Buch von Manfred LützWiedergelesen: das Christentum in seiner Geschichte

Manfred Lütz schreibt eine Verteidigung des Christentums – und verkleidet sie als Skandalgeschichte.

Christentumsgeschichte kann langweilig sein, vor allem wenn der Autor meint, die Kirchen unaufhörlich rechtfertigen und entschuldigen zu müssen. Man legt dann das Buch schnell beiseite, denn man weiß den Ausgang schon.

Langweilig ist Manfred Lütz’ Buch „Der Skandal der Skandale“ nicht. Dafür ist der Verfasser – Psychotherapeut, Theologe, Bestsellerautor – ein zu erfahrener Schreiber. Seine „geheime Geschichte des Christentums“ wartet Kapitel für Kapitel, ja beinahe Seite für Seite mit kleineren oder größeren Provokationen auf. Die größte liegt im Titel des Buches, der die Geschichte des Christentums als Skandalgeschichte präsentiert – und sie liegt zugleich im ersten Satz des Vorworts, der das Christentum „die unbekannteste Religion der westlichen Welt“ nennt, weil – so die Begründung – viele Meinungen über sie zwar „grotesk falsch“ sind, sich aber einer breiten, fast kanonischen Geltung in weiten Kreisen erfreuen.

Der gerechtfertigte Index

Diese Meinungen will Lütz nun in zwölf Kapiteln auf 286 Seiten – ein handliches Format – widerlegen. Er stützt sich dabei auf zahlreiche Autoritäten, die er mit dem Namen, manchmal auch dem Hauptwerk, anführt. Sein Hauptzeuge ist der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt, dessen Werk „Toleranz und Gewalt“ (Aschendorff 2007) Lütz „einer breiteren Öffentlichkeit in lesbarerer Form zugänglich“ machen will; gewisse Texte aus diesem Werk sind freilich laut Vorbemerkung „völlig neu zusammengestellt“.

Der Verfasser will nicht den Weg der alten Apologien gehen. Er schlägt neue, auch selbstkritische Töne an. Ausdrücklich wird am Ende des Buches das Schuldbekenntnis Papst Johannes Pauls II. vom 12. März 2000 zitiert und in eine Linie mit Martin Luthers Sündenbewusstsein gestellt; auch Papst Franziskus kommt zu Wort mit seiner Bitte um das Gebet der Gläubigen und seinem Bekenntnis, auch der Papst sei ein Sünder.

So bilden den Schwerpunkt zunächst Berichtigungen und Klarstellungen. Vieles, was Lütz bezüglich der Kreuzzüge, der mittelalterlichen Ketzerverfolgung, der Inquisition, der Hexenverfolgungen anführt, ist gut belegt. Die „Entskandalisierung“ der klassischen Kirchenskandale hat ja schon vor Jahrzehnten begonnen, und es waren oft erklärte Agnostiker, keineswegs apologetisch gestimmte Kirchenleute, die hier vorangingen. Auch bezüglich der Reizthemen Christen und Nationalsozialismus, Antijudaismus, Frauenemanzipation, Zölibat, Missbrauch ist der Verfasser um eine ausgewogene Darstellung bemüht. Über Papst Pius XII., den „Stellvertreter“, wagt er den Satz: „Papst Pius XII. war ein sensibler Intellektueller, den die tragische Aufgabe überforderte, der er ausgesetzt war.“ Und zum Thema Frau in der Kirche bemerkt er: „Frauen akzeptieren es nicht mehr, prinzipiell, nur weil sie Frauen sind, von Macht ausgeschlossen zu sein. Tatsächlich sind die Machtpositionen in der katholischen Kirche immer noch fast alle in Männerhand.“

Lütz will kein engstirniger beschönigender Apologet sein. Er benutzt das Skandalträchtige der Kirchengeschichte gleichsam als Rauhfaser beim Erzählen seiner Geschichte. An nicht wenigen Stellen fällt er dann aber doch in Einseitigkeiten, ins Überpointieren oder ins Verharmlosen zurück. So fragt er zum Beispiel im Anschluss an den Kirchenhistoriker Hubert Wolf, ob nicht Inquisition und Indexkongregation auch dazu beigetragen hätten, die moderne Naturwissenschaft von Astrologie, Naturalismus und Okkultismus zu reinigen. Das mag gewiss so sein. Aber kann diese nützliche Nebenwirkung den Index im Ganzen rechtfertigen, diese große Brandmauer gegen die Moderne (nicht nur René Descartes, John Locke und Immanuel Kant wurden indiziert, sondern auch wesentliche Teile der schönen Literatur Europas von Daniel Defoe und Jonathan Swift bis zu Stendhal, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert)? Lütz bestreitet auch die „hinhaltende Totalopposition“ der Kirche gegen die Menschenrechte. Da er jedoch die überaus deutlichen einschlägigen päpstlichen Äußerungen („absurd“, „sinnlos“, „seuchenartiger Irrtum“, „Wahnsinn“) nicht bestreiten kann, weicht er aus in die Genealogie der Menschenrechte: Hier kann er in der Tat auf den Gedanken der Gleichheit vor Gott, auf den Begriff Menschheit und auf die Überwindung der Sklaverei in christlichen Zeiten hinweisen. Das setzt aber das Erstgeburtsrecht der Aufklärung bezüglich der Erklärung der Menschenrechte nicht außer Kraft. Die Menschenrechtsbewegung musste lange Zeit gegen die Kirchen – keineswegs nur die katholische! – ankämpfen, welche ihre Opposition erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endgültig aufgaben. Speziell um die Religionsfreiheit wurde katholischerseits noch im Zweiten Vatikanum heftig gerungen – und das endlich erreichte positive Ergebnis hat, wie bekannt, zu einem Schisma, einer Kirchenspaltung, geführt.

Investiturstreit und Revolution

Auffällig sind zeitliche und sachliche Lücken. Man sollte doch meinen, zu einer Geschichte des Christentums gehöre neben der katholischen und der evangelischen auch die orthodoxe Kirche dazu. Über sie verliert aber Lütz nur wenige Sätze, einen selbstständigen Rang neben Protestanten und Katholiken nimmt sie in seinem Buch nicht ein. Dabei ließe sich vom mystischen und patristischen Grund der Orthodoxie auch im Westen viel lernen. Und ist nicht Fjodor Michailowitsch Dostojewskijs Legende vom Großinquisitor nach wie vor die eindrucksvollste literarische Darstellung eines wirklichen Kirchenskandals – bis heute grundlegend für den orthodoxen Blick auf die lateinisch-europäische Welt?

Und wie steht es mit der größten innerchristlichen Revolution der Kirchengeschichte, dem Investiturstreit, in dem sich Jesu Gebot „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist“ endgültig in die politische Öffentlichkeit eingeschrieben hat – eine Spur setzend für die Entfaltung der Freiheit im Abendland? Der Investiturstreit wird bei Lütz nur an einigen Stellen (erstaunlicherweise vor allem im Kapitel über Karl den Großen) kurz erwähnt, aber nicht in seiner Bedeutung für die Geschichte des Christentums gewürdigt.

Ausführlicher und gründlicher dagegen beschäftigt sich der Verfasser mit den Diensten, welche vor allem die Katholiken für die Entfaltung der modernen Demokratie geleistet haben. Die deutsche Entwicklung, die von den katholischen Petitionen des Jahres 1848 zur Selbstbehauptung gegenüber Bismarck und zur führenden Mitwirkung katholischer Politiker in der Weimarer Republik führt, ist gut wiedergegeben. Leider wird die französische Parallel-Entwicklung nahezu ganz übergangen. Für Lütz ist die Französische Revolution einzig und allein ein Schreckensregiment, identisch mit dem Terror der Jakobiner. „Nach dem Blutbad“ überschreibt er das Kapitel über das 19. Jahrhundert. Keine Erinnerung daran, dass die Franzosen den Terror aus eigener Kraft überwanden, dass sie Robespierre stürzten (was den Deutschen mit Hitler nicht gelang!), dass die Botschaft der Menschenrechte auf die Dauer stärker war, dass auch das Wort „christliche Demokratie“ erstmals in der Französischen Revolution auftauchte und von da seinen Gang durch das 19. und 20. Jahrhundert nahm.

Manfred Lütz’ Apologie ist ein anregendes und spannendes, ein manchmal freilich auch unnötig provozierendes Buch. Die etwas angestrengt wirkende Krimi-Verpackung könnte nach meiner Meinung durchaus entfallen. Der Autor will zu viel auf einmal: Nähe zur wissenschaftlichen Forschung, aber auch schlagzeilenträchtige Herausforderung und breite bestsellerhafte Wirkung. Beim aufmerksamen Lesen des Buches halten sich Zustimmung und Widerspruch die Waage.

Eine schnurrige Entdeckung sei zum Schluss erwähnt: Auf Seite 182 macht Lütz die beiden Revolutionsgeistlichen Sieyès und Grégoire kurzerhand zu Frauen („Abbée Sieyès, Abbée Grégoire“). Weibliche Geistliche mitten in der Revolution – das hätten selbst die Jakobiner als Provokation empfunden!

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Lütz, Manfred

Der Skandal der SkandaleDie geheime Geschichte des Christentums

Verlag Herder, Freiburg 2018, 286 S., 22 €

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