Ein Gespräch mit dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp„Radikaler Laizismus erzeugt neue Probleme“

Deutschland streitet über den richtigen Umgang mit religiösen Symbolen. Der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp erklärt, wie das Kreuz die Menschen noch heute bewegt, warum der Umbau der Hedwigskathedrale ein Fehler ist und wie man am besten eine Kirche besichtigt. Die Fragen stellte Lucas Wiegelmann.

Radikaler Laizismerzeugt neue Probleme: Ein Gespräch mit dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp
© SHF / Stephan Falk

Herr Professor Bredekamp, welches ist die schönste Kirche der Welt?

Horst Bredekamp:Da würde ich spontan sagen: San Carlo alle Quattro Fontane in Rom. Eine Kirche aus dem Spätmanierismus oder Frühbarock. Sie liegt an einer ganz engen Straßenkreuzung mit vier Brunnen, die ihr den Namen gegeben haben, „Hl. Karl zu den vier Brunnen“. An diesem Ort war eigentlich kein Platz für eine Kirche. Aber ihrem Schöpfer, Francesco Borromini, ist es gelungen, aus einem mikroskopisch kleinen Raum ein Maximum an Form zu entwickeln, sowohl in der extrem geschwungenen Fassade als auch im ovalen Innenraum, der sich vor unseren Augen weitet und weitet, sich regelrecht erhöht. Bescheidener im Maß, aber überwältigend in der Form, dieses Prinzip hat schon Michelangelo bei seiner Arbeit am Petersdom befolgt, als er die eigentlich noch monumentaleren Pläne seines Vorgängers Antonio da Sangallo verwarf. Dieses Prinzip hat Borromini in ultimativer Weise erfüllt. Insofern ist diese kleine Kirche für mich die größte.

Und die schönste Kirche Deutschlands?

Bredekamp: Die Nikolaikirche in Kiel. Sie ist der Form nach nichts Außergewöhnliches, einfach eine schöne gotische Kirche. Aber es ist eben die Kirche meiner Kindheit. Davon abgesehen würde ich vielleicht Balthasar Neumanns Vierzehnheiligen in Oberfranken nennen. Auch die habe ich schon als Kind kennen gelernt, und sie hat mich, aus dem protestantischen Norden kommend, überwältigt, angesichts des jeden Winkel ausfüllenden Pathos zunächst auch bedrückt. Bei näherer Betrachtung war allerdings zu erkennen, dass der umfassende Schmuck komplizierten mathematischen Ordnungen gehorcht. Dieser Kontrast von pathetischer Theatralik und extremer Rationalität fasziniert mich bis heute.

Welche Tricks kann man sich von Ihnen für das Besichtigen von Kirchen abgucken? Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine Kirche zum ersten Mal besuchen?

Bredekamp: In Bezug auf die Ergehung und Erblickung einer Kirche gibt es keine Normen. Ich selbst bewege mich unwillkürlich über die Seitenwege, also die Seitenschiffe, um der axialen Ausrichtung, der ja die meisten Kirchen unterliegen, zu entkommen. Die strenge Ausrichtung auf den Altar, den Hochaltar oder die Vierung blendet den Reichtum der Kirchenausstattung oft aus. Dieser gerät erst durch eine sozusagen verschobene Perspektive wieder in den Blick. Stellen Sie sich vor, Sie betreten den Kölner Dom und schreiten vom Hauptportal im Westen den Mittelgang entlang zum Altar. So gerät das wohl bedeutendste Kunstwerk des gesamten Doms, der Gero-Kruzifixus in der Kreuzkapelle, völlig ins Abseits. Auch die Glasfenster von Gerhard Richter befinden sich eben nicht im Chor, sondern im südlichen Querschiff. Dabei handelt es sich um das vermutlich meistbetrachtete Kunstobjekt Deutschlands. Mir ist es schon passiert, dass ich im Kölner Dom stehen blieb und mir jemand von hinten zuflüsterte: „Noch 30 Meter, und dann rechts“.

Sind Kirchen für Sie auch spirituelle Orte?

Bredekamp: Sie bieten in jedem Fall die Möglichkeit einer Beruhigung und Abstandgewinnung, der Transzendenz. Das können Sie jedem Besucher einer Kirche sofort ansehen. Die Bewegungen der Leute werden langsamer, ihre Blickrichtungen sind freier, entlassen aus der stetigen Zielgerichtetheit, die uns von morgens bis abends antreibt. Der Lärm der Stadt und des Alltags bleibt ausgesperrt, sogar die Hülle der Elektrizität, die jeden Menschen im digitalen Leben umgibt und einpfercht, scheint hier aufzuplatzen. Kirchen sind Medien der Distanz gegenüber allem, was uns bedrückt. Bisweilen kommt das Wechselspiel von Stille und Orgelmusik hinzu, die in ihrem Klang von keinem Tonträger simuliert werden kann. All das funktioniert unabhängig davon, ob man betet oder nicht.

Und Sie, beten Sie?

Bredekamp: Ich bin nicht gerade ein Bekenner, aber ich bin Mitglied der evangelischen Kirche und werde es bewusst auch bleiben. Schon allein weil die Kirchen so niedergehen, sollte an ihnen festgehalten werden. Jeder Mensch, gläubig oder nicht, betet in dem Moment, in dem er erkennt, dass er in einer entscheidenden Situation keinen Zugriff auf sich selbst und andere hat. Dieser Moment von Schicksalsfragen ist der unwillkürliche Kern des Gebets.

Das meistdiskutierte Kirchengebäude Deutschlands ist derzeit die Hedwigskathedrale hier in Berlin. Sie ist seit Kurzem geschlossen, weil sie renoviert und dabei auch grundlegend umgebaut werden soll: Die berühmt-berüchtigte Öffnung im Boden, von Spöttern „das Loch“ genannt, soll überdeckt und der Altar in die Mitte des Raumes gerückt werden. Eine gute Idee?

Bredekamp: Die Diskussion, ob eine Kirche auch als Zentralbau funktionieren kann und, wenn ja, wie, beschäftigt die Menschen seit der Renaissance. Nehmen Sie wieder den Petersdom in Rom: Michelangelo hatte die Kathedrale als gerichteten Zentralbau geplant. Aber am Ende hat sie doch wieder ein Langhaus bekommen, weil Michelangelos Nachfolger Carlo Maderno die Möglichkeit des gerichteten Einzuges in einen Raum schaffen wollte, in dem das Kirchenvolk zu platzieren war. In der Hedwigskirche befindet sich dort, wo sich die Gemeinde eigentlich versammeln müsste, die Öffnung mit der Treppe. Ich kann gut verstehen, dass das Erzbistum dies ändern will. Auf der anderen Seite muss man aber sehen, dass die Hedwigskirche in ihrer gegenwärtigen Gestalt ein ‒ dieser Superlativ ist völlig angemessen ‒ singuläres Denkmal ist. So gut ich also die liturgischen Gründe für den Umbau nachvollziehen kann: Als Kunsthistoriker muss ich mich den Veränderungswünschen entgegenstellen.

Kirchen wandeln sich nun einmal. Die wiederaufgebaute Hedwigskathedrale mag heute ein singuläres Denkmal sein. Damals, nach dem Krieg, bedeutete die Art des Wiederaufbaus einen schweren Eingriff in die vorherige Gestalt des Gebäudes. Wie kann man definieren, welches der authentische und damit schützenswerte Zustand einer Kirche ist?

Bredekamp: Es gibt zumeist keinen absolut originalen Zustand. Deshalb lautet eine Grundregel der Denkmalpflege: Jedes Stadium der Baugeschichte hat das Recht, bewahrt zu werden. Da sich die verschiedenen Schichten aber meist miteinander verschmolzen haben, muss in jedem einzelnen Fall erörtert werden, welche Schichten stärker oder weniger stark hervorgehoben werden sollen. Das Kriterium hierfür ist die architektonische Qualität, die sich an den Formen und an der jeweiligen historischen Entstehungssituation bemisst. In der Hedwigskathedrale gibt es beides: Es ist architektonisch gesehen eine äußerst kühne Anlage, mit ihrer Zusammenführung von Krypta und Parterre und der Freistellung der auf das römische Pantheon anspielenden Kuppel. Und die historische Bedeutung ist überragend: Mitten im Stalinismus wünschte die realsozialistische Regierung in Berlin eine Art Bündnis mit der Kirche und erlaubte dafür den Wiederaufbau der Kathedrale als Gemeinschaftsgebilde, in das mit dem Grab von Bernhard Lichtenberg ein antifaschistischer katholischer Märtyrer eingebunden war. Als Architekt durfte dann auch noch Hans Schwippert wirken, gewissermaßen der Erbauer der westlichen Demokratie, der Mann, der nach dem Krieg in Bonn den Plenarsaal des ersten Bundestages gebaut hat, also jenen Gebäudekomplex, in dem das Grundgesetz verabschiedet wurde. Diese Konstellation ist von einer so irrsinnigen Paradoxie und Einmaligkeit, dass es in der Abwägung dann doch leichtfällt, zu sagen: Das muss erhalten bleiben.

Das Pantheon, an das die Kuppel der Hedwigskathedrale erinnert, war ursprünglich ein heidnischer Bau. Gibt es überhaupt genuin christliche Elemente in der Architektur?

Bredekamp: Im Ursprungssinn natürlich nicht, weil sich das frühe Christentum als spirituelle Gemeinschaft verstanden hat. Kirche bildete sich immer neu, sie wurde erzeugt, indem sie rituell zusammentrat, einerlei an welchem Ort, selbst im Freien. In dem Moment, in dem das Christentum unter Konstantin dem Großen geduldet wurde und wenig später zur Staatsreligion aufstieg, zog es ein in die Architektur, die es vorfand, und wählte logischer- und angemessenerweise die größten Gebäude, die es gab. Das waren die Basiliken, die ja im antiken Rom für unterschiedliche Funktionen genutzt wurden, als Verkaufshallen oder auch repräsentative Versammlungsorte, und die für das stehen, was wir heute als typische Kirchenarchitektur empfinden. Als vielleicht einzige echte christliche Innovation kam das Querschiff dazu, das aus dem Grundriss der Kirche ein Kreuz macht, das Symbol von Leid und Mitleid. Das ermöglichte der Architektur jene Verbindung von Pracht und Schmerz, die für das Christentum so charakteristisch ist.

Einen Steinwurf von der Hedwigskathedrale entfert wird derzeit Berlins Stadtschloss rekonstruiert, in dem das Humboldt-Forum einziehen wird. Im Sommer 2017 gab es eine deutschlandweite Debatte über die Frage, ob auch das Kreuz, das einst die Schlosskuppel abschloss, wieder angebracht werden sollte. Kritiker fanden, das Kreuz würde zu einer Hierarchisierung der Religionen führen und so den interkulturellen Dialog belasten, für den das Humboldt-Forum eigentlich stehen will. Bis heute ist das Kreuz nicht auf der Kuppel. Wann kommt es denn nun?

Bredekamp: Die gesamte Laterne, inklusive Kreuz, wird gerade gegossen und soll 2019 aufgesetzt werden.

Glauben Sie, dass die Debatte dann noch einmal hochkocht?

Bredekamp: Ich glaube, es wird einen neuerlichen Sturm geben. Seit 2017 hat sich die Frage nach der Dominanz der abendländischen christlichen Kultur im Verein der Kulturen nochmals radikalisiert: durch den Streit um den richtigen Umgang mit Museumsbeständen, die aus der Zeit der Kolonialherrschaft stammen. Das Humboldt-Forum steht in diesem Streit unter einem Erwartungsdruck, dem es im Grunde niemals gerecht werden kann, einerlei, wie es sich verhält. Wenn in dieser Gemengelage nun auch noch das Kreuz auf die Kuppel gesetzt wird, könnte sich eine neue Empörungswelle aufbauen.

Sie sagen: „wenn“ das Kreuz auf die Kuppel gesetzt wird. Meinen Sie das im Sinne von „sobald“ oder im Sinne von „falls“?

Bredekamp: Beides. Es gilt zwar der unumstößliche Beschluss, dass das Schloss originalgetreu wieder aufgebaut wird, und das bedeutet: mit Kreuz. Aber die Nervosität bei den politischen Entscheidungsträgern ist wegen der Kolonialismusdebatte übergroß. Dabei wäre das Kuppelkreuz alles andere als ein Triumphzeichen. Die Größe der europäischen Kultur besteht ja gerade darin, dass ihre Produkte stets mit dem Schatten ihrer eigenen Kritik verbunden sind. Das Kuppelkreuz würde als Relikt einer Thronreligion fungieren, die es nicht mehr gibt, als Abschied an einen historischen Zustand, den niemand mehr will, weder die Kirche noch die Obrigkeit. Die Strategie der Kritiker besteht aber darin, genau diese historische Distanzierung vergessen zu machen, um dann einen neuen Kulturkampf entfesseln zu können.

Wie überraschend finden Sie es, dass das Kreuz noch ein so großes Erregungspotenzial besitzt?

Bredekamp: Das Kreuz ist als Symbol niemals verloren gegangen, auch in der säkularen Gesellschaft nicht. Es kann in allen möglichen Kontexten sein faszinierendes Doppelspiel spielen: Einerseits ist es das Zeichen des Von-unten-Kommens, der Rebellion. Die Kreuzigung war die Marterstrafe für Menschen, die unterdrückt waren und dagegen aufbegehrten – die Beteiligten des Spartacus-Aufstandes wurden gekreuzigt. Gleichzeitig ist das Kreuz das Symbol der etablierten Kirche. Beide Funktionen sind immer noch sehr vital, gerade auch in der Jugendkultur, in Rockgruppen, im Hip-Hop, in Tätowierungen.

Immer mehr Bundesländer wollen gesetzlich regeln, dass Kreuze und andere religiöse Symbole aus Gerichtsgebäuden verschwinden. Ist das Kreuz mit dem neutralen Staat, der neutralen Demokratie unvereinbar?

Bredekamp: Das Christentum steht für eine geistesgeschichtliche Prägung, die spätestens mit Karl dem Großen begonnen hat und die eben nicht nur mit Inquisition und Intoleranz verbunden ist, wie das viele behaupten, sondern auch und vor allem mit eindeutig pazifizierenden und karitativen Stärken. Dass das Kreuz als Symbol dieser Art Gemeinschaftsbildung, und ich betone: dieser Tradition weitgehend aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden soll, empfinde ich als tragisch. Ich glaube nicht, dass man das Kreuz benötigt, um in Deutschland Recht zu sprechen. Aber radikaler Laizismus erzeugt neue Probleme. In Frankreich sieht man das jeden Tag. Die schärfestmögliche Trennung einer laizistischen von einer religiösen Sphäre brüskiert diejenigen, die sich öffentlich zu einer Glaubensgemeinschaft bekennen möchten. Die Verbitterung, die dadurch entsteht, kann jederzeit in Radikalität umschlagen. Ich glaube, die Kultur des Aushandelns ist da der bessere Weg. Nur ein gewisses Maß öffentlicher Elastizität bietet die erforderlichen Spielräume, um staatliche Neutralität und religiöses Leben zu harmonisieren.

Es heißt immer, wir leben in der Postmoderne. Die ist dadurch gekennzeichnet, dass sich verbindliche Normen, Autoritäten und Verhaltenskodizes aufgelöst haben oder zumindest fragwürdig geworden sind. Wie kann es sein, dass wir ausgerechnet in dieser scheinbar regellosen Epoche ein Comeback der Bilderstürmer erleben?

Bredekamp: Die Diskussion darüber, was Bilder dürfen und was nicht, ist immer nur die Speerspitze einer grundlegenderen Diskussion darüber, was der Mensch an sich darf und was nicht. Es gibt immer wieder geschichtliche Situationen, in denen das neu verhandelt wird. Eine solche Situation haben wir gerade, ausgelöst durch die stärkste Kulturprägung unserer Zeit, das Internet. Neben seinen wunderbaren Möglichkeiten hat das Internet zum ersten Mal den Naturzustand des Menschen technisch wieder möglich gemacht, wie Thomas Hobbes ihn beschrieben hat: Es stellt einen Raum zur Verfügung, in dem der Mensch dreckig, brutal und mit kurzem Leben behaftet ist. Wenn die Menschen diesen Raum dauerhaft ungeordnet und unkontrolliert belassen, droht die Verwüstung der sozialen Bindungen. Wird er überreguliert, droht der Überwachungsstaat. Irgendwo in der Mitte wird die Lösung liegen. Wo genau, wird nun austariert. Debatten wie die um das Kreuz sind Teil dieser allgemeinen Standortbestimmung. Der Kampf um das Symbol, um das Bild ist einmal mehr der Lackmustest dafür, wie Menschen miteinander umgehen wollen.

Das Christentum ist der wichtigste Katalysator der abendländischen Kulturgeschichte. Wie konnte das eigentlich passieren, da Gott doch verboten hatte, sich ein Bild von ihm zu machen?

Bredekamp: In diesem Paradox liegt die Einzigartigkeit der nachantiken europäischen Kunstgeschichte. Eine Kultur, die in sich selbst als ständigen Anspruch das Bilderverbot mitführt, steht unter Reflexionszwängen, die immer neue Bildformen hervorbringen. Die christliche Bildkultur ist der permanente, internalisiert ausgehaltene Ikonoklasmus. Ohne diesen Konflikt wäre die moderne Kunst undenkbar. Der Weg in die Abstraktion, die Überzeugung, dass auch in nichtfigürlichen Formen oder gerade dort die Tiefe der Metaphysik enthalten sein kann, die Autodestruktion bis zu Arnulf Rainer, all dies sind Kraftakte, Energiebatterien, die letztlich auf die christliche Dialektik von Zulassung und Verbot des Bildes zurückgehen. Nicht trotz, sondern gerade wegen des Bilderverbots konnte das Christentum der große Bilddynamo Europas werden.

Wie viele deutsche Bischöfe haben Ahnung von Kunst?

Bredekamp: Das gibt es häufiger. Karl Lehmann zum Beispiel war großartig. Ich habe ihn einmal gemeinsam mit Gottfried Boehm zu einem Vortrag zur „Ikonologie der Gegenwart“ in die Humboldt-Universität eingeladen, und da hat er erstaunlich reagiert. Er hatte sich dafür nicht nur in die Kunstphilosophie, sondern auch in die kunsthistorische Fachliteratur eingearbeitet. Ich habe ihn beim folgenden Essen gefragt, wie er so etwas nebenher schafft, und er meinte nur: „Das sind meine Abende.“ Er hat sich wirklich umfassend auf den Punkt hin vorbreitet.

Papst Franziskus hat mal gesagt, seine Lieblingsgemälde seien Caravaggios „Berufung des Matthäus“ und Marc Chagalls „Weiße Kreuzigung“. Reichen Ihnen diese Angaben für ein kleines Psychogramm?

Bredekamp: Die Gemälde sind so unterschiedlich, dass ich mich jetzt schwer tun würde, eine gerichtsfeste Deutung abzugeben. Zumindest muss er ein starkes Kunstempfinden haben. Beides sind sehr anrührende Bilder. Bei dem Chagall spielt die deutlich jüdische Herkunft Christi eine wichtige Rolle. Dann die Farbgebung, die diese Szene in einen visionären, träumerischen Rahmen zieht, einen Traum, der aber auch sehr dramatisch ist durch die Gegenüberstellung von Kampf und Versöhnung. Den Caravaggio könnte man so deuten: Vielleicht interessiert den Papst die permanente Unsicherheit im Glauben. Man erkennt auf dem Gemälde nicht, wer der Matthäus sein soll, wer hier überhaupt berufen wird ‒ ein Rätsel der inneren Dispositionen der Personen. Wenn man den Glauben als den immer sich neu überwindenden Zweifel definiert, und nicht als die absolute Gewissheit, dann ist das Gemälde Caravaggios ein sehr markanter Orientierungspunkt.

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