Antisemitismus-Debatte in DeutschlandDas Gerücht

Der Judenhass erlebt in Deutschland ein Comeback ‒ heißt es. Entsprechende Warnungen haben eine lange Tradition. Dabei sieht die Realität ganz anders aus.

Antisemitismusdebatte in Deutschland
© KNA

Ein kleines Mädchen besucht in München den katholischen Religionsunterricht. Eines Tages erzählt sie der Mutter, dass die Juden böse und gefährlich seien. Denn, das habe der Religionslehrer erklärt, weil sie Jesus Christus ans Kreuz schlugen, seien die Juden ewig schuldig. Die Geschichte ist aktuell. Die Schülerin kommt aus einer muslimischen Familie, die das Kind in den katholischen Religionsunterricht schickt, weil islamischer nicht angeboten wird und weil es doch nichts schaden kann, wenn die 8-Jährige etwas über andere Bekenntnisse lernt. Mit religiösen Alltags-Ressentiments gegen Juden hatte die muslimische Familie nicht gerechnet.

Antisemitismus, Judenfeindschaft im weitesten Sinn, konfrontiert Betroffene wie Betrachter mit Definitions- und Wahrnehmungsproblemen. Zu unterscheiden sind vier Grundphänomene: Zum Ersten der christliche Antijudaismus, also die religiös motivierte, aber auch kulturell, sozial und ökonomisch determinierte Form des Ressentiments gegen Juden vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Die zweite Form von Judenfeindschaft ist der scheinbar wissenschaftlich, nämlich anthropologisch und biologistisch argumentierende rassistische „moderne Antisemitismus“, der im 19. Jahrhundert entstand. Damals wurde auch das Wort „Antisemitismus“ geprägt, das heute als Oberbegriff aller Judenfeindschaft dient. Der Rassenantisemitismus mündete in den Holocaust.

Die dritte Version der Judenfeindschaft ist der sogenannte sekundäre Antisemitismus, der nach dem Holocaust entstanden ist. Er ist eine eigenständige Erscheinung mit wenig manifester Ausprägung, aber erheblicher Latenz. Das heißt, die Ressentiments sind allgegenwärtig, werden von vielen geteilt und ohne Reflexion artikuliert. Dieses dritte Phänomen speist sich aus Gefühlen der Scham und Schuldabwehr. Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz werden Ressentiments gegen Juden mobilisiert, die sich an Entschädigungsleistungen und Wiedergutmachungszahlungen kristallisieren. Wie lange man denn noch büßen müsse? Ob die unschuldigen Enkel und Urenkel noch für den Holocaust zahlen müssten? So lauten die Schlachtrufe, ebenso wie die Vermutung, die Juden würden sich auch am Völkermord noch bereichern, weil sie eben mit allem Geschäfte machen würden.

Der sekundäre Antisemitismus ist ursprünglich ein westdeutsches Phänomen, da er sich an Restitutionsleistungen festmacht, wie sie von der DDR nicht gezahlt wurden. Dafür ist schließlich die vierte Erscheinungsform antijüdischer Ressentiments ein entscheidender Bestandteil von Politik, Propaganda und folglich auch der Sozialisation der DDR-Bürger gewesen: der Antizionismus, artikuliert als Feindschaft gegen Israel.

Antisemitismus tritt ohne räumliche und zeitliche Begrenzung auf

Was als Antisemitismus öffentlich wird, kommt aus verschiedenen Wurzeln und enthält Elemente aller Phänomene der Judenfeindschaft, die alle über bestimmte negative Stereotype transportiert werden. Antisemitismus sei das Gerücht über den Juden, hat Theodor W. Adorno formuliert. Daraus folgt die Notwendigkeit, dem Gerücht zu begegnen, durch Aufklärung. Vertiefen und differenzieren wir die Definition von Judenfeindschaft, so lässt sich der Sachverhalt folgendermaßen formulieren: Antisemitismus umfasst alle Formen und Stufen der Ablehnung gegenüber Juden, wie sie manifest durch Diskriminierung und Gewalt, latent durch Ressentiments, als Haltung der Abneigung in Erscheinung treten. Antisemitismus tritt ohne räumliche und zeitliche Begrenzung als Vorurteil von der Antike bis zur Gegenwart auf, er äußerte sich im Mittelalter und in der Neuzeit als Antijudaismus durch kulturelle, soziale und ökonomische Ausgrenzung der jüdischen Minderheit, durch Massaker und Pogrome und erreichte mit neuer Begründung als Rassendoktrin des 19. Jahrhunderts den Höhepunkt im Genozid an sechs Millionen Juden unter der NS-Herrschaft.

Der Begriff Antisemitismus ist wörtlich genommen („Semitengegnerschaft“) eine Missbildung, weil er, um Judenfeindschaft mit wissenschaftlichem Anspruch zu verbrämen, die Sprachfamilie der Semiten (Araber, Äthiopier, Akkader, Kanaanäer, Aramäer und andere) als „Rasse“ verstand, dabei jedoch nur die Juden meinte. Der Begriff Antisemitismus entstand 1879 im Umkreis des Publizisten Wilhelm Marr, den Hintergrund bildete die öffentlich diskutierte „Judenfrage“. Dieser Diskurs über die Emanzipation der Juden wurde im 19. Jahrhundert in vielen Ländern geführt, er war weitgehend von sozial und kulturell determinierter Ablehnung bestimmt.

Antisemitismus sieht den Juden als feindliches Konstrukt, als Projektion negativer Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Antisemitismus definiert „den Juden“, um ihn auszugrenzen. Antisemitismus reagiert entgegen landläufiger Meinung und insbesondere gegenüber der behaupteten Überzeugung von Judenfeinden nicht auf Eigenschaften und Handlungen von Juden. Daher ist das Vorhandensein von Juden auch nicht seine Voraussetzung. Konstitutiv für den Antisemitismus als Vorurteil ist es, dass sich das Ressentiment immer gegen den Juden als solchen richtet. Das heißt auch, dass die Träger des Vorurteils die Definitionshoheit beanspruchen („wer Jude ist, bestimme ich“).

Das Verhältnis zu Israel hat in der deutschen Politik herausragende Bedeutung. Das betonen Politiker aller Ränge und fast aller Parteien einmütig bei allen Gelegenheiten. Im Sechstage-Krieg 1967 demonstrierten hunderttausende deutsche Bürger für das Existenzrecht des Staates Israel; Empathie für das Land gehört unverändert zu den politischen Grundüberzeugungen der Deutschen, wenngleich angesichts des medial wirkungsvoll vorgetragenen Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung gegenüber militärischen Aktionen und der politisch unbeweglichen Positionen israelischer Regierungen die bedingungslose Zustimmung bei vielen einer kritischen Haltung gegenüber israelischer Politik gewichen ist.

Diese Haltung in Bausch und Bogen als „neuen Antisemitismus“ oder als revitalisierte Judenfeindschaft neo-nationalsozialistischer Observanz zu denunzieren, ist weder richtig noch hilfreich. Dass Juden zutiefst beunruhigt sind, wenn Demonstrationen wie im Sommer 2014 aus Anlass des Gaza-Kriegs auch in Deutschland stattfinden, ist verständlich. Nachvollziehbar ist ebenso, dass Juden sich im Stich gelassen fühlen, wenn dabei junge Araber und Sympathisanten der Palästinenser bei Demonstrationen skandalöse Parolen skandieren, wie im Sommer 2014 ebenfalls geschehen. In der Sorge um Sympathieverlust wurde auch die Metapher, Juden säßen in Deutschland „auf gepackten Koffern“, wieder gebraucht. Solche Emotionen sind mit aus der Kenntnis der Geschichte rührendem tiefem Respekt zu würdigen. Das gilt auch für das bestürzende Ergebnis der Umfrage der EU-Grundrechteagentur in zwölf Ländern, die vor wenigen Wochen, im Dezember 2018, veröffentlicht wurde. Danach äußerten 89 Prozent der befragten Jüdinnen und Juden ihre Sorge vor wachsendem Antisemitismus. Das sind subjektive Wahrnehmungen, die emotionale Befindlichkeiten und Erfahrungen spiegeln, denen gegenüber die wissenschaftliche Analyse realer Judenfeindschaft kaum Überzeugungskraft hat.

Von einer „Pogromstimmung in Deutschland“ zu reden, die Wiederkehr des Novembers 1938 zu beschwören, einen Tsunami von „neuem Antisemitismus“ zu mutmaßen, wie 2014 von jüdischen Repräsentanten und israelischen Diplomaten artikuliert, ist aber kontraproduktiv. Weil solcher Alarmismus die beträchtlichen Anstrengungen des Aufklärens über und des Kampfes gegen den Antisemitismus der letzten Jahrzehnte ebenso ignoriert wie die deutsche Erinnerungskultur und die Tatsache, dass Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland moralisch geächtet und juristisch kriminalisiert ist wie in keinem anderen Land. Das hat die Kundgebung im September 2014 am Brandenburger Tor in Berlin auf Wunsch des Zentralrats der Juden in Deutschland einmal mehr bestätigt. Das wurde durch die Demonstration „Berlin trägt Kippa“ am 25.April 2018 einmal mehr bewiesen.

Es gibt Judenfeindschaft im Alltag, die sich hinter vorgehaltener Hand, mit Anspielungen und Sottisen Luft macht. Es gibt auch antisemitische Pöbeleien, bis hin zur Gewalt Einzelner gegen Juden. Aber das ist nicht die Regel in Deutschland und es wird streng geahndet. Es gibt aber auch Irritationen und Missverständnisse, die als Ausdruck von Antisemitismus verstanden werden. Ein Beispiel bildete die Debatte, die das Urteil des Kölner Landgerichts im Sommer 2012 auslöste. Darin wurde die unglücklich verlaufene Beschneidung eines vierjährigen muslimischen Jungen als Körperverletzung gewertet. Ein Sturm der Entrüstung von Juden und Muslimen und eine Debatte über Religionsfreiheit und Kindeswohl waren die Folge. Der Mehrheit war das rituelle Gewicht des Aktes für die jüdische Religion kaum bewusst, sie war wohl auch kaum interessiert und gewiss nicht begierig, ein Ventil für aufgestauten Antisemitismus zu öffnen. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland folgerte jedoch, Juden seien in Deutschland nicht erwünscht. Eine internationale Rabbinerkonferenz verglich das Kölner Urteil gar mit dem Holocaust. Ein eilig verabschiedetes Gesetz war im Dezember 2012 Ausdruck des Bemühens um Schadensbegrenzung.

Ein „neuer“ Antisemitismus wird alle paar Jahre prognostiziert, und eine Zunahme der Judenfeindschaft in Deutschland zu konstatieren, werden die Auguren nicht müde. Schon Heinz Galinski seligen Angedenkens,ab 1954 Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, hatte den Anstieg nicht nur des Antisemitismus, sondern auch die zunehmende Dreistigkeit der Judenfeindschaft regelmäßig gegeißelt und damit Bundeskanzler Konrad Adenauers Beschwörungsritual („die Lage war noch nie so ernst“) adaptiert. Das sah er als seine Aufgabe, das erwartete man auch von ihm. Aber es entsprach nicht den Tatsachen.

Dramatisch verändert hat sich die Einstellung gegenüber Ausländern

Die Realität, soweit sie sich mit wissenschaftlichen Methoden erfassen lässt, zeigt ein anderes Bild. Der von der Bundesregierung berufene „Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“ schätzt die Dimension der Judenfeindschaft anhand von Einstellungsmustern über Jahre hinweg auf konstante 15 bis 20 Prozent. Das heißt, im Weltbild dieser Bundesbürger gibt es Ressentiments gegen Juden. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen samt und sonders fanatische oder gar gewaltbereite Judenhasser sind. Aber sie haben offenkundige Vorbehalte, die sie öffentlich nicht artikulieren würden. Gegenüber anderen Nationen sind das sogar günstige Werte, was freilich angesichts historischer Schuld nichts wiegt.

Neueste Umfragewerte (Universität Leipzig, November 2018) zeigen einen Anstieg von manifestem Antisemitismus in Ostdeutschland von 4,1 auf 5,5 Prozent. Dem steht in den alten Bundesländern ein Rückgang von 5 auf 4,1 Prozent gegenüber. Das entspricht langjährigen Konstanten. Dramatisch verändert hat sich dagegen die Einstellung der Deutschen gegenüber Ausländern. Mehr als ein Drittel (35,7 Prozent) hält das Land für „überfremdet“. Mehr als 44 Prozent der Bundesbürger möchten Muslimen den Zuzug verbieten. In Ostdeutschland sind es sogar mehr als 50 Prozent. Nur Sinti und Roma sind noch unbeliebter. Die Abneigung gegen „Zigeuner“ teilen 56 Prozent der Bürger.

Die Flüchtlinge aus Syrien brachten ein neues Argument in die Debatte über aktuelle Judenfeindschaft. Als Muslime seien sie Antisemiten, lautet die pauschale Vermutung, und damit seien sie für den nach Intensität und Qualität vermeintlichen „neuen Antisemitismus“ verantwortlich. Dadurch exkulpiert sich die deutsche Gesellschaft vom eigenen Antisemitismus und delegiert das Übel auf „Fremde“. Als Beweis dienen einzelne Vorkommnisse: Berichte über Berliner Schüler mit arabischen Wurzeln, die einen jüdischen Mitschüler umringen, um ihm zu sagen: „Wallah, Hitler war ein guter Mann, denn er hat die Juden getötet.“ Oder über pro-palästinensische Demonstranten, die am Brandenburger Tor israelische Fahnen verbrennen. Keine Frage: All dies zeugt von einem unter Muslimen verbreiteten Hass gegen Israel und gegen Juden. Doch so verwerflich solche Ausfälle sind: Es ist historisch falsch, daraus einen generellen Antisemitismus der Muslime abzuleiten. Wer sich ein wahres Bild vom muslimischen Antisemitismus machen will, muss dessen historische Hintergründe kennen.

Schon die viel zitierten „Protokolle der Weisen von Zion“, die arabische Judenhasser in der Existenz des Staates Israel realisiert sehen wollen, sind fünfzig Jahre älter als der Nahostkonflikt. Sie wurden in Europa Ende des 19. Jahrhunderts unter raffinierter Verwendung uralter Ressentiments kompiliert und vom zaristischen Russland aus in alle Welt verbreitet. Adolf Hitler war von dem Pamphlet, das gerichtsnotorisch als Fälschung und durch seinen Inhalt als paranoider Unsinn entlarvt war, begeistert, ebenso Henry Ford, der es in den Zwanzigerjahren in den USA populär machte. Jetzt dient es israelfeindlicher Propaganda.

Das Konstrukt einer dem Islam wesenseigenen Judenfeindschaft entstammt dem Bedürfnis, auf ein politisches Ressentiment mit gleichen Mitteln zu reagieren. Der gebotenen Verurteilung von Beleidigung, Hass und Mord oder sonstigen Manifestationen der Judenfeindschaft steht aber die notwendige Differenzierung nicht im Wege. Egal ob junge Muslime auf den Straßen deutscher Großstädte antijüdische Parolen grölen, Hassprediger gegen die Existenz Israels wüten oder Schüler „Jude“ als Schimpfwort gebrauchen: Gegen Antisemitismus, in welcher Form er sich auch äußert, kann es in einem Land keine Toleranz geben, dessen Gesellschaft Lehren aus der Geschichte des Holocaust zu ziehen versucht und die Erinnerung an den Judenmord als Element seiner politischen Kultur versteht.

Der Rechtsstaat hat die Möglichkeit und ist in der Pflicht, Übergriffe zu verhindern und zu ahnden. Noch wichtiger ist Prävention durch Bildung und Aufklärung. Dazu gehört auch der rationale Umgang mit dem Antisemitismus von Muslimen. Selbstgerechtigkeit, die in Flüchtlingen nur Sendboten eines islamischen Ansturms auf Europa sieht wie die Populisten der AfD, löst kein Problem, sie lenkt allenfalls vom Rassismus und der Judenfeindschaft in den eigenen Reihen ab. Pauschale Ressentiments gegen alle Angehörigen einer Religionsgemeinschaft, die mit einer abscheulichen, aber insgesamt winzigen Minderheit von militanten Fanatikern und Terroristen gleichgesetzt werden, erklären das Problem nicht. Sie vergrößern es vielmehr, weil sie darauf zielen, die Mehrheit der Muslime – die sich energisch von Islamisten und Dschihadisten distanziert – in die Solidarität mit den Fanatikern zu drängen. Die pauschale Denunziation aller Muslime hätte dann ihr Ziel leider erreicht.

Die Feindschaft von Muslimen gegen Juden ist nicht im Koran begründet wie der Antijudaismus der Christen im Neuen Testament. Der Antisemitismus von Muslimen generiert sich aus politischer Solidarität, richtet sich gegen Israel und äußert sich mit den stereotypen Argumenten und Klischees eines Rassismus, der im 19. Jahrhundert den Antisemitismus hervorbrachte. Dessen Wurzeln findet man in Europa, in Deutschland, Österreich-Ungarn, in Frankreich und Russland.

Verbreitete Ratlosigkeit löst die Frage aus, ob Kritik an der Regierung Israels erlaubt sei. Antisemitismus auf die Haltung gegenüber Israel zu reduzieren, ist das Anliegen von Aktivisten, die sich bedingungslos mit Israel identifizieren. Es besteht weltweit Konsens, dass das Nahostproblem einer friedlichen Lösung bedarf. Sorge und Empathie für das Schicksal des palästinensischen Volkes ist keine Parteinahme gegen Israel und kein Ausfluss von Judenfeindschaft. Für öffentlich demonstrierten Furor von Heißspornen unterschiedlicher Couleur mit beleidigendem Geschrei und kindischem Fahnenverbrennen gibt es dagegen bei allem Verständnis für ihre Situation keine Entschuldigung. Ihr Verhalten ist nämlich nicht Israelkritik, sondern Hass und Hetze.

Dass die Feinde Israels auch den Antisemitismus gegen die Existenz des Staates instrumentalisieren, steht auf einem anderen Blatt. Ebenso die Tatsache, dass Rechtsradikale aus Europa nach dem Motto „Wir sind Freunde, weil wir gemeinsame Feinde haben“ den Schulterschluss mit rechten Juden in Israel suchen, um ihre Phobien gegen den Islam dort – zum Beispiel in der „Jerusalemer Erklärung“ – sanktionieren zu lassen. Bundespräsident Johannes Rau hat bei einer internationalen Antisemitismuskonferenz im Auswärtigen Amt vor hochrangigem Publikum einst erklärt, es sei doch Freundespflicht, zu kritisieren, wenn das notwendig sei. Dafür spendeten die versammelten Botschafter und Politiker großen Applaus.

Beispielhaftes Missverstehenwollen demonstrierte der Landesvorsitzende eines israelitischen Gemeindeverbandes in seinem Protest gegen eine Veranstaltung, zu der eine Landeszentrale für politische Bildung eingeladen hatte. Unter dem Titel „50 Jahre Besatzung – Perspektiven für ein Zusammenleben in Palästina und Israel“ standen der Status quo im Westjordanland und dessen Auswirkungen auf die israelische und die palästinensische Gesellschaft zur Diskussion. Sachverstand und guter Wille waren gegeben durch einen arabischen und einen jüdischen Intellektuellen aus Israel und eine Vertreterin der palästinensischen Autonomiebehörde.

Aber der Vorsitzende des jüdischen Landesverbands war schon nach der Lektüre des Einladungsflyers in Rage. Das Ergebnis der Diskussion wartete er nicht ab, signalisierte vielmehr in einem Brief an die Landesregierung, man sei „zutiefst enttäuscht, dass eine solche eindeutig einseitig antiisraelische Veranstaltung aus Landesmitteln finanziert“ werde. Er verwahrte sich gegen die Begriffe „Besatzung“ und „Okkupation“ und schwang sich auf die Höhen des politischen Ethos, von denen aus er die Kluft beklagte, die er zwischen den Deklamationen deutscher Politiker gegenüber Israel und dem jüdischen Volk einerseits und „den Taten vieler Organisationen“ andererseits erkannte. Es sei „nicht hinnehmbar, dass die antiisraelischen Agitatoren, die sich in der Vergangenheit teils auch antisemitisch geäußert haben, ein Forum erhalten“.

Die Demarche löste Ratlosigkeit aus. Sie macht Empfindlichkeiten und Neigungen zum Missverständnis deutlich, die zeigen, wie schwierig das Terrain ist, auf dem man sich schon bewegt, wenn man gar nicht Israelkritik im Schilde führt, sondern im Bewusstsein von Empathie und Solidarität, jenseits der Forderung nach unbedingter emotionaler Parteinahme, um differenzierte Klärung von Positionen sich müht und im Diskurs nach Einsicht in Zusammenhänge und nach Verständnis eines ausweglos scheinenden Problems strebt.

Wer glaubt oder glauben will, Israelkritik sei in Deutschland verboten, da essentiell judenfeindlich, könnte sich durch den geschilderten Übereifer bestätigt fühlen. Aber auch jene werden sich bestätigt fühlen, die alles daransetzen, um jede kritische Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt als Affront gegen das Judentum zu denunzieren, die jede Haltung gegenüber dem Staat Israel und dessen Politik, die nicht unbedingte Zustimmung ist, als Antisemitismus brandmarken. Ganz unübersichtlich wird es, wenn sich Antisemiten wie der AfD-Abgeordnete Wolfgang Gedeon als „Antizionisten“ gebärden oder sich eine Gruppe „Juden in der AfD“ bildet, um Juden wie Nichtjuden zu provozieren.

Israelkritik, die sich sachlich und fair mit dem politischen Handeln der Regierung des Staates auseinandersetzt, ist keine Manifestation der Judenfeindschaft. Aber demonstrative Beleidigung durch Hassparolen ist nicht tolerierbar, und die Existenz Israels steht nicht zur Debatte. Gesellschaftlicher Konsens über das Existenzrecht Israels und den selbstverständlichen Status der Juden als Bürger der Bundesrepublik garantieren im Rechtsstaat Schutz vor Bedrohung, Beleidigung, Hass und Hetze. Das sind unerlässliche Voraussetzungen des Diskurses über und auch der Kritik an Israel.

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