Antijudaismus, Antisemitismus und ihre Ursprünge Glaube und Judenhass

Der Theologe Michael Meyer-Blanck sorgt für wichtige Klarstellungen inmitten verwirrender Debatten.

Je emotionaler die öffentlichen Debatten werden, desto mehr verlieren die zentralen Begriffe an Klarheit und Erkenntniswert. Das gilt für den Rassismus-Vorwurf, der manchen so schnell über die Lippen kommt wie anderen der Generalverdacht von staatlicher Mediensteuerung und Genderzwang.

Mitten in dieser Verbalschlacht um Begriffe – ja, so wirkt in der Tat manche Talkshow oder öffentliche Diskussion – steht der Begriff Antisemitismus. Dies gilt insbesondere seit dem 7. Oktober 2023, wobei die Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden oftmals der blinde Fleck der aufgeregten Debatten und Demonstrationen ist. Denn nach dem brutalen Angriff auf jüdisches Leben in Israel haben die Auseinandersetzungen nicht nur in Deutschland bisweilen groteske Züge angenommen: In einer merkwürdigen Täter-Opfer-Umkehr wird denjenigen, die Jüdinnen und Juden in Schutz nehmen, der Vorwurf der Islamophobie gemacht, der von Boykottaufrufen und Apartheidsvorwürfen gegen Israel begleitet wird. Darin sehen wiederum viele einen latenten Antisemitismus, wie die Debatten des vergangenen Jahres um die Documenta oder jüngst um die Berlinale zeigen. Höchste Zeit also, in nüchterner Analyse den Ursachen des Antisemitismus auf den Grund zu gehen!

Im späten 19. Jahrhundert beruhigten sich liberale und fortschrittliche Eliten in Deutschland mit der Vorstellung, dass Antisemitismus ein Phänomen der ungebildeten Unterschicht sei – und ausnahmsweise zitierte man in diesen Kreisen August Bebel und sein Wort vom Antisemitismus als dem „Sozialismus der dummen Kerls“. Die Debattenbeiträge unserer Tage belehren uns eines Schlechteren. Denn „die Unfähigkeit, den eigenen Hass zu reflektieren, findet sich vor allem bei den sogenannten Eliten“, schrieb die Publizistin Juna Grossmann in ihrem 2018 erschienenen Buch Schonzeit vorbei. Über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus. Das war sogar noch einige Jahre vor der peinlichen Selbstentblößung eines Richard David Precht, der in einem Podcast sagte, ihre Religion verbiete es orthodoxen Juden zu arbeiten – „ein paar Sachen wie Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen“. Seine Aussage über „die Juden“ mag vielleicht keinem Hass entsprungen sein, wie Precht beteuert. Doch auch wenn es „nur“ um die unreflektierte Tradierung antijüdischer Stereotype geht, macht das die Sache nicht besser.

Christinnen und Christen
haben eine besondere
Verantwortung, jeglicher
Ablehnung jüdischen
Lebens entschieden
entgegenzutreten.

Helfen kann aus christlicher Perspektive, in nüchterner Selbstreflexion das Phänomen des Antisemitismus und seiner Wurzeln zu analysieren. Ja, Selbst-Reflexion! Denn anders als die vor einigen Jahren erschienene Kurze Geschichte des Antisemitismus von Peter Schäfer, der sich dem Phänomen historisch näherte, legt der evangelische Religionspädagoge Michael Mayer-Blanck nun eine theologische Studie über den Zusammenhang von Glaube und Hass vor, die den programmatischen Untertitel Antisemitismus im Christentum trägt. Der Autor, der Professor an der Berliner Humboldt-Universität war, lässt keinen Zweifel daran, dass die der Selbstberuhigung dienende Unterscheidung zwischen christlichem Antijudaismus und dem mörderisch-rassistischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts eine Illusion ist: Letzterer ging aus Ersterem hervor, und die Übergänge sind fließend – was die Verantwortung der christlichen Theologie in den Vordergrund rückt.

Christliche Selbst-Reflexion heißt indes nicht Selbstanklage; Michael Meyer-Blanck zeigt – insbesondere im zweiten Kapitel Faules Denken: Zur Genese antijudaistischer und antisemitischer Strukturen in der evangelischen Theologie – mit großer Sorgfalt die „Fallstricke reformatorischer Theologie“. Diese bestehen beispielsweise darin, dass sich Luthers gegen den Katholizismus seiner Zeit gerichtete These, nur durch die Schrift, nur durch den Glauben und nur durch Gnade werde der Mensch vor Gott gerecht, mit nur wenigen Winkelzügen auch zur Abwertung der jüdischen Tradition und der biblischen Tora ummünzen ließ und umgemünzt wurde.

Mit der gleichen Intention geht der Autor in diesem Kapitel der Frage nach, „wie man Paulus falsch verstehen kann“ und warum Martin Luthers Spätschrift Von den Juden und ihren Lügen „eine hermeneutische Hypothek des evangelischen Glaubens“ ist. Denn Luthers Äußerungen waren geeignet, von den Nationalsozialisten aufgegriffen und in deren eigenem – nämlich rassistischem – Sinne zitiert zu werden. Aber es geht nicht nur um eine Hypothek des Glaubens: In einem der folgenden Unterkapitel analysiert Michael Meyer-Blanck mit ebenso scharfer Analytik das säkulare Erbe des Protestantismus – nämlich die Aufklärung und ihren Antijudaismus. Immanuel Kants judenkritische Zuspitzung bei seiner Rede von der „christlichen Vernunftreligion“ trägt demnach sicherlich einen ebenso gewichtigen Anteil an der Ausgrenzung der Juden wie Friedrich Schleiermachers Rede Über die Religion, in der er den „Judaismus als eine schon lange tote Religion“ bezeichnet und vor diesem Hintergrund „die ursprüngliche Anschauung des Christentums“ als „herrlicher, erhabener und der erwachsenen Menschheit würdiger“ bezeichnet.

Nicht zuletzt an Schleiermachers Bild von Jüdinnen und Juden wird deutlich, dass das Fortschrittsparadigma in der Tat kompatibel mit der kollektiven Stigmatisierung einer ganzen Menschengruppe wird. Von da aus war es dann nicht mehr weit zu den Ausdehnungen des Sagbaren im Berliner Antisemitismusstreit, in dem der Historiker Heinrich von Treitschke den fatalen Satz prägte, die Juden seien „unser Unglück“. Dabei wird deutlich, wie sehr der Antisemitismus dazu diente, das Identitätsgefühl einer verspäteten Nation zu stärken: Treitschkes „unser“ bezieht sich längst nicht mehr, wie noch ein Jahrhundert zuvor, auf eine christliche, sondern vielmehr auf eine nationale Identität. Dass es der protestantischen Theologie nicht gelungen ist, das Christliche vom Nationalen zu trennen, bzw. dass es erst unter dem Eindruck größter Verbrechen gelungen ist, sich als Bekennende Kirche zu definieren, wird an Meyer-Blancks Studie sehr deutlich. Genauso führt er die Tatsache vor Augen, dass der schon im Namen implizierte Supra-Nationalismus der katholischen Kirche und ihrer Theologie ebenfalls keine Garantie war, den Fallstricken der Judengegnerschaft, ja der Judenfeindschaft zu entkommen: In einem Exkurs (Ein Seitenblick: Römisch-Katholische Kirche und Judentum) erinnert der Autor daran, dass es erst die Konzilserklärung Nostra Aetate von 1965 war, die den Bruch mit dem traditionellen Antijudaismus und der Karfreitagsbitte für die „perfiden Juden“ markierte.

Der stringente Aufbau dieses durch die Klarheit seiner Darstellung und die überzeugende Argumentation beeindruckenden Buchs lässt keinen Zweifel daran, dass Christinnen und Christen eine besondere Verantwortung haben, jeglicher Ablehnung jüdischen Lebens entschieden entgegenzutreten – eben weil die eigene Tradition schwere Versäumnisse kennt. Und daher ist gerade das 3. Kapitel Der Jude Jesus Christus: Christlicher Glaube im Angesicht Israels so wichtig. Hier zeigt der Autor, dass und inwiefern christlicher Glaube seine ganze Strahlkraft erst entwickelt, wenn er sich seiner jüdischen Wurzel erinnert. Aber eben nicht als deren „Überwinder“, sondern als anderer Zugang zu den gleichen Fragen und den gleichen Verheißungen – und zu einem Glauben, der mit der kollektiven Stigmatisierung anderer Menschen unvereinbar ist. Gegen Ende des Buchs schreibt Michael Meyer-Blanck: „Wer den Juden Jesus kennt, kann überhaupt nicht missgünstig und verächtlich gegenüber anderen Menschen sein. Wer sich an ihm orientiert, lernt Demut (Mt 11,29), und wer an ihn glaubt, wird niemanden diskriminieren – und wer glaubt, kann niemals Antisemit sein.“

Diese klare und optimistische Sicht steht indes in einer letztlich unauflöslichen Spannung mit der nicht weniger stringenten Auseinandersetzung des jüdischen Publizisten Micha Brumlik mit dem Johannesevangelium: Der verstörende Satz „Ihr habt den Teufel zum Vater“ (Joh 8,44), den Jesus zu den ehemals an ihn glaubenden Juden gesagt habe, ist für Brumlik das Symptom dafür, „dass das ‚eigentlich‘ Christliche nicht nur nicht-jüdisch, sondern sogar anti-jüdisch“ sei.

Diese Spannung zu erkennen, ist Teil der Selbst-Erkenntnis christlicher Identität. Sie auszuhalten gehört zu den großen Herausforderungen, die das Christentum den Gläubigen abverlangt. Die gerade in der Vor-Osterzeit und besonders in Aufführungen der Matthäus- oder Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs thematisierte Frage nach der Schuld am Tode Jesu ist eine Gelegenheit, sich dies einmal mehr vor Augen zu führen. Dass die christliche Passion niemals vom jüdischen Pessach zu trennen ist, ist nur eine unter vielen Einsichten, an welche Michael Meyer-Blancks Buch über den Antisemitismus im Christentum eindrucksvoll erinnert.

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Meyer-Blanck, Michael

GLAUBE UND HASSAntisemitismus im Christentum

Mohr Siebeck, Tübingen 2024, 338 Seiten, 29 €

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