Annegret Kramp-Karrenbauer ist eine Erfindung. Darin gleicht sie Jens Spahn und Friedrich Merz. Doch bei ihr ist die Inszenierung unauffälliger, vielleicht auch unabsichtlicher. Bei der neuen CDU-Vorsitzenden werden viel eher Authentizität und Natürlichkeit wahrgenommen. Dass AKK nun die Merkel-Vertraute und Verfechterin einer Weiter-so-CDU mit eher schwacher inhaltlicher Kontur sei, war eine Zuschreibung, natürlich auch nicht ganz falsch, keineswegs einseitig böswillig von ihren Gegnern ausgedacht. Dieses Image hat sie letztlich ins Amt gehoben in einer Partei, die seit jeher vor Revolutionen zurückschreckt (konservativ!). Doch bei genauerer Betrachtung trägt diese Charakterisierung nicht weit. Man könnte eben die CDU-Chefin, ehemalige Generalsekretärin, Ministerpräsidentin und Landesministerin auch anders fassen. „Ich wehre mich aber gegen den Trend, dass die traditionelle Konstellation von Vater, Mutter und deren leiblichen Kindern nicht mehr das Ideal sein soll.“ Das Wort „Ideal“ hatte sich schon lange aus der deutschen Familienpolitik verabschiedet. Dass Annegret Kramp-Karrenbauer es im Interview mit Eva Quadbeck und Kristina Dunz in der gemeinsam vorgelegten Biografie wieder in die Debatte einführt, ist nicht nur überraschend, sondern deutet auf mehr hin. Auf die Frage nämlich, ob Politik – zumal die so genannte Gesellschaftspolitik – überhaupt „normativ“ denken darf.
Annegret Kramp-Karrenbauer tritt mit ihrem Leben keineswegs für die traditionelle Rollenverteilung ein. Sie steht als voll berufstätige Mutter von drei inzwischen erwachsenen Kindern für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber es geht ihr eben nicht um die Auflösung von fundamentalen Gewohnheiten und Grundlagen. Bei ihren Äußerungen zur Familienpolitik und zum Lebensschutz oder auch bei ihrer pointierten Ablehnung der „Ehe für alle“ sind plötzlich wieder normative Setzungen sichtbar. Das ist in dieser Weise anders als bei Angela Merkel. Annegret Kramp-Karrenbauer spricht jetzt wieder viel vom „C“. Das ist nicht ungewöhnlich bei CDU-Vorsitzenden, gehört sozusagen zum vorgeschriebenem Vokabular. Bei AKK klingt es aber anders, manchmal konkreter, manchmal auch anspruchsvoller als zuletzt. Oft genug wurde in der CDU schlicht das „christliche Menschenbild“ sozusagen als selbstsäkularisierte Erklärformel für das religiöse „C“ benutzt, um den Gefahrenbereich des Glaubens politisch zu umgehen. Nun beschreibt Kramp-Karrenbauer, die Katholikin, Kirchgängerin und Beterin, wie sie immer wieder sagt, einen anstrengenderen Gesellschaftsentwurf: „Damit ist das C ein Leitfaden in einer Zeit, in der wir den Eindruck haben, dass die Gesellschaft immer individualistischer wird. Es steht für den Ausgleich zwischen Gemeinwohl und individuellen Interessen.“ Mehr Soziallehre, weniger nur Menschenbild. Es bleibt durchaus abzuwarten, ob dieser Anspruch auch in der eben doch schon stark individualisierten und entkirchlichten Gesellschaft auch Gehör findet und Wählerstimmen einbringt. AKK steht für ein Gesellschaftsjahr, außerdem für eine Dienstpflicht auch für Flüchtlinge. Ist das die Vorsitzende, die die Delegierten gewählt haben?
Annegret Kramp-Karrenbauer ist die erste CDU-Chefin, die auch Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) ist. Sie vertritt kirchenpolitisch Positionen, die als „liberal“ beschrieben werden, wenn sie etwa für den Diakonat der Frau eintritt. Dass der Islam zu Deutschland gehört, geht ihr nicht so ohne Weiteres über die Lippen, und das Kopftuch ist für sie ein „politisches Symbol“ und gehört für Lehrerinnen verboten. Kramp-Karrenbauer warnt vor der Instrumentalisierung des Christlichen zur Abgrenzung gegen Muslime. Zugleich wirbt sie für ein selbstbewusstes Verteidigen des Eigenen und fordert von den Hinzugekommenen einen eigenen Integrationswillen ein. Für Kramp-Karrenbauer ist die veränderte gesellschaftliche Situation eine Aufforderung. Weder in ihrer Partei noch im ZdK würden das wohl alle so formulieren: „Wir Christen sollten die aktuelle Lage auch zur kritischen Selbstreflexion nutzen und manche Komfortzone, in der wir uns eingerichtet haben, hinterfragen.“