in den letzten Jahren nicht so gehört wurden. Ich sehe das Problem, dass es oftmals an nahe beieinanderliegenden Orten sehr ähnliche oder ganz identische Angebote gibt. Oft wird noch vom Gottesdienst am Sonntagmorgen ausgegangen oder der Schwerpunkt liegt auf der Kirchenmusik. Dadurch gibt es wenig Vielfalt oder Verschiedenheit. Menschen in kirchenleitenden Positionen müssen außerdem ernst nehmen, was die Generationen nach ihnen sagen, und es muss wahrgenommen werden, was in zehn Jahren bedeutend ist. Entscheidungen müssen nachhaltig, solidarisch und auf die Zukunft gerichtet sein.

Viele finden Kirche altbacken. Warum braucht es ein Gespür für Offenheit und eine Willkommenskultur?

Weil wir uns die letzten Jahre größtenteils immer nur binnenkirchlich mit uns selbst befasst haben. Wir sprechen eine Sprache, die Menschen verstehen, die schon lange in die Kirche gehen. Wenn aber jemand neu dazukommt – das muss jetzt nicht gleich heißen, dass diese Person direkt Kirchenmitglied wird –, muss klar verständlich sein, was Kirche oder Gemeinde ausmacht.

Sollte in der Kirche über Konzepte von Mitgliedschaft oder besser gesagt Zugehörigkeit neu nachgedacht werden?

Hundert Prozent. Und was auch in den Blick genommen werden muss: Die einzige Möglichkeit, Kirchenmitglied zu werden, ist derzeit die Taufe. Das ist ein Konzept, das aus meiner Sicht nicht mehr funktioniert. Denn für viele ist die Taufe der Abschluss eines Beschäftigungsprozesses mit Gott, der Gemeinde oder der Kirche. Wir müssen überlegen, wie unsere bürokratischen Strukturen so funktionieren, dass Menschen sich mit Kirche anfreunden oder sich zugehörig fühlen können – auch ohne ausdrückliche Taufe. Es braucht auch andere Formen der Mitgliedschaft.

Bedarf es dann auch zeitgemäßerer Formen von Gottesdienst?

In der Bibel, in Römer 12,1 heißt es: Das ganze Leben soll ein Gottesdienst sein. Ich finde, nach dieser Definition können wir offener damit umgehen, dass Gottesdienst nicht einzig und allein die Feier am Sonntagmorgen ist. Eine Form von Gottesdienst ist zum Beispiel auch, wenn die Tafel Nahrungsmittel ausgibt oder die Sozialsprechstunde stattfindet. Menschen machen das, weil sie in Nächstenliebe handeln und andere unterstützen wollen. Wir müssen ausstrahlen, was Christentum und christliches Leben bedeuten: Gott begegnet den Menschen in Würde und Liebe. Das bedeutet für mich auch, zu den Menschen zu gehen. Wir müssen als Kirche schauen, wo wir für Menschen da sein können, und uns klar und deutlich politisch oder im Sozialgefüge positionieren.

Gibt es für Sie keinen Unterschied mehr zwischen Gottesdienstbesuchen im Digitalen und einer Kirche vor Ort?

Für mich stellt sich diese Frage nicht mehr. Seit vier Jahren feiern wir mittlerweile über Zoom digitale Abendmahlsgottesdienste mit dem Namen Brot & Liebe. Eine Gemeinde hat sich gefunden, zu der immer wieder neue Teilnehmende dazukommen. Die Hemmschwelle ist niedriger als für das Betreten eines Kirchenraums. Glaubende können sich einfach dazuschalten. Das ist für mich synonym zu einem Gottesdienst vor Ort. Natürlich hat jedes Format seine Schwerpunkte oder seine Ästhetik. Das hat auch jeder Gottesdienst in einer speziellen Kirche oder Gemeinde. Es ist immer abhängig von dem Ort und den Personen, die den Gottesdienst gestalten.

Inwieweit erleben Sie durch Ihre Arbeit als „Digitalpfarrerin“ unter anderem auf Instagram unter @theresaliebt eine Neugierde auf Glauben und Kirche?

Ich bin oft mit Menschen in Kontakt, die entweder sehr negative Erfahrungen mit Kirche gemacht haben oder keinen Bezug zu ihrer Gemeinde vor Ort haben. Andere bitten um Rat. Manche sind gut gemeindlich angebunden, suchen aber zusätzlich digitale Angebote. Ein Vorteil des digitalen Raums ist, dass er Menschen Schutz bietet. Zum Beispiel haben queere Glaubende in den Gemeinden nicht immer das Gefühl, ihren Schutzraum zu haben. Im Digitalen, auf Social Media, können sie diesen unabhängig vom Wohnort finden.

Sie schildern in beeindruckender Offenheit Ihre persönlichen Erfahrungen – seien es Selbstzweifel als Pfarrerin, Diskriminierungen, Sexismus oder patriarchale Muster. Hatte es etwas Befreiendes, sich das alles auch einmal von der Seele schreiben zu können?

Das Schreiben löst immer Prozesse aus. Es war schön zu wissen, dass diese abgeschlossen sind und ich darüber sprechen kann. Beim Schreiben im letzten Jahr habe ich gemerkt, welchen Prozess das Thema sexualisierte Gewalt bei mir nochmals ausgelöst hat, was ich an Erfahrungen selbst auch noch nicht verarbeitet habe. Das Kapitel in meinem Buch dazu habe ich lange vor mir hergeschoben und war sehr nervös, wie es aufgenommen wird. Kurz vor Veröffentlichung meines Buches erschien die ForuM-Studie. Darin gibt es wissenschaftliche Belege, wonach die Kirche und speziell auch protestantische Strukturen Machtmissbrauch begünstigen. Ich bin sehr froh, dass dieses Thema jetzt in derartiger Breite und wissenschaftlich belegt Raum bekommt, weil es Raum bekommen muss.

Wenn Sie fünf Wünsche frei formulieren könnten: Wie würde dann die Kirche in 20 Jahren aussehen?

Kleiner, beweglicher, paritätisch besetzt in den Leitungspositionen, offener in den Strukturen und nicht mehr so verhaftet in dem, was einmal war.

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