Zum Tod von Gottfried Böhm (gest. 9. Juni 2021)Mehr Einsatz, bitte! - Gottfried Böhm und die Kirchen von heute

Wie die Kirche mit ihren Gebäuden umgeht, ist Spiegel der jeweiligen Zeit. Heute wird schnell über Unwirtschaftlichkeit von Gotteshäusern geklagt, geht es um Umnutzung oder gar Abriss. Die Kreativität und Experimentierfreude eines Gottfried Böhm fehlen.

Aus dem Archiv anlässlich des Todes des Architekten Gottfried Böhm (* 23. Januar 1920 in Offenbach am Main; † 9. Juni 2021 in Köln)

Auf Kriegsruinen ließ er in Köln einen Ort des Gebets und des Gedenkens erstehen: „Madonna in den Trümmern“. Mit spektakulären Gewölben und Glaswänden holte er ein ums andere Mal den Himmel auf die Erde, in Velbert oder Neuss-Gnadental etwa. Und bei seinem zentralen Werk, dem Mariendom in Neviges, schuf er einen zerklüfteten „Gottesberg“ aus Beton – beziehungsweise eine schützende Burg, je nachdem, was man darin sehen will. Gottfried Böhm, der soeben hundert Jahre alt geworden ist, hat wie kaum ein anderer den zeitgenössischen Kirchenbau in Deutschland geprägt. Er ist die zentrale Persönlichkeit einer großen Architektenfamilie: Sein Vater war der berühmte Dominikus Böhm (1880–1955), der zwischen den zwanziger und fünfziger Jahren wegweisende Kirchen der Moderne entworfen hat. Seine Frau Elisabeth war Architektin, auch die Söhne Stephan, Peter und Paul gingen diesen Weg.

Die Kirchen Gottfried Böhms rühren einen heute noch an. Sie machen etwas mit dem Besucher. Zugleich – und das ist kein Widerspruch – spürt man, dass sie doch in einer anderen Zeit errichtet wurden. Sie strahlen einen Geist, eine Haltung aus, die man heute schmerzlich vermisst. Diese Kirchen „wollten“ etwas, sie wiesen nach vorne, hatten der Aufbruchsstimmung rund um das Zweite Vatikanische Konzil eine Form gegeben. Die erneuerte Liturgie, die tätige Teilnahme der Gläubigen, das stärkere geschwisterliche Miteinander… Alles schmeckte nach Zukunft. „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen“, erinnerte sich Gottfried Böhm in einem aktuellen Interview. „Ich habe ja noch erlebt, dass Kirchen immer zu klein waren und die Gemeinden mehr Platz wollten.“

Einst für die Zukunft gebaut

So wie damals im Gottesdienst und im kirchlichen Alltag experimentiert wurde, arbeitete auch der Baumeister aus dem Rheinland mit neuen Materialien, Formen und Raumkonzepten. Die Kirche damals scheint im Rückblick viel offener und optimistischer gewesen zu sein, auch als Bauherrin. „Dass die das so mitgemacht haben…“, überlegt der Architekt heute. „Auch im Zelebrieren, im Umgang mit den Gläubigen, war das anders auf einmal, das war schon toll und angenehm.“

Im selben Maß wie sie einst die Zukunft verkörperten, sind Gottfried Böhms Gotteshäuser inzwischen auch zum Symbol für den kirchlichen Bedeutungsverlust und Rückzug geworden. Sein Lieblingsmaterial Beton, einst als neuer sakraler Werkstoff gefeiert, hat sich teilweise als sanierungsbedürftig herausgestellt. Das zeigt sich insbesondere am Mariendom von Neviges, wo unter anderem durch Risse im Dach Wasser eingedrungen ist. So anregend diese Kirche ästhetisch auch ist, so wenig nachhaltig scheint sie als Bau zu sein, wenn man heute schon wieder Hand anlegen muss. Gottfrieds Sohn Peter leitet die derzeit laufende umfassende Instandsetzung (vgl. CIG Nr. 40/2019, S. 433). Hinzu kommt: Viele von Böhms Kirchen aus den letzten Jahrzehnten werden für den Gottesdienst nicht mehr benötigt. Es fehlt schlicht an Gläubigen. Den Abriss einer „seiner“ Kirchen mitzuerleben, das wäre hart, räumte der Architekt unlängst ein. Immerhin das ist ihm erspart geblieben. Doch eine Umnutzung gibt es bereits: Sankt Ursula in Hürth-Kalscheuren wurde 2006 profaniert. Als sogenannte Böhm Chapel ist sie heute ein privater Ausstellungsort für moderne Kunst.

Wo Kirche war, ist Supermarkt

Der runde Geburtstag Gottfried Böhms gibt Anlass, grundsätzlich zu fragen: Wie geht die Kirche mit ihren Gebäuden um? Was wird aus der Kirche im Dorf, im Stadtteil? Das ist ja zur Redewendung geworden, weil es nicht nur unsere Ortsbilder, sondern auch unsere Kultur geprägt hat. Wie also geht es weiter mit den Kirchen? Neue Gotteshäuser entstehen fast keine mehr. Selbst in frisch erschlossenen Quartieren – die Städte wachsen ja weiter – wird meist nur ein „Kirchenladen“ oder ein ökumenischer, vielleicht sogar interreligiöser Treffpunkt eingerichtet.

Und die bestehenden Kirchen? Werden zuerst leerer, dann zum Teil überflüssig. Künstlich beschleunigt wird diese Entwicklung dadurch, dass man katholischerseits nach wie vor an dem „Dogma“ festhält, wonach nur ein Priester alleiniger Gemeindeleiter sein kann – und dass nur ein Mann Priester werden darf, zudem nur einer, der das Kriterium der Ehelosigkeit erfüllt. Vor diesem Hintergrund werden immer größere Pfarreien geschaffen, das Leben „vor Ort“ selbstverschuldet ausgedünnt. Weil zudem selbst der hiesigen Kirche in absehbarer Zeit das große Geld ausgeht, wird man – selbst wenn man wollte – bei weitem nicht alle Gebäude instand halten können. Man sei zu einer „Überprüfung des Bestandes“ gezwungen, hieß es 2003 in schönstem Beratersprech in einer „Arbeitshilfe“ der deutschen Bischofskonferenz. Damals gelangte das Problem erstmals ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit.

Etliche Gotteshäuser wurden seither abgerissen, in den allermeisten Fällen solche aus der Nachkriegszeit. Als eine der ersten traf es 2005 Sankt Raphael in Berlin-Gatow, die ebenfalls nach Plänen eines großen Kirchenbauers der Moderne errichtet worden war, Rudolf Schwarz (1897–1961). Heute steht dort ein Supermarkt. Seit der Jahrtausendwende sind mehr als 140 Gotteshäuser auf diese Weise verschwunden, recherchierte das Portal „katholisch.de“. „Wir stehen in dieser Entwicklung erst am Anfang“, kommentierte der Bonner Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards diese Zahlen. „Wenn sich kein Umdenken einstellt, ist für die kommenden Jahre ein starker Anstieg von Abrissen absehbar.“

Noch häufiger sind Profanierungen und neue Nutzungen. Kirchen werden entwidmet und zu Wohnhäusern, Büros, Turnhallen umgewandelt. In manchen werden Urnengräber eingerichtet. Dass Gotteshäuser, wie gelegentlich schon der Fall, sogar zur Kneipe oder zum Restaurant werden, solle man verhindern, hat vor gut einem Jahr eine Konferenz an der päpstlichen Universität Gregoriana festgehalten. Ja, die Teilnehmer gingen sogar noch weiter. Sie lehnten „kommerzielle Nachnutzungen spekulativer Art“ grundsätzlich ab. Damit ist wohl der Umbau zu (Luxus-)Immobilien genauso gemeint wie der Einzug von Gasthäusern, von Rotlicht-Betrieben sowieso. Ob bei einer strengen Lesart wohl alle Firmen, die Gewinn erzielen wollen – und welche müssen das nicht? – unter das Verbot fallen? Jedenfalls stellt die Abschlusserklärung der Konferenz klar: Wenn schon Umnutzung, dann soll es um kulturelle oder soziale Zwecke gehen. Museen, Buchhandlungen oder Kunstwerkstätten könne man sich vorstellen oder Begegnungszentren, caritative Einrichtungen. Ausdrücklich genannt werden „Tafeln für die Armen“. Allenfalls „für Gebäude von geringerem architektonischen Wert kann die Umwandlung in Privatwohnungen zugelassen werden“.

Der unverfügbare heilige Ort

Insgesamt liest sich das Dokument wie ein großes Werben. Die Verantwortlichen vor Ort sollen nichts unversucht lassen, jede Kirche weiter zu nutzen. Und dabei ist auch, bitteschön, mehr Kreativität gefragt. Hat man wirklich alle Alternativen zum Verkauf oder gar zum Abriss durchdacht? Wen könnte man noch ins Boot holen, um die Kirche zu retten? Ehrenamtlich Engagierte? Denkmalschutz? Tourismusverbände? Andere Konfessionen? Schließlich sei der Erhalt einer Kirche „nicht auf technische oder finanzielle Daten reduzierbar“, heißt es in dem Dokument. Ein Gotteshaus habe eine „evangelisierende Lesbarkeit“, die auch dann erhalten bleibe, wenn dort nicht mehr regelmäßig Liturgie gefeiert wird, wenn es in den smarten Pastoralkonzepten nicht mehr vorkommt.

Dahinter scheint die Erfahrung zu stehen, dass sich Verantwortliche in den Diözesen heute allzu schnell der vorherrschenden Erzählung des kirchlichen „Immer weniger“ ergeben. Womöglich vertrauen sie sogar den Einflüsterungen von Unternehmensberatern, die längst auch Bistumsverwaltungen auf Wirtschaftlichkeit hin trimmen. Aber ist das wirklich alternativlos? Oder entscheidet man sich vielleicht doch zu schnell für einen Verkauf oder einen Abriss, weil es eben einfach unserer Zeit entspricht? Weil sich überzählige Kirchen nicht direkt „rechnen“, weil sie nicht effizient sind? So gesehen wäre der heutige pragmatische, marktkonforme Umgang mit Gotteshäusern eben der Spiegel unserer Epoche.

Dies sieht auch Albert Gerhards so. Der Liturgiewissenschaftler ist Sprecher einer neuen Forschungsgruppe, die sich mit „Sakralraumtransformation“ auseinandersetzt. In den nächsten Jahren sollen Kriterien erarbeitet werden, damit die Kirchengebäude in ihrer Integrität erhalten bleiben. Dabei gehe es „nicht um konservatorische Unveränderlichkeit, sondern um Identität im Wandel“. Gerhards spricht ausdrücklich von Transformation und von den Potenzialen, die Kirchen haben – selbst oder gerade wenn sie nicht mehr für den Gottesdienst genutzt werden. Das ist eine ganz andere, positive Haltung als das verzagte Rückzugsdenken, das vielerorts anzutreffen ist.

In einem Beitrag in der Zeitschrift „Ökumenische Rundschau“ wurde Gerhards vor gut einem Jahr noch deutlicher. Es sei falsch, wenn Kirchengebäude in den Neustrukturierungskonzepten für die Seelsorge „in erster Linie als schwer zu vermarktender Immobilienbestand und folglich als Hindernis einer großräumigen Neuplanung“ angesehen werden. Statt einer „Umnutzungsdebatte“ solle man eine „Nutzungsdebatte“ führen. Kirchengemeinden sollten keine „Steigbügelhalter für kommerzielle Nachnutzer“ sein.

Oft sehen Beobachter von außen klarer, welchen Schatz die Kirchen mit ihren Gebäuden haben. Gerhards verweist etwa auf den Schweizer Architekten Mario Botta, der bewusst und gern auch Kirchen und Kapellen gebaut hat, darunter sehr bedeutende. Wie viele seiner Kollegen habe Botta ein „Gespür für die Besonderheit ‚heiliger Orte‘ im Sinne des Transzendenten, Unverfügbaren und nicht kommerziellen Zwecken Unterworfenen“. Gerhards sieht ganz allgemein eine Zunahme dieser „Sehnsucht nach Orten des Unendlichen“. „Die Wertschätzung dieser Orte wird nicht nur von denen geteilt, die sowieso zur Kirche gehen oder wenigstens Kirchensteuer zahlen, sondern auch – oder sogar in besonderem Maß – von Menschen unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen, die nicht kirchlich oder religiös gebunden sind.“ Diese Beobachtung lässt sich beim Besuch von Kirchen außerhalb der Gottesdienstzeiten vielerorts machen (vgl. Kommentar in CIG Nr. 2). Eine aktuelle Bilanz des Förderkreises Alte Kirchen Berlin-Brandenburg, der in den letzten Jahren rund achtzig Prozent der 1400 Dorfkirchen im Osten instand gesetzt hat, bestätigt: Diese Kirchen werden immer seltener für den Gottesdienst genutzt, stattdessen für Konzerte und andere kulturelle Veranstaltungen.

Auch Albert Gerhards erinnert daran, dass die „hohen Potenziale“ umgenutzter Kirchen „weitaus mehr Menschen zugutekommen könnten, als man mit den klassischen Angeboten erreicht“. Diese Gebäude könnten „der Sendung der Kirche möglicherweise mehr dienen als mancher Kirchenraum, der nur gelegentlich für eine Messfeier aufgesperrt wird“. Deshalb sei es „unsinnig“, diese Kirchen aufzugeben, „nur weil sie für gegenwärtige Gemeindebedürfnisse nicht mehr gebraucht werden“. Interessanterweise wachse dieses Bewusstsein für die Besonderheit des kirchlichen Raums gerade in der evangelischen Kirche, die traditionell ein eher neutrales Verhältnis zu ihren Gebäuden hatte. Doch heute würden gerade evangelische Kirchen „wieder entdeckt, geöffnet und als besondere Orte vermittelt“.

Auch scheinbar nicht mehr benötigte Kirchen sollten als Leerraum, Spielraum und Zwischenraum erschlossen werden. Was da alles möglich ist, erzählt die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „Das Münster“. Sie steht unter dem programmatischen Titel „Kirche baut weiter“ und zeigt Beispiele, wie etwa in alten, „zu großen“ Kirchen die Altarräume neu gestaltet wurden, damit sie wieder zu den kleineren Gemeinden passen. Die dokumentierten Arbeiten sind gelungen, könnten insgesamt aber noch mutiger sein. Albert Gerhards bringt unter anderem Kunstkirchen, Kulturkirchen, Jugendkirchen, Citykirchen ins Gespräch. Auch geteilte Nutzungen bis hin zu integrativen Wohnprojekten seien in Kirchen denkbar. Gerhards räumt ein, dass es „sicher riskanter“ sei, einen Kirchenraum zu öffnen, als ihn zuzuschließen. Aber es ist eben auch lohnender. Kirche sollte sich nicht mit der kleinsten, einfachsten, nächstliegenden Lösung zufriedengeben, sondern sich dafür einsetzen, „die transzendenten Dimensionen des Raums zu wahren“. „Mit einer Profanierungsfeier und einem Kaufvertrag ist die Kirche noch nicht aus dem Schneider. Gerade jetzt wäre ihr Interesse gefragt, ihr Dazwischensein im Zwischenraum von Himmel und Erde, Gott und Welt, und zwar um des Menschen willen.“

Ein prächtiger neuer Bildband mit mehr als 300 Fotos zeigt alle „Sakralbauten der Architektenfamilie Böhm“ (Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2019, 480 S., 110 €).

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