Neue Ethik-Dienstvorschrift der BundeswehrTruppe sucht Moral

Fast jeder zweite Bundeswehrsoldat gehört keiner Kirche mehr an. Trotzdem liegt die moralische Schulung der Truppe traditionell fest in der Hand der evangelischen und katholischen Militärseelsorgen. Doch jetzt will das Verteidigungsministerium die ethische Bildung der Soldaten neu regeln.

Die Bundeswehr sucht eine neue Moral.
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So sehr sich Ralf Schöppner auch mühte, es war wie verhext mit der Bundeswehr. Egal wo er vorsprach in den vergangenen Jahren, in all den Dienststellen, beim Verteidigungsministerium, bei den Fraktionen im Bundestag, am Ende lief er immer gegen irgendeine Wand. Schöppner ist Atheismus-Lobbyist. Er arbeitet als „Beauftragter Bundeswehr und Humanismus“ beim Humanistischen Verband Deutschlands. In dieser Eigenschaft setzt er sich dafür ein, dass humanistische, also nichtreligiöse Berater und Coaches mehr Einfluss bei der Betreuung von Bundeswehrsoldaten bekommen.

Zu Schöppners wichtigsten Zielen gehört es seit Langem, dass die Humanisten bei der ethischen Bildung der Truppe einen Fuß in die Tür bekommen, einer traditionellen Domäne der Militärseelsorge, also der Kirchen. Aber was Schöppner auch tat, um diesem Ziel näher zu kommen, es war vergeblich. „Ich bin immer wieder auf großes Desinteresse an unserem Anliegen gestoßen“, sagt Schöppner heute. „Ich habe mit vielen Leuten in allen möglichen politischen Positionen zu tun gehabt. Und fast immer habe ich irgendwann gemerkt: Da sitzt wieder ein Kirchenmann.“ Mit der Folge, dass alles blieb, wie es war.

Doch nun könnten Schöppner und andere nicht-konfessionelle Interessenvertreter unverhofft eine neue Chance bekommen, ihre Anliegen voranzubringen: Das Verteidigungsministerium von Ursula von der Leyen (CDU) arbeitet nämlich gerade an einer grundlegenden Reform der soldatischen Persönlichkeitsbildung in der Bundeswehr. Dazu werden neue Regeln nicht nur für die historische und die politische Schulung der Truppe gehören – sondern auch für die ethische. Wie die zuständige Abteilung Führung Streitkräfte (FüSK) des Verteidigungsministeriums im November auf einer Tagung in Berlin mitteilte, formulieren von der Leyens Leute gerade eine sogenannte Zentrale Dienstvorschrift, die die „Ethische Bildung in der Bundeswehr“ neu organisiert. Das Papier, das die Nummer ZDv A-2620/6 tragen wird, soll im Laufe des Jahres 2019 vorliegen. In einer Powerpoint-Präsentation, die die FüSK auf der Tagung zeigte, hieß es, die Vorschrift werde „Aufgaben, Grundlagen und Ziele der ethischen Bildung in der Bundeswehr sowie deren Funktion in der Aus- und Weiterbildung systematisch und kompakt“ festlegen. Was das konkret bedeutet: noch offen. Klar ist aber: So wie bisher soll es mit der Ethik in der Bundeswehr nicht weitergehen, sonst bräuchte es ja keine neue Vorschrift. Was eine ziemlich schlechte Nachricht für die Militärseelsorge sein dürfte. Und eine ziemlich gute für die Konkurrenz, den Humanistischen Verband zum Beispiel.

„Wir lehnen die Militärseelsorge nicht generell ab. Die macht gute Arbeit und genießt ja auch eine große Wertschätzung bei vielen Soldaten“, sagt Humanist Schöppner. „Es ist aber nun einmal so, dass der Anteil konfessionsfreier Menschen sinkt. Das gilt nicht nur für die Gesellschaft allgemein, es gilt auch für die Bundeswehr.“ Entsprechend steige dort auch die Nachfrage nach nicht-kirchlichen Ethik-Lehrern. „Viele Soldaten wünschen sich eine Beteiligung humanistischer Fachkräfte. Der Druck, da etwas zu machen, wird immer stärker werden.“

Moralisches Urteilsvermögen statt Kadavergehorsam

Seitdem es die Bundeswehr gibt, macht sich die Regierung Gedanken über die ethische Fortbildung ihrer Soldaten. In der jungen Bundesrepublik sollten deutsche Soldaten der neu zu gründenden Armee mündige Staatsbürger sein, die sich nicht durch Kadavergehorsam, sondern durch ein eigenes moralisches Urteilsvermögen auszeichnen. Um dieses Ideal zu erreichen, entwickelte die Politik gemeinsam mit den Kirchen ein Curriculum namens Lebenskundlicher Unterricht (LKU) für die Soldaten, der „auf den Grundlagen des christlichen Glaubens“ fußen und den evangelische und katholische Militärseelsorger halten sollten. Die Erfinder legten Wert darauf, dass der Unterricht zwar im staatlichen Auftrag, aber eben nicht vom Staat selbst erteilt wurde. Man wollte den Soldaten keine politisch definierte Moral vorgeben, sondern sie dabei unterstützen, sich über ihre eigenen moralischen Vorstellungen Gedanken zu machen. Der LKU „behandelt sittliche Fragen, die für die Lebensführung des Menschen, seine Beziehung zur Umwelt und für die Ordnung des Zusammenlebens in jeder Gemeinschaft wesentlich sind“, hieß es in einer entsprechenden Regelung von 1959. „Er hat die Aufgabe, dem Soldaten Hilfe für sein tägliches Leben zu geben und damit einen Beitrag zur Förderung der sittlichen, geistigen und seelischen Kräfte zu leisten, die mehr noch als fachliches Können den Wert des Soldaten bestimmen.“

In den vergangenen Jahrzehnten wurde der LKU mehrfach neu geregelt. Der Hinweis auf die „Grundlagen des christlichen Glaubens“ steht mittlerweile nicht mehr in den Bestimmungen. Im Gegenteil, in der einschlägigen Zentralen Dienstvorschrift A-2620/3 heißt es heute ausdrücklich, der LKU „ist kein Religionsunterricht und auch keine Form der Religionsausübung“. Trotzdem liegt der Unterricht bis heute fest in den Händen der Kirchen. Zwar dürfen ihn theoretisch auch Lehrkräfte übernehmen, die von den Kirchen unabhängig sind. In der Praxis kommt es aber fast nie dazu, ob das nun an den Abwehrreflexen gegenüber säkularen Kräften liegt, wie der Humanistische Verband beklagt, oder an einem Mangel an entsprechenden Lehrkräften. Die Vorschrift A-2620/3 hält jedenfalls fest, der Unterricht werde „in der Regel“ von Militärseelsorgern erteilt.

Der LKU ist für die Kirchen von höchster strategischer Bedeutung. Mit keinem anderen Instrument erreichen sie so viele Menschen in der Truppe. Anders als Feldgottesdienste, Pilgerfahrten nach Lourdes oder die persönliche Seelsorge beim Militärpfarrer ist der LKU seit 2009 für alle Soldaten der Bundeswehr verpflichtend, unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis. Entsprechend viel hätten die Kirchen zu verlieren, sollte das Verteidigungsministerium die bisherige Gestalt der ethischen Soldatenbildung grundsätzlich überdenken wollen.

Die Kirchen verfolgen die Planspiele aufmerksam

Nach Ministeriumsangaben sind derzeit 29,5 Prozent der Soldaten evangelisch und 22,6 Prozent katholisch (Stand: 30. November 2018). Das bedeutet: Fast jeder zweite Soldat gehört keiner Kirche an. Politik, Militär, Religionsgemeinschaften und Interessenverbände beraten schon länger, was diese Zahlen für die Zukunft der Militärseelsorge in Deutschland zu bedeuten haben.

Während jedem Bundeswehrstandort ein evangelischer und ein katholischer Militärpfarrer zugeordnet sind, gibt es für die konfessionslosen Soldaten bisher in ganz Deutschland nur ein Vermittlungsangebot: Sie können sich per Mail an eine „Zentrale Ansprechstelle für Soldatinnen und Soldaten anderer Glaubensrichtungen (ZASaG)“ in Koblenz wenden und darum bitten, dass man ihnen einen nicht-kirchlichen Seelsorger in der Nähe organisiert. Es herrscht allgemein Konsens, dass es bei diesem Angebot allein nicht bleiben kann.

Islamverbände zum Beispiel fordern schon seit Jahren eigene muslimische Militärseelsorger. Das scheitert bisher freilich nicht am Widerstand seitens der Kirchen oder der Politik, sondern daran, dass es für die Bundeswehr keinen von allen Islamverbänden autorisierten Ansprechpartner gibt, mit dem man die nötigen Grundlagen klären könnte. Möglicherweise soll die neue Ethik-Vorschrift der Bundeswehr auch dazu dienen, die muslimischen Interessen besser zu berücksichtigen, etwa durch die Öffnung des LKU für muslimische Lehrkräfte.

In der erwähnten Präsentation der Reformpläne auf der Berliner Tagung teilte das ministeriumseigene FüSK mit, der LKU solle weder „verändert“ noch „abgewertet“ werden. Die Formulierung würde nicht ausschließen, dass der LKU Konkurrenz bekommt oder zumindest nicht mehr ausschließlich von Militärseelsorgern gegeben werden soll. Zumal das FüSK angekündigt hat, mit der Reform „ethische Bildungsangebote leichter zugänglich machen“ und „externe Expertise einbinden“ zu wollen, was auf zusätzliche Modelle hindeuten könnte. Fragt man beim Verteidigungsministerium nach, wird dort beteuert, die Militärseelsorge werde „auch weiterhin für den Lebenskundlichen Unterricht die Zuständigkeit behalten“. Auch für ein Alternativangebot zum LKU gebe es „keine Überlegungen“, so ein Sprecher. Welche Überlegungen es stattdessen gibt, bleibt offen.

Die Kirchen verfolgen die Planspiele entsprechend aufmerksam. „Die Zentrale Dienstvorschrift in der Bundeswehr kann nach ihrem Selbstverständnis nur eine regulative und keine inhaltliche Ausrichtung haben“, sagt etwa der katholische Militärgeneralvikar Reinhold Bartmann. Er verweist auf die hohe Zufriedenheit der Soldaten mit dem LKU. Die Soldaten schätzten „die freie und offene Diskussion“ dort, „nicht zuletzt auch wegen seiner hierarchiefreien Atmosphäre“. Er gehe deshalb davon aus, „dass die bisher geleistete Arbeit der Militärseelsorgen im LKU in ihrer Qualität nach wie vor eine hohe Akzeptanz seitens des Verteidigungsministeriums finden wird“, so Bartmann.

Der Humanistische Verband argumentiert dagegen: Wenn die Nicht-Christen der Truppe mehr nicht-christliche Ethik-Angebote hätten, so ist Lobbyist Ralph Schöppner überzeugt, würden sie die auch stärker nutzen. Eine Überlegung, die übrigens keineswegs auf den LKU beschränkt bleiben muss: Wird die Privilegierung der Kirchen beim Ethikunterricht relativiert, haben die Humanisten auch bei einem weiteren traditionellen Feld der Militärseelsorge wieder bessere Argumente: bei der Seelsorge.

Schon vor der Bundestagswahl 2017 hat sich der Humanistische Verband mit einer Umfrage bei allen im Bundestag vertretenen Parteien erkundigt, ob sie „Beratungs- und Seelsorgeangebote für konfessionsfreie Bundeswehrangehörige auf Basis einer nichtreligiös-humanistischen Lebensauffassung“ als Alternative zur traditionellen Militärseelsorge unterstützten. Die Koalitionsfraktionen CDU und SPD winkten ab. Damit blieb in der Frage erst einmal alles wie immer. Ralph Schöppner und seine Kollegen kennen das ja schon. Und werden nicht aufgeben.

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