Xavier Giannolis Film „Die Erscheinung“Natürlich ist es wahr

Ich sehe was, was ihr nicht seht: Galatéa Bellugi spielt die Anna
Ich sehe was, was ihr nicht seht: Galatéa Bellugi spielt die Anna

Frankreich und die Jungfrau Maria – das ist eine eigentümliche Geschichte. In dem Land, in dem nach Aufklärung und Revolution nur noch die Stimme des freien, vernünftigen, männlichen Bürgers zu hören sein sollte, in dem die Autorität des autonomen, handlungsfähigen, emanzipierten Subjekts zu gelten hatte, in diesem Land sprach ein vierzehnjähriges Mädchen im Jahr 1858 in der absoluten Peripherie von einer Jungfrau, die ihr erschienen sei – und löste damit eine Massenbewegung aus, die bis zum heutigen Tag anhält. Bernadette Soubirous ist der moderne Archetyp des „Seherkindes“, das mit leiser Stimme, nicht aus eigener Autorität, von Dingen spricht, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, von Einbrüchen jenseitiger Wirklichkeiten in eine rationalistische Welt. Diese werden sehnlich erwartet von all denjenigen, die sich in dieser modernen Welt nicht ganz zu Hause fühlen. Dabei sind diese Dinge dennoch auf die Mittel angewiesen, die diese Welt zur Verfügung stellt – neue Verkehrsmittel, moderne Kommunikationsformen. Lourdes wäre nichts ohne Eisenbahn und Massenmedien.

In der Folge ist die Kette der Marienerscheinungen nicht abgerissen, wohl aber in der katholischen Kirche seit den Sechzigerjahren als nur schwer kontrollierbares und letztlich ja auch peinliches Phänomen weitgehend in den Untergrund abgedrängt worden. Insofern ist die Idee des französischen Filmes „Die Erscheinung“ (Regie: Xavier Giannoli) sehr plausibel. In einem abgelegenen Ort in den Pyrenäen berichtet die neunzehnjährige Anna (Galatéa Bellugi), aufgewachsen in Kinderheimen und Pflegefamilien, dem Pfarrer des Ortes (Patrick d’Assumcao) von einer Marienerscheinung. Nach kurzer Zeit steht eine weiße Marienstatue am Erscheinungsort, Andenkenläden eröffnen, Gläubige aus aller Welt kommen in Reisebussen angefahren und Anna ist als Novizin in ein Kloster eingetreten. Ein umtriebiger Deutscher namens Anton Mayer (Anatole Taubman), eine Mischung aus Michael Hesemann und Andreas Englisch, sorgt für Devotionalien-Artikel mit Annas Konterfei und Internet-Livestream-Verbindungen zu Gebetsgruppen in aller Welt, die dabei sein wollen, wenn Anna in einer fromm umdekorierten Turnhalle zusammen mit dem Pfarrer auf dem Podium steht und von der Muttergottes spricht. Das alles ist keineswegs überzeichnet, sondern wirklich sehr realistisch dargestellt.

Nun gelingt es Regisseur Xavier Gianolli, aus der Geschichte einer Marienerscheinung einen Krimi zu machen. Der Film setzt ein mit den Erlebnissen des Journalisten Jacques Mayano (Vincent Lindon), der bei einem Einsatz in Syrien seinen Freund, den Kriegsfotografen Christophe, verloren hat und sich nun, traumatisiert, in seinem Haus verbarrikadiert – bis ihn ein geheimnisvoller Anruf erreicht: „Kommen Sie bitte in den Vatikan. wir möchten dringend mit Ihnen sprechen.“ Jacques, so stellt sich heraus, soll als Journalist Mitglied der kirchlichen Untersuchungskommission werden, die der Vatikan inzwischen eingesetzt hat, um des Phänomens Herr zu werden. Auch hier ist der Film sehr realistisch. Er zeigt, wie die Kirche in der Tat mit derartigen Dingen umzugehen pflegt: mit geradezu naturwissenschaftlicher Nüchternheit. Die offizielle Anerkennung von Heilungswundern in Lourdes etwa hängt bis heute vom Urteil einer Ärztekommission ab, die die Unerklärlichkeit eines Phänomens exakt nachzuweisen hat.

Und so bezieht die Kommission aus Klerikern, Psychologen und dem Journalisten Jacques einige leerstehende Büroräume, befragt Zeugen und beugt sich mit dampfenden Kaffeetassen über Fotos, Dokumente und Akten. Obwohl der Pfarrer und sein halbseidener Propagandist Stimmung gegen die Kommission machen, entsteht eine Beziehung zwischen dem Journalisten und der engelgleichen Seherin. Beide sind verwundete Seelen, das Heimkind und der verstörte Kriegsreporter.

Dessen Recherche entwickelt sich zum Glaubensdrama und zugleich zur Aufarbeitung seines Traumas. Die Frage der „Echtheit“ der Erscheinung bleibt indes bis zuletzt in der Schwebe. Die Lösung – seines Konfliktes, aber auch des Rätsels um die Marienerscheinung – findet Jacques schließlich in Syrien.

Benjamin Leven

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